Wie sich die links-katholischen Aufbrüche nach dem Konzil beinahe selbst abschaffen – Ein ernüchternder Erfahrungsbericht von Michael Schüßler.
Am 16. November vor 50 Jahren unterzeichneten 40 Bischöfe in den Domitilla-Katakomben 13 Selbstverpflichtungen auf eine dienende und arme Kirche. Es waren die letzten Tage des II. Vatikanischen Konzils. Was dort nur in Ansätzen Eingang in die Dokumente fand, wollten sie nach dem Konzil für ihre Wirklichkeit vor Ort zur Leitlinie des Handelns machen. In den deutschsprachigen Ländern Europas ist der Katakombenpakt vor allem durch die unermüdliche Publikationsarbeit von Norbert Arntz bekannt geworden. Das Institut für Theologie und Politik (ITP) und „Pro Konzil“ hatten zum Jahrestag eine einwöchige Versammlung in Rom organisiert, um dieses Ereignis zu erinnern und zu erneuern. Doch vor allem das Erneuern hat leider nicht so ganz geklappt.
Getragen wurde die Veranstaltung von vielen kirchlichen Basisgruppen. Deren Energie speist sich aus den befreiungstheologisch inspirierten Kirchenaufbrüchen in der Zeit nach dem II. Vatikanischen Konzil. Zu Beginn wurden noch einmal die identitätsstiftenden Auseinandersetzungen ins Gedächtnis gerufen: Das II. Vatikanische Konzil, der kirchliche Widerstand gegen die lateinamerikanischen Diktaturen der 1970er Jahre, Wegmarken der Befreiungstheologie und deren zum Teil tödliche Bekämpfung – und natürlich der Katakombenpakt.
Deren [Basisgruppen] Energie speist sich aus den befreiungstheologisch inspirierten Kirchenaufbrüchen in der Zeit nach dem II. Vatikanischen Konzil.
Dabei hat sich gezeigt, wie stark das alles als eine Art Generationenprojekt funktioniert. Die überwiegende Mehrheit der Aktivist_innen aus den kirchlichen Basisgruppen hatte bereits das verdiente Rentenalter erreicht. Das ist an sich natürlich kein Problem. Trotzdem tat sich ein ziemlich deutlicher Kontrast auf, weil nämlich zugleich etwa 90 Studierende von theologischen Fakultäten aus ganz Deutschland anwesend waren. Die Versammlung in Rom wurde damit zu einem recht ungewöhnlichen Treffen der Generationen. Und wie man sich denken kann, lag darin einiger Zündstoff.
… einem recht ungewöhnlichen Treffen der Generationen.
Während die Veteran_innen befreiungstheologisch inspirierter Praxis vor allem am „Erinnern“ der eigenen Geschichte interessiert waren, brachten die Studierenden all ihre kritischen Fragen aus der Gegenwart mit, samt der Frage nach dem „Erneuern“. Und dann hat es ausgerechnet Erwin Kräutler getroffen. Nach seinem Vortrag zur Öko-Enzyklika „Laudato Si“ hat ein Student mit seiner Frage den Kontrast der Standpunkte aufgedeckt. Sei die Entdeckung Gottes in einer Blume nicht Öko-Kitsch? Reicht romantisierender Widerstand gegen Umweltzerstörung aus? Oder müsste man sich nicht mit der realen Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit wirtschaftlicher und ökologischer Interessen aussetzen? Das war zwar überspitzt formuliert, traf aber einen wunden Punkt. Und zwar nicht so sehr von Kräutlers Vortrag, sondern der vom ITP verantworteten Vorträge und Panels. Wieso bleibt die urteils- und optionsstarke Formation kritischer Kirchlichkeit so unbeeindruckt von den Unsicherheiten, Widersprüchen und Paradoxien der Gegenwart? Wieso wird die Vergangenheit so leidenschaftlich und feierlich erinnert, während die Gegenwart mit ihrem ganzen, zugegebenermaßen oft herausfordernden Irritationspotenzial so wenig und wenn, dann nur als Gegner in den Blick kommt?
Wieso bleibt die urteils- und optionsstarke Formation kritischer Kirchlichkeit so unbeeindruckt von den Unsicherheiten, Widersprüchen und Paradoxien der Gegenwart?
Am nächsten Morgen wurde das Programm erfreulicher Weise für einen Moment gekippt. Zum ersten Mal kam es in Kleingruppen zum intensiven Austausch von Jung und Alt. Eine Studierende sagte später, sie hätte in diesen 20 Minuten mehr gelernt als in den beiden Tagen vorher. Viele Ältere fühlten sich an die Fragen ihrer Kinder und Enkel erinnert und waren dankbar, endlich deren Perspektive etwas besser verstehen zu können.
Spätestens an dieser Stelle wurde aus dem Generationenkontrast ein thematischer. In kleinen Seitengesprächen äußersten nämlich auch viele der älteren Generation ihr Unbehagen an der reinen Selbstvergewisserung alter Feindbilder. Sie spürten etwas, das Niklas Luhmann einmal so ausdrückte: „Der Ideologiekritiker ist nicht besser dran als der Ideologe“. Auch die theologischen Ideologiekritiker stehen zumindest in der Gefahr, ihre Ideologiekritik genauso ideologisch und dogmatisch zu vertreten, wie ihre (um im entsprechenden Sprachspiel zu bleiben) imperialistischen und kapitalistisch-neoliberalen Gegner.
„Der Ideologiekritiker ist nicht besser dran als der Ideologe.“
Der jüngste und kraftvollste Denker dieser Versammlung dagegen war 91 Jahre alt. Kardinal Luigi Bettazzi ist einer der letzten lebenden Unterzeichner des Paktes. Er erzählte mit unglaublicher Dynamik und viel Witz aus seiner Biographie. Auf die Frage, was sich die 40 Bischöfe denn dabei gedacht hatten, welche Pläne und Strategien sie verfolgt hätten, sagte er ohne nachzudenken: „Me perdone, me perdone – wir haben uns sehr wenig dabei gedacht. Ich hatte den Nachmittag frei und wusste, dass es diese Feier geben sollte.“ Und natürlich war er dann mit dabei. Welch angenehme, pathosfreie und unheroische Erzählung auf einer Versammlung, die leider viel zu oft darum kreiste, die pathetische Glorifizierung ihrer Heroen voranzutreiben.
Das lag vor allem daran, dass die engagierte Politische Theologie offenbar nur zaghaft aus den Konstellationen des 20. Jahrhunderts herausfindet. Als entscheidender Gegner wird die konstantinische Formation identifiziert, in der Kirche sich in Kathedralen als machtvolle und ehrwürdige Institution vor allem selbst feiert. Dabei scheitert diese Art von Kirche zumindest hierzulande ohnehin ständig an der gesellschaftlichen Realität. Aber auch die alternative, messianische Formation gesellschaftskritischer Kirchlichkeit wurde in der Praxis oft zu einfach interpretiert. Man wollte an der Verwirklichung des Reiches Gottes bauen, wie an einer solidarischen Gegen-Kathedrale der Armen. Was könnte daran problematisch sein?
Man wollte an der Verwirklichung des Reiches Gottes bauen, wie an einer solidarischen Gegen-Kathedrale der Armen.
Vielleicht wird es etwas klarer, wenn man sich den Status der Botschaft vom Reich Gottes für christliche Praxis ansieht. Reich Gottes meint nicht das utopische Ende einer Hoffnungs-Erzählung, die nur, weil die Anderen nicht mitmachen, so unvollständig bleibt. Die Rede vom Reich Gottes beherbergt ein Ereignis, das nicht Fundament einer Ordnung sein will, aber auch nicht rein utopischer Zielpunkt einer Geschichte. Vielmehr eröffnet sich von den Wortbildern und Gleichnissen Jesu her ein Horizont heilsamer Umkehrungen und des unverhofften Neubeginns. Reich Gottes kann zum Ereignis werden, wenn ausgeschlossene Menschen eine Stimme bekommen und ihr Leben in die Hand nehmen, wenn nicht nur die vielen Leben in der Heimat geschützt werden, sondern auch das nackte Leben von Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Verfolgung. In der biblischen Tradition ist es kein Ort, sondern ein Ereignis: wenn Gott regiert. „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es berechnen kann. Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier! Oder: dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lk 17,20). Jesus verkündet den totalen Machtwechsel gerade nicht als universale Abrechnung mit der falschen Welt, sondern als begrenztes und zugleich nicht wirkungsloses Ereignis des Richtigen unter den Bedingungen des Falschen.
Sowohl die konstantinische Religionspolitik als auch eine selbstgewisse messianische Gesellschaftskritik sind sich ihrer Sache also letztlich zu sicher. Das trifft dann übrigens auch meine eigene Herkunft: Fühlte man sich in der politisch-engagierten, kirchlichen Szene nicht oft überlegener, solidarischer und dem Reich Gottes näher, als man es in der Praxis dann tatsächlich ist – bzw. man es in der Gegenwart überhaupt sein kann? Handelt es sich beim christlichen Zeugnis doch gerade nicht um die Verfügung über die Wahrheit einer religiösen Macht, sondern um eine Zusage, die kein Mensch in der eigenen Hand hat. So viel theologische Selbst-Relativierung muss einfach sein. Gegenwartsfähige Politische Theologie und Befreiungstheologie müssten heute eine christliche Praxis inspirieren, die sich weder sofort auf der unbedingt richtigen Seite wähnt, und deshalb zu anderen spricht „wie zu Kindern, wie zu Kranken oder mit Verachtung“, noch „das Religiöse hinter den Schutzmauern des Privaten oder als bloße Interessenvertretung eines Spitzenverbandes in Organisationskontexten zu entdramatisieren“ versucht 1. Der mexikanische Theologe José G. Sanchez Suarez war einer der wenigen, die hier auf nötige Updates hingewiesen haben angesichts kultureller Vielfalt, neuer Gender-Diskurse und einer völlig veränderten religionspolitischen Lage.
Handelt es sich beim christlichen Zeugnis doch gerade nicht um die Verfügung über die Wahrheit einer religiösen Macht, sondern um eine Zusage, die kein Mensch in der eigenen Hand hat.
Am Ende der Feier in den Domitilla-Katakomben wurde eine Gedenktafel an den Pakt vor 50 Jahren enthüllt. Was als gefährliche Erinnerung gemeint war, wirkte auf viele der Jüngeren dagegen wie die Installation eines Grabsteines für die links-katholischen Aufbrüche des 20. Jahrhunderts. Hoffentlich behalten sie nicht Recht.
(Michael Schüßler; Bild: Domitilla-Katakombe anlässlich der Feier zum 50. Jahrestag des Katakombenpakts am 16. November 2015)
- Das Zitat stammt von Armin Nassehi. Es findet sich mit einer ausführlicheren Argumentation zu diesem Textabschnitt in: Schüßler, Michael, Praktische Wende der Politischen Theologie? Von der schöpferischen Kraft des Evangeliums im Risiko der Ereignisse, in: Hölzl, Michael/ Klingen, Henning/ Zeilinger, Peter (Hg.), Jahrbuch für Politische Theologie, Bd. 6/7. Extra ecclesiam …: Zur Institution und Kritik von Kirche, Münster 2013, 286-307. ↩