Vor 50 Jahren rang sich die katholische Kirche zur Anerkennung der Menschenrechte und der Menschenwürde durch. Damit veränderte sich nicht weniger als das gesamte kulturelle Selbstverständnis des Katholizismus. (Adrian Loretan)
Das Konzil und die Menschenwürde
„Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (1948) der Vereinten Nationen wurde 1963 von Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika „Pacem in terris“ (Frieden auf Erden) als Grundlage einer gerechten Ordnung des Zusammenlebens interpretiert. Das moderne Freiheitsbewusstsein galt ihm als “Zeichen der Zeit“ und als Ausdruck der Personenwürde. Dieser menschenrechtlichen Argumentationsweise schloss sich das Zweite Vatikanische Konzil an. Das Konzil achtet damit das individuelle Recht, in Freiheit ein eigenes selbstbestimmtes und verantwortliches Leben zu führen.
Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit, deren 50. Jubiläum wir feiern, kann nicht überschätzt werden. Hier hat sich die katholische Kirche fast 200 Jahre nach der Französischen Revolution zum modernen Verfassungsstaat bekannt. Dies ist nicht nur für die staatskirchenrechtlichen Strukturen in der Schweiz von grösster Bedeutung. Der moderne Staat ist von hier an nicht mehr „die böse Welt“, sondern ein demokratischer Rechtsstaat, den auch die höchste Autorität der Kirche bejaht. Dies ist ein Meilenstein in der Kirchengeschichte. Karl Rahner schreibt dazu: Es ist „der Schritt vom Recht der Wahrheit zum Recht der Person.“ Damit wären die Grundlagen gelegt für die Menschenrechte in der Kirche, wie sie Paul VI. nach dem Konzil in einem Grundgesetz (Lex Ecclesiae Fundamentalis) in Auftrag gegeben hat. Leider wurde dieser Verfassungsentwurf von Johannes Paul II. nicht in Kraft gesetzt.
Die Würde der menschlichen Person
In der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit wird das Recht von der Würde der menschlichen Person her gedacht. Dort heisst es im ersten Satz: „Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewusstsein und es wächst die Zahl derer, die den Anspruch erheben, dass die Menschen bei ihrem Tun ihr eigenes Urteil und eine verantwortliche Freiheit besitzen und davon Gebrauch machen sollen, nicht unter Zwang, sondern vom Bewusstsein der Pflicht geleitet.“ (DH 1) Damit bekommt der neuzeitliche Gedanke einer in sich selbst begründeten Autonomie des Menschen Eingang in die lehramtliche Argumentation. Das Konzil ergänzt in der Pastoralkonstitution: „Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewusster und freier Wahl handle, das heisst personal, von innen her bewegt und geführt, und nicht unter blindem innerem Drang oder unter blossem äusserem Zwang.“ (GS 17)
Die Anerkennung der Personenwürde verändert das gesamte kulturelle Selbstverständnis des Katholizismus. So kam es zu einem neuen Verständnis des kirchlichen Amtes, der Liturgie, der Offenbarung, der Gemeindepastoral, der Berufung der Laien, der Stellung der Frau, des gesamten Erziehungs- und Bildungswesens usw. Gleichzeitig führte dieses andere Selbstverständnis der Kirche auch zur grundsätzlichen Anerkennung der anderen christlichen Bekenntnisse, der anderen Religionen und der säkularisierten, ja atheistischen Weltanschauungen. All dies war nur möglich, weil man davon ausging, dass jeder Mensch von Natur aus Person ist und daher in seinen Lebensentscheidungen unbedingt geachtet werden muss.
Kurz: Eine solche Wende zur Person und zu einem personalen Verständnis von Glaube, Kirche und Liturgie ist ein grundlegender Ansatz für die Interpretation der Theologie des Konzils. So entsteht eine dialogisch orientierte personale Sicht der Kirche.
Das Recht der Wahrheit
Wie wurde das Verhältnis von personaler Freiheit und Wahrheit in der Kirche vor dem Konzil gedacht? Die traditionelle katholische Lehre geht vom Primat der Wahrheit gegenüber der Freiheit aus. Nur die Wahrheit hat ein Recht, der Irrtum hat keinerlei Recht. Welche institutionellen Konsequenzen hat das? Nur die Kirche als die Instanz, die konkret über die Wahrheit entscheidet, und diejenigen, die ihr angehören, haben Recht. Das ist aber keine Rechtstheorie, sondern eine Machttheorie, und sie ist prinzipiell sozial unverträglich, so der katholische deutsche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde.
Die Rechtsordnung dagegen ist allgemein. Thomas von Aquin betont darin die Gegenseitigkeit. „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Mt 7,12) Mit dieser Goldenen Regel der Gegenseitigkeit beginnt auch der Grundtext der Kirchenrechtswissenschaft, das Decretum Gratiani (1140). Eine Maxime des Rechts gilt daher ihrer Natur nach allgemein, nicht nur für mich, sondern auch gegen mich. Ein Rechtsprinzip, das die Gegenseitigkeit ausschliessen will, ist kein Rechtsprinzip mehr, sondern ein Machtprinzip. Dieses Akzeptieren der Goldenen Regel im Recht verändert die Rechtsstellung jeder Person in der Kirche.
Das Recht der Person
Das Recht der Person tritt an die Stelle des Rechts der Wahrheit. Eine kopernikanische Wende! Anstelle des Zwangs, der unter dem Titel „Recht der Wahrheit“ legitimiert werden konnte, wurde das personale Recht der Freiheit gesetzt. Durch die unbedingte Anerkennung der Würde der menschlichen Person wurde Abschied genommen von der Position, dass nur die Wahrheit ein Recht hat, und diesem Recht der Wahrheit sich die Freiheit zu beugen hätte. Die ist ein Grundsatz, auf den sich alle totalitären Ansätze zurückführen lassen, sei es der Nationalsozialismus, der Kommunismus oder der Fundamentalismus. Sie alle leben von der Annahme des Rechts auf Wahrheit, und dem Willen, dieses Recht mit Zwang durchzusetzen.
Freiheit kommt dem Menschen zu, nicht weil er die Wahrheit bereits besitzt, sondern damit er nach ihr strebt. Die Berufung des Menschen ist es, nach der Wahrheit mit so viel Fleiss und Phantasie zu streben, wie nur immer möglich.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat am 5. Dezember 1965 die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit verabschiedet, die mit den Worten „Würde der menschlichen Person“ (Dignitatis humanae [personae]) beginnt. Normalerweise kürzt man die Konzilsdokumente mit den ersten beiden Begriffen ab. Damit aber verpasst man die Pointe, dass das letzte Dokument des Konzils mit dem Begriff „Menschenwürde“ beginnt, oder genauer übersetzt mit „Würde der menschlichen Person“.
(Erstpublikation des Beitrags in leicht kürzerer Form in der Schweizerischen Kirchenzeitung, 36/2015)