Vor 50 Jahren verstarb einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts: Karl Barth. 2019 ist „Barth-Jahr“. Zahlreiche Konferenzen und Publikationen würdigen das Werk dieses Jahrhundert-Theologen. Julia Enxing hat für feinschwarz.net bei der Barth-Expertin Christiane Tietz nachgefragt.
Sehr geehrte Frau Professorin Tietz, passend zum „Barth-Jahr“ ist Ihr Werk „Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch“ erschienen. Sind Sie eine waschechte „Barthianerin“? Und wenn ja, was heißt das?
Nein, eine „waschechte ‚Barthianerin‘“ bin ich nicht. Dazu bin ich viel zu sehr auch von Martin Luthers und Dietrich Bonhoeffers Theologie geprägt. Aber Barths Grundansatz, den übrigens auch Bonhoeffer und Luther unterschreiben würden, überzeugt mich: Gott ist ganz anders als der Mensch und seine Welt. Deshalb kann der Mensch Gott nicht in sich selbst finden, sondern nur dort, wo Gott sich ihm zeigt, theologisch gesprochen: wo Gott sich offenbart. Dieser Ansatz bei der Selbstoffenbarung Gottes ist auch für mein eigenes theologisches Denken grundlegend.
Weltweit nutzen Theolog*innen den Anlass des 50. Todestages Karl Barths, um an seine Theologie zu erinnern. Nennen Sie bitte drei Aspekte, die all jenen, die mit der Theologie Barths nicht vertraut sind, deren Essenz „kurz & knackig“ vermitteln.
Den ersten Aspekt habe ich schon genannt: Gott ist der ganz Andere, den der Mensch nicht von sich aus erkennen kann. Deshalb führt die Analyse religiöser Bedürfnisse oder menschlicher Erwartungen nicht zu Gott. Und deshalb sollen Kirche und Theologie nicht vorrangig von der menschlichen Religiosität reden. Barth unterschied daher menschliche Versuche, einen Weg zu Gott zu finden – sie sind für ihn Religion, und auch das Christentum ist eine solche Religion –, von Gottes Weg zum Menschen.
Der zweite Aspekt lautet darum: Dieser ganz Andere hat sich dem Menschen in Jesus Christus zu erkennen gegeben, und zwar als der gnädige, dem Menschen zugewandte Gott. Aufgabe von Kirche und Theologie ist es, über diesen Gott zu reden – und nicht über alles Mögliche.
Der dritte Aspekt: Diese Zuwendung – Barth beschrieb sie gern mit dem reformierten Gedanken des Bundes – gilt jedem Menschen und bleibt auch dann bestehen, wenn der Mensch nichts davon wissen will. In seinem Hauptwerk, der „Kirchlichen Dogmatik“, die wegen ihres großen Umfangs und des weißen Leineneinbandes der „Weiße Wal“ genannt wurde, hat Barth diesen Gedanken so ausgedrückt: „es gibt zwar eine Gottlosigkeit des Menschen, es gibt aber laut des Wortes von der Versöhnung keine Menschenlosigkeit Gottes; es gibt zwar eine Fremdheit und Feindseligkeit des Menschen seinem Evangelium, es gibt aber keine Fremdheit und Feindseligkeit seines Evangeliums dem Menschen gegenüber. Daß er ihm verschlossen ist, ändert nichts daran, daß es für ihn offen ist und bleibt.“
Inwiefern war Barths Leben ein „Leben im Widerspruch“?
Zunächst deshalb, weil Barth in seinem Leben immer wieder energisch widersprochen hat: der herrschenden Theologie seiner Zeit, der nationalsozialistischen Ideologie, aber auch späteren politischen Entwicklungen wie der deutschen Wiederbewaffnung nach dem Zweiten Weltkrieg und der Aufrüstung mit Atomwaffen. Aber Barth musste auch selbst heftigen Widerspruch einstecken, wurde aus dem Beamtendienst entlassen, zensiert und überwacht sowie öffentlich scharf kritisiert, gar angefeindet. Und er lebte in einem privaten Widerspruch: Obwohl er verheiratet war, wohnte seine Lebensgefährtin fast vier Jahrzehnte mit den Eheleuten unter einem Dach; diese „Notgemeinschaft zu dritt“, wie Barth sie nannte, empfand er als die größte Schuld seines Lebens.
Karl Barth hat sich gegen die NS-Ideologie seiner Zeit gestellt. Inwiefern ist seine Theologie politisch? Helfen uns seine Gedanken auch zu einer Positionierung gegen ideologische Strömungen heute?
Das Politische hängt an Barths Grundeinsicht von der Andersheit Gottes. Weil Gott ganz anders ist, darf nichts Weltliches vergöttlicht werden. Darin liegt eine grundsätzliche Kritik an allen Totalitarismen und Ideologien. Im Ersten Weltkrieg, bei dem er erschüttert war über die religiöse Überhöhung der Kriegsbegeisterung, mahnte Barth deshalb, durch den Krieg seien alle weltlichen Götter „feldgrau“ geworden. Im Nationalsozialismus protestierte er dagegen, dass Hitler sich absolute, quasigöttliche Autorität anmaße und zu einem zweiten Gott aufspiele. Weil dies im Widerspruch zum ersten Gebot „Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ steht, kommt nach Barth für den Christen ein Gehorsam gegenüber Hitler nicht infrage. Er wollte deshalb den Beamteneid auf Hitler nur mit dem einschränkenden Zusatz schwören „soweit ich dies als evangelischer Christ verantworten kann“. Dies führte letztlich zu seiner Entlassung.
Barth war ebenso skeptisch gegenüber der Auszeichnung bestimmter weltlicher Dinge als „christlich“, weil man damit deren Weltlichkeit und also deren Abstand von Gott übersieht. Die Rede von einem „christlichen Abendland“ wäre in seinen Augen völlig unpassend. Weil Gott sich allen Menschen zugewandt hat und ein umfassend „menschenfreundlicher“ Gott ist, ist von seiner Theologie her die heute so oft begegnende gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ein Gräuel.
Der Schweizer Pfarrer kritisierte nicht nur die NS-Ideologie, sondern auch die Rolle der deutschen evangelischen Kirche im Nationalsozialismus, woraufhin man ihm vorwarf, die „deutsche Situation“ nicht richtig verstanden zu haben. Trifft dieser Vorwurf zu? Nach meinem Eindruck hat er sehr wohl versucht, sich in die deutsche Mentalität hineinzudenken. Das belegen die Briefe an seine Schweizer Freunde in den ersten Jahren als Professor in Deutschland eindrücklich. Auch kannte er Deutschland ja bereits von seinen Studienzeiten her. Ich halte solche Vorwürfe für Versuche, Barth als Ausländer zu diskreditieren, um seinen klaren Stellungnahmen ihre Wirkung zu nehmen.
2019 finden zahlreiche Events anlässlich des 50. Todestages von Karl Barth statt, um dessen Leben und Werk zu würdigen. Was war Ihr persönliches bisheriges Highlight und was sollte noch passieren?
Mein ganz persönliches Highlight war die Vorpremiere des Figurentheaters „Karl B. denkt“ von Michael Schwitter, bei der ich dabei sein konnte. Die eindrückliche Handpuppe, die er gebaut hat, und die wirklich treffende Charakterisierung Barths in dem Stück waren für mich deshalb besonders bewegend, weil mein eigenes Buch zu Barth wenige Wochen zuvor erst erschienen war. Dass dieser Puppen-Barth mir dann seine Hand auf die Schulter legte, freundlich und fast ein wenig zustimmend, war unglaublich witzig und auch ein wenig rührend für mich.
Ich würde mir wünschen, dass die Debatte über die Aktualität von Barths Ansatz noch intensiver geführt wird. Ich selbst glaube, dass Barths Forderung, in der Kirche müsse von Gott geredet werden und nicht von allem Möglichen, ein Schlüssel für die Zukunft der Kirche ist.
Autorin: Christiane Tietz ist evangelische Theologin. Sie ist Professorin für Systematische Theologie und Leiterin des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich. Ihr jüngstes Werk „Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch“ erschien 2018 bei C.H. Beck, München, 2. Auflage 2019.
Bild: Karl Barth Archiv, Basel/Schweiz