Ein theologiegeschichtlicher Meilenstein ist gesetzt: Die Gesamtausgabe der „Sämtlichen Werke“ von Karl Rahner ist abgeschlossen. Zeit für eine couragierte Neuentdeckung dieses katholischen Jahrhundertheologen, meint Roman Siebenrock.
Der Textkorpus der Ausgabe der Sämtlichen Werke Karl Rahners SJ ist abgeschlossen. Im nächsten Jahr wird der stille, aber umso verlässlichere Motor der Edition, Albert Raffelt, mit dem umfassenden Registerband die Edition abschließen. Seit 1996 sind dann in 32 gezählten Bänden 38 Einzelbände ediert worden. Karl Rahners öffentliches Werk steht damit in einer mit reichen theologie- und zeitgeschichtlichen Informationen ausgestatteten gültigen Edition zur Neuentdeckung offen.
Auch im Nachhinein hat sich die von Karl-Heinz Neufeld SJ entworfene, chronologisch-systematische Gesamtordnung bewährt. Die unterschiedlichen Abteilungen entsprechen einerseits werkgenetisch-biographischen Entwicklungsphasen, andererseits in etwa auch kirchengeschichtlichen Entwicklungen. Die erste Abteilung (Grundlegung: Bände 1-8, 1922–1949) beginnt mit dem Eintritt in den Orden und endet mit dem Beginn in Innsbruck, nach dem Zweiten Weltkrieg. Abteilung II (Aufbau: Bände 9-17, 1949–1964) präsentiert das Werk Rahners in seiner einflussreichsten Zeit, die nicht nur mit der Lexika-Arbeit (SW 17) das Konzil geprägt hat. Die dritte Abteilung (Entfaltung: Bände 18-26; 1964–1976) setzt mit dem Neuanfang in München und dann Münster ein und endet mit der Veröffentlichung des „Grundkurses“ (SW 26), bzw. mit dem Abschluss der Deutschen Synode in Würzburg (SW 24). Die vierte Abteilung (Sammlung: Bände 27-32; 1977–1984) erfährt mit der Ökumenischen Anstrengung der letzten Lebensjahre (SW 27) noch einmal eine neue Akzentsetzung. Die Sammlung der Interviews und Stellungnahmen (Bd. 31) zeigen Rahner nicht nur als öffentlichen Theologen, sondern dokumentieren auch Rahners Eigeninterpretationen, die heute einen authentischen ersten Zugang ermöglichen (die mehr autobiographischen Interviews in: SW 25, 3-143). Der Registerband wird alle jene überraschen, die Rahners Werk nur einseitig wahrgenommen betrachtet haben.
Bis hin zu Problemen wie der Pfarrbücherei
Diese Edition dokumentiert in allen Abteilungen die konstitutiven Multi-Perspektiven des Werkes, die sich wechselseitig durchdringen und stützen. Schrift und Lehre der Kirche seit der Väterzeit mit dem besonderen Expertenwissen eines nachtridentinischen Schultheologen; das philosophische Denken, nicht nur „neuzeitlich-transzendental“, und die reiche spirituelle Tradition, vor allem des eigenen Ordens in Predigt, Betrachtungen und Gebeten. Und, in immenser Breite, Rahners Bereitschaft, sich in der pastoralen Situation der Kirche mit epochalen Analysen ebenso einspannen zu lassen, wie zu einem scheinbaren Problemchen wie der Pfarrbücherei.
Mit der Ausgabe sind die reduktiven Interpretationen des Werkes nicht mehr zu halten; sie können nur noch gegen besseres Wissen behauptet werden. In der Interpretation wird die Frühphase noch einmal grundlegend neu bedacht werden müssen, weil z.B. das Schlüsselwerk „Hörer des Wortes“ (SW 4) eingebettet ist in die angesprochenen pluralen Loci. Nur ein Hinweis! Nach meiner Auffassung wird mit der Edition des Schultraktates über die Gnade klar erkennbar, wie früh schon Rahners Theologie (1937/38!) in den wesentlichen Inspirationen zu greifen ist. Darin entwickelt er in den ersten drei Thesen im Horizont der grundlegenden Überzeugung vom universalen und wirkmächtigen Heilswillen Gottes eine sakramentale Christologie und Ekklesiologie, die später das Konzil prägen wird. Ich vermute, dass bereits Semmelroth von diesen Aussagen inspiriert gewesen sein dürfte. Wie sehr die spätere sogenannte Transzendentaltheologie von gnadentheologischen Vorgaben der Tradition bedingt ist (z.B. die These vom „objectum formale aprioristicum“ SW 5, 1239), lässt manche Interpretationen „alt“ aussehen.
Zu neuem Lesen anregen
Die Edition muss und wird zu neuem Lesen anregen. Gerade die jungen Wilden der analytischen Theologie, die meinen, die alten Metafragen des Molinismus und Thomismus lösen zu können, werden von Rahners Expertentum nur lernen; und sie werden sich hoffentlich z.B. auch von der pastoralen Not in die Pflicht nehmen lassen. Die Reformbemühungen von Papst Franziskus scheinen von Rahners Vorschlägen zu einem „Strukturwandel der Kirche“ (SW 24, 490-579) nicht weit entfernt zu sein. Auch nach dem Lutherjahr bleibt der Rahner-Fries-Plan (SW 27, 286-396) aktuell, weil es bis heute keinen vergleichbaren pragmatisch gangbaren Vorschlag gibt. Was Rahner zum Priestertum der Frau (SW 30, 511-522) zu sagen hatte, ist höchst aktuell. Aber auch seine immer unzeitgemäßen Aussagen zu Zölibat (SW 20, 112-127) und Ordensleben (SW 25) wären zu Herzen zu nehmen. Für mich bleibt die kritische Zeitgenossenschaft Rahners ein vorzüglicher Kompass, um weder in einen neuen Antimodernismus noch eine naiv-unkritische Postmodernitätseuphorie zu verfallen. Was Rahner zur theologischen Gegenwartssituation vor Jahrzehnten schrieb, inspiriert bis heute (z.B. SW 10, 251-273; SW 19, 255-341).
Das Werk einer neuen Generation erschließen
Wie aber kann dieses monumentale Werk einer neuen Generation erschlossen werden? Wird die Edition zum Mausoleum mit sieben Siegeln oder zu einem Quell künftiger Inspiration, wie es Joseph Ratzinger prophezeite? Karl Lehmann, der unermüdliche Förderer und Mitherausgeber, hat im ersten Band ein umfangreiches Portrait vorgelegt, das auf die Edition abgestimmt ist. Der Registerband wird das seine beisteuern. Die früheren Einleitungen, unter denen hier nur die Arbeiten des Mitherausgebers Herbert Vorgrimler genannt werden sollen, müssen auf die neue Edition abgestimmt werden. Schon seit vielen Jahren werden einzelne Werke vom Mitherausgeber Andreas Batlogg SJ in populären Fassungen ediert. Auch ist eine französische Ausgabe bereits unterwegs.
Es ist an der Zeit, Rahner neu zu entdecken. Eine jüngere Generation muss sich nicht mehr gegen ihn in ihrer Eigenständigkeit profilieren. Sie wird es aber auch nicht leicht haben, weil die maßgeblichen Entscheidungen dieser Theologie nur in und aus der nachtridentinischen Schultheologie zu verstehen sind. Deshalb wird der sogenannte „Überwinder der Schultheologie“ zum Bewahrer ihrer bleibenden Gültigkeit und unzeitgemäßen Provokation heute.
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Roman Siebenrock ist Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät Innsbruck.
Bildquelle: Karl-Rahner-Archiv