In Deutschland stehen die Regelungen der katholischen Kirche für den Umgang mit den Betroffenen von sexuellem Missbrauch und für die Ausrichtung von Anerkennungsleistungen immer wieder in der Kritik. Alexander Schraml, Jurist und Missbrauchsbeauftragter der Diözese Würzburg, erläutert die Rechtslage und weist auf Verbesserungsbedarf hin.
Ein fürchterliches Thema ist vor vielen Jahrzehnten mit großer Vehemenz an die Öffentlichkeit gebracht worden: der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Familien, Organisationen und Verbänden. Und seit zwei Jahrzehnten haben sich auch die Kirchen und Orden sich dieses Themas angenommen. Und es wuchs die Überzeugung, dass die in der Vergangenheit nicht seltene Bagatellisierung oder das Verschweigen zum Schutz der Kirchen und der Orden nicht weiter zu tolerieren ist. Medien und Selbsthilfegruppen haben auf Aufklärung gedrängt und all diejenigen (zu Recht) kritisiert, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. Vor allem war es aber unabdingbar notwendig, den vielen Betroffenen gerecht zu werden, sie ernst zu nehmen, sie anzuhören, ihnen zu helfen und damit ihr Leid zu mindern.
Staatliche Gesetzgebung
Straf- und zivilrechtlich hätte es keiner weiteren Aktivitäten bedurft. Das Strafgesetzbuch und das Bürgerliche Gesetzbuch bilden die Grundlagen für Genugtuung und Schadenersatz. Zu klären, ob diese Regelungen – insbesondere was die Verjährungsvorschriften und die Schmerzensgeldhöhe angeht – richtig und angemessen sind, wäre Sache des Staates, aber nicht der Kirchen und Orden.
Dass dies das aber nicht sein kann, das wurde – wenn auch langsam – erkannt. Täter waren bereits verstorben, Taten waren bereits verjährt, Strafverfahren wurden durch die Opfer wegen der Gefahr der Retraumatisierung vermieden. Die Chance, mit den üblichen Straf- und zivilrechtlichen Verfahren Genugtuung und „Gerechtigkeit“ zu erzielen, war und ist angesichts der Dimension der Straftaten nur im Ausnahmefall gegeben. Viele Opfer realisieren oftmals erst im hohen Alter nach vielen Jahrzehnten was ihnen geschehen ist und welche Auswirkungen das auf ihr Leben hatte. Viele Betroffene haben sich jahrzehntelang niemanden anvertraut. Viele waren und sind in psychotherapeutischer Behandlung – oftmals haben sie auch dort nicht vom sexuellen Missbrauch berichtet.
Umfassendes kirchliches Regelwerk
Die Deutsche Bischofskonferenz hat auf diese Situation und Unzulänglichkeit reagiert und schließlich mit der „Ordnung für das Verfahren zur Anerkennung des Leids“ 2020 eine neue Grundlage für Entschädigungsleistungen in außergerichtlichen Verfahren geschaffen. Die Ordensoberen sind wenige Wochen später nachgezogen. Zusammen mit der Interventionsordnung aus dem Jahr 2019 liegt damit ein umfassendes Regelwerk vor, dass es uneingeschränkt im Interesse der Opfer umzusetzen gilt.
Was zeichnet das Verfahren – die „Ordnung“ – aus? Was bedarf der Konkretisierung? Was bedarf der Änderung?
Anerkennung institutioneller Mitverantwortung
Mit der Ordnung wurde in der Präambel anerkannt, dass es jenseits juristischer Verantwortung eine (moralische) institutionelle Mitverantwortung der Kirche gibt. Eine Institution, die sich der Nächstenliebe und der Menschenwürde verschrieben hat, kann Gewalttaten ihrer wichtigsten Repräsentanten nicht ausschließlich juristisch behandeln. Dies geht zumal dann nicht, wenn man weiß, was diese Gewalttaten mit den Betroffenen gemacht und wie Funktion und Bedeutung der Kirche eine zeitnahe Aufarbeitung erschwert haben. „Die Leistungen in Anerkennung des Leids werden durch die Diözesen in Deutschland als freiwillige Leistungen und unabhängig von Rechtsansprüchen erbracht“ – dieser Satz in der Präambel der Ordnung kann als Notwendigkeit akzeptiert werden.
Einsatz von Ansprechpersonen
Der Einsatz von Ansprechpersonen (Missbrauchsbeauftragten) ist der richtige Weg um zur Aufklärung beizutragen. Sie dürfen nicht in einem weisungsgebundenen Beschäftigungsverhältnis zum Diözesanbischof stehen und sind weisungsunabhängig. Es sollen mindestens zwei Personen, sowohl eine Frau als auch ein Mann benannt werden, um geschlechterspezifische Hürden für eine Kontaktaufnahme auszuschließen.
Die Ansprechperson muss auf die Information eines Betroffenen reagieren und – sollte der Betroffene zustimmen – ein Gespräch führen. Wichtig ist es, möglichst bald und intensiv eine Vertrauensbeziehung aufzubauen. Nur dann besteht die Chance, dass sich die betroffene Person öffnet und umfassend berichtet. Wenig hilfreich ist dabei die Vorgabe der Interventionsordnung, dass seitens der Ansprechperson „eine weitere Person“ hinzugezogen werden muss. In der jahrelangen Praxis haben trotz ausdrücklichen Hinweises auf diese Vorschrift alle betroffenen Personen darauf verzichtet. Selbstverständlich werden auf Wunsch des/der Betroffenen ihre Vertrauenspersonen zum Gespräch hinzugezogen.
Plausibilitätsprüfung und Akteneinsicht
Maßstab für die Beurteilung des Vorbringens ist die Plausibilität. Die betroffene Person hat keinen Beweis zu erbringen, auch Verjährung spielt keine Rolle. Die Ordnung ist so auszulegen, dass die Ansprechperson umfassenden Einsicht in die Archivunterlagen der Diözese nehmen darf und muss. Dies gilt auch für die Personalakten des mutmaßlichen Täters. Dass darüber in den letzten Monaten Zweifel geäußert und Debatten geführt wurden, ist nicht akzeptabel. Die Ansprechpersonen sind im Auftrag der Diözese (wenn auch nicht in einem weisungsgebundenen Beschäftigungsverhältnis) tätig und zur Verschwiegenheit verpflichtet. Die Plausibilität kann nur von der Person geprüft, bejaht oder verneint werden, die im Gespräch den/die Betroffene/n erlebt hat. Diese Zuständigkeit auf die von der Diözese angestellten Interventionsbeauftragten zu verlagern, ist nicht sachgerecht. Außerdem schürt es das Misstrauen der Betroffenen gegenüber der Kirche, dem mit der Unabhängigkeit der Ansprechpersonen gerade begegnet werden soll. Diese Verfahrenspraxis entspricht erfreulicherweise der Überzeugung vieler Bischöfe und muss in der Ordnung konkretisiert und rechtlich abgesichert werden. Selbstverständlich sind die Interventionsbeauftragten in die Plausibiltätsprüfung einzubeziehen. Sie müssen den Ansprechpersonen mit Rat und Tat zur Seite stehen, Archivunterlagen besorgen und bei Bedarf Zweifelsfälle mit erörtern.
Klargestellt werden sollte auch, dass die Plausibilitätsprüfung keine Vorentscheidung für ein Gerichtsverfahren darstellt. Hohe Schmerzensgeldzahlungen aufgrund erstinstanzlicher Urteile dürfen keine Auswirkungen auf die Plausibilitätsbeurteilung haben. Diese ist bewusst niedrigschwellig, es erfolgt keine Beweisaufnahme nach forensischen Grundsätzen. Es muss unbedingt vermieden werden, dass Ansprechpersonen ihre Maßstäbe zu Lasten der Betroffenen ändern.
Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA)
Sehr sinnvoll ist auch die bundesweite Konzentration der Entscheidung auf die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA). Die Rechts- und Sachkunde wird konzentriert in einem Gremium, die Chance der bundesweiten, Diözesen, Orden und Caritasverband übergreifenden Gleichbehandlung der Betroffenen steigt. Problematisch ist weiterhin die Verfahrensdauer. Es dauert oftmals mehr als ein Jahr, bis eine Entscheidung vorliegt. Für die Opfer ist das meist unverständlich. Sie selbst haben nach vielen Jahren und Jahrzehnten den Mut aufgebracht, sich jemanden anzuvertrauen. Die Ansprechpersonen bemühen sich um ein zügiges Verfahren mit Gespräch, Protokollierung, Plausibilitätsprüfung und Stellungnahme, Und dann beginnt ein langes Warten, das für die Betroffenen nicht nachvollziehbar ist. Hier bedarf es dringend der personellen Aufstockung zur Beschleunigung der Verfahren.
Begründungspflicht
Veränderungsbedarf besteht schließlich auch bei der Entscheidung selbst. Sie ergeht ohne Begründung. Dies ist für die Betroffenen (und die Ansprechpersonen) unbefriedigend, da sie nicht einordnen können, wie die Geschehnisse beurteilt werden. Völlig grotesk wird diese Praxis, seitdem es die Möglichkeit des Widerspruchs gibt. Mit welchen Gründen soll widersprochen werden, wenn man nicht weiß, warum wie entscheiden wurde? Und könnten nicht auch Widersprüche vermeiden werden, wenn die Betroffenen die Gründe für die Entscheidung kennen würden? Auch Ansprechpersonen könnten die Entscheidungsgründe erläutern und damit zur Zufriedenheit beitragen.
Betroffenenorientiertes Handeln
Fazit: Das kirchliche Verfahren für die Anerkennung des Leids ist ein wichtiger Fortschritt was die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen angeht. Die Vorschriften bedürfen der betroffenenorientierten Auslegung und Praxis. Konkretisierungen und Anpassungen sind – wie beschrieben – in wenigen Punkten dringend zu empfehlen.
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Prof. Dr. iur. utr. Alexander Schraml, geb. 1964, war 25 Jahr lang Vorstand des Kommunalunternehmens des Landkreises Würzburg und dabei u.a. Geschäftsführer einer Klinik und von Altenhilfeeinrichtungen. Er vertritt derzeit als Bundesvorsitzender des „BKSB e.V.“ kommunale Senioreneinrichtungen in Berlin und als Vorstandsprecher der Genossenschaft „Kommunale Altenhilfe Bayern“ die Interessen kommunaler Pflegeheime in Bayern. Seit vier Jahren ist er als Ansprechperson (Missbrauchsbeauftragter) für die Diözese Würzburg tätig. (Foto: Daniel Peter)
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