Die katholische Kirche in Deutschland steht mitten im Prozess des „Synodalen Weges“. Welchen Herausforderungen sich die katholische Kirche in der Schweiz mit ihren Schritten der Erneuerung zu stellen hat, skizziert Daniel Kosch.
Da auch in der Schweiz immer wieder die Krise der katholischen Kirche diagnostiziert und Reformen gefordert werden, haben die Schweizer Bischöfe sich zwar nicht für einen «Synodalen Weg» nach deutschem Vorbild, aber für einen «Gemeinsamen Weg zur Erneuerung der Kirche» entschieden. Dieser soll in den Bistümern und vor Ort beginnen. Fortschritte auf diesem Weg sind dann möglich, wenn er den konkreten Gegebenheiten Rechnung trägt. Aus diesen resultieren mindestens sieben Herausforderungen, die zugleich Einblick in die helvetische Kirchenwirklichkeit geben.
1. «Wo Gott kein Fest mehr wird, hat er aufgehört, Alltag zu sein.» (Kurt Marti)
Vieles, was in Sachen Christentum und Kirche selbstverständlich war, hat in weiten Teilen der Schweizer Bevölkerung seine Selbstverständlichkeit eingebüsst. Das betrifft sowohl die festtägliche als auch die alltägliche Dimension des Christseins. Bezüglich Kirchenzugehörigkeit ist eine Umkehr der Begründungspflicht im Gange: Rechtfertigen muss sich immer öfter, wer «noch» dabei ist, und immer weniger, wer ausgetreten ist.
Man «braucht» Gott heute nicht mehr.
Prägnant sagt Jan Loffeld: Man «braucht» Gott heute nicht mehr. Das Erlösungsangebot des Christentums [wird] gesamtkulturell wie individuell weitgehend nicht mehr benötigt. […] Man merkt häufig gar nicht mehr, dass einem etwas fehlt, wenn Gott fehlt» [1]. Charles Morerod, Bischof von Freiburg, Lausanne und Genf und bis Ende 2018 Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, sagte in einem Interview, die «grundlegende Herausforderung» bestehe darin, «einer Gesellschaft, die glaubt, nichts mehr davon erwarten zu können, zu zeigen, dass sich das Christentum lohnt»[2]. Diese Herausforderung ist nicht Schweiz-spezifisch. Dennoch halte ich sie für zentral, denn sie trifft die Kirche «mitten ins Herz».
2. «Die Nabe macht die Speichen zum Rad» (Laozi)
Blickt man auf diesen Befund zur religiösen Lage und gleichzeitig auf das gute Verhältnis Kirche-Staat, die Kirchenfinanzen, die nach wie vor hohen Mitgliederzahlen, die christlich geprägte Feiertagsordnung, die vielen Kirchen und Pfarreizentren an guter Lage «mitten im Dorf», trifft auch für die Schweiz zu, was Franz-Xaver Kaufmann für Deutschland festgehalten hat: «Es geht den Kirchen […] in jeder Hinsicht gut, mit einer Ausnahme: dass sie den Kontakt zur Seele der meisten Menschen verloren zu haben scheinen, sie also innerlich nicht mehr ansprechen können»[3].
Die komplexe, von vielen Ungleichzeitigkeiten geprägte Situation wahrnehmen.
Allerdings würden 2020 wohl viele den ersten Satzteil mit einem «noch» ergänzen. Das, was «noch» gut aussieht, wird zunehmend als brüchig, als hohl, als von Erosion und schwierigeren Rahmenbedingungen bedroht empfunden. In Anknüpfung an das Wort von Laozi, dass erst die Nabe die Speichen zum Rad macht, erscheint die Kirche als «Rad», das noch gut funktioniert, aber sein Zentral-Geheimnis verloren hat. Die Wahrnehmung dieser komplexen, zudem von vielen Ungleichzeitigkeiten geprägten Situation der katholischen Kirche und die Verständigung darüber, «was der Fall ist», stellt eine zweite grosse Herausforderung dar.
3. «There is no alternative» (Margaret Thatcher)
Zudem legt diese Situation eine Abwandlung des berühmten Diktums «There is no alternative» von Margaret Thatcher nahe. Zum einen gibt es in dem Sinne «keine Alternative», als die Sorge um den Verlust der Mitte bzw. der Seele und die Sorge um zeitgemässe und glaubwürdige Strukturen einander nicht ausschliessen. Und zum anderen gibt es keine Alternative dazu, sich mit voller Aufmerksamkeit gleichzeitig auf das Geheimnis des Glaubens, die Auseinandersetzung mit den eigenen Strukturen und den intensiven Dialog mit der Welt von heute auszurichten. All dies ist alternativlos dringend. Daraus ergibt sich eine dritte Herausforderung: Es gilt falsche Alternativen und unproduktive Polarisierungen zu überwinden und die innerkatholische Diversität in der Gewichtung von spiritueller und struktureller Erneuerung, von Fokussierung auf Gottesliebe und auf Weltverantwortung als Chance zu nutzen.
4. «La Suisse n’existe pas» (Schweizer Pavillon an der Weltausstellung 1992)
Diese Herausforderungen werden noch anspruchsvoller, weil es «die» katholische Schweiz nicht gibt. Zwar gibt es schweizerische Strukturen: Die Bischofskonferenz, die Römisch-Katholische Zentralkonferenz, die Hilfswerke Caritas und Fastenopfer und einiges mehr. Aber strukturell und bewusstseinsmässig sind diese nationalen Strukturen weit weniger prägend als die regionalen, kulturellen und sprachlichen Eigenheiten, zu denen auch gehört, dass ein Drittel der Schweizer Katholiken Migrationshintergrund hat.
Zudem führt die Zuständigkeit der Kantone für das Verhältnis von Kirche und Staat zu grosser staatskirchenrechtlicher Vielfalt und unterschiedlich leistungsfähigen Formen der Kirchenfinanzierung. Hinzu kommt die ausgeprägte Autonomie der Kirchgemeinden. Sie hat zur Folge, dass die lokale Ebene finanziell und strukturell mit Abstand die stärkste, die diözesane und die nationale Ebene hingegen finanziell und personell schwach dotiert ist. Von der rund einen Milliarde Franken Kirchensteuern gelangen nur gerade 13 Millionen (gut 1%) auf die nationale Ebene.
Das Gemeinsame und Verbindende und die nationale Ebene stärken.
Dies ist solange kein Problem, als eine Mehrheit der entscheidenden Akteure wichtige Grundüberzeugungen teilen und die Bischöfe in der Lage sind, die Gläubigen und die staatskirchenrechtlichen Behörden mehrheitlich von ihren Vorstellungen vom Weg der Kirche in die Zukunft zu überzeugen. Fehlen jedoch die Einigkeit, die Glaubwürdigkeit und die Fähigkeit, zu motivieren und zu überzeugen, gelingt es nicht mehr, gleichgerichtete Entwicklungen anzuregen. Zudem existieren keine gesamtschweizerisch identitätsstiftenden und ein Wir-Gefühl erzeugenden Anlässe wie z.B. Katholikentage.
In einer Zeit, in der Aufgaben vielfach auf übergeordneter Ebene wahrgenommen werden müssen, und in der die Gläubigen und die Öffentlichkeit von der Kirche klare und kohärente Antworten auf die Fragen der Zeit erwarten, besteht die vierte Herausforderung darin, das Gemeinsame und Verbindende und die nationale Ebene so zu stärken, dass sie handlungsfähig wird, ohne dass die aus kulturellen wie pastoralen Gründen nötige Pluralität auf der Strecke bleibt. Bestrebungen zur Bündelung der Kräfte haben allerdings nur eine Chance, wenn sie nicht als klerikale Zentralisierung der Entscheidungen konzipiert werden, sondern zu synodalen und partizipativen Strukturen auf diözesaner und schweizerischer Ebene führen, die genügend Freiraum für Vielfalt lassen.
5. «Auf das Zusammenspiel kommt es an» (RKZ)
Eigens zu thematisieren ist in diesem Zusammenhang das sogenannte «duale System», also das Miteinander von kirchlichen und staatskirchenrechtlichen Strukturen. Dieses weltweit einzigartige System beruht darauf, dass der Staat in 22 Kantonen und Halbkantonen nicht die gemäss kanonischem Recht verfasste Kirche, sondern die Gemeinschaft der im jeweiligen Territorium wohnhaften Mitglieder der Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkennt und ihnen ein Steuerbezugsrecht verleiht, sofern sie dies wünschen und bereit sind, sich demokratisch und rechtsstaatlich zu verfassen und ihre Finanzen transparent zu verwalten.
… dass die Stärken des dualen Systems zur Geltung kommen.
Wegen dieser von typisch helvetischen Prinzipien wie Gemeindeautonomie, Föderalismus und direkter Demokratie geprägten Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche entsteht eine Doppelstruktur mit geteilten Zuständigkeiten. Im blossen Nebeneinander der Partner ist «business as usual» möglich, ein Gegeneinander führt zu unlösbaren Blockaden. Reformen und die Bewältigung von Krisen können jedoch nur im vertrauensvollen und lösungsorientierten Zusammenwirken gelingen. Angesichts der Asymmetrie zwischen finanziell starken, aber pastoral nicht zuständigen staatskirchenrechtlichen Körperschaften und hierarchisch starker, aber finanziell abhängiger Kirchenleitung sind die Rahmenbedingungen dafür in Zeiten innerkirchlicher Polarisierung, knapper werdender Mittel und unterschiedlicher Visionen vom Weg der Kirche in die Zukunft nicht ideal. Eine fünfte Herausforderung besteht folglich darin, das Zusammenspiel im dualen System unter erschwerten Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass seine Stärken zur Geltung kommen, was einen bewussten Umgang mit Machtfragen, ein synodales Verständnis von Kirche und eine gemeinsame Ausrichtung auf den Auftrag des Evangeliums erfordert.
6. «Die Zeichen der Zeit erkennen und in der Treue zum Evangelium wachsen» (Synodenhochgebet)
Eine sechste Herausforderung besteht in der Aufgabe, die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich in einem offen und partizipativ angelegten synodalen Prozess der Unterscheidung darauf zu verständigen, welches die Wichtigsten sind und was es heisst, dank ihnen in der Treue zum Evangelium zu wachsen. Ohne einem solchen Prozess vorzugreifen, der notwendiger Weise zu einem «gemeinsamen Weg der Erneuerung» gehört, kann angenommen werden, dass unter anderem folgende Zeichen der Zeit dazugehören:
- Die Suche nach einer neuen Stellung und Rolle der Frauen in der Kirche,
- die verbreitete Erwartung, dass Menschenrechte, Gewaltenteilung und Beteiligungsmöglichkeiten endlich auch in der katholischen Kirche Einzug halten,
- der Glaubwürdigkeitsverlust und die Krise der Institution und des kirchlichen Amtes,
- der tiefgreifende Umbruch der Religionslandschaft und der Religiosität,
- die Bedeutung von Migration, Flucht und Interkulturalität für Gesellschaft und Kirche, sowie
- Klimawandel und weltweite soziale Ungerechtigkeit.
Keine Einigkeit besteht jedoch hinsichtlich der Frage, wie die Kirche mit diesen Zeichen der Zeit umgehen soll.
7. «Lehr uns, Minderheit zu werden, Gott» (Dorothee Sölle)
Als letzte Herausforderung sei der Übergang vom Quasi-Monopol der beiden grossen Kirchen zur Minderheit genannt. Diese Entwicklung verläuft ungleichzeitig, scheint sich derzeit zu beschleunigen und wird unterschiedlich gedeutet. Während die einen sie für selbstverschuldet halten, sind andere der Auffassung, sie habe hauptsächlich gesellschaftliche Ursachen. Und während die einen darauf offensiv mit Marketing oder Mission reagieren möchten, setzen andere eher auf selbstlose Präsenz mitten in einer religiös nur scheinbar gleichgültigen Welt. Dritte beurteilen die Entwicklung als Prozess, in dem sich die Spreu vom Weizen trennt und die «kleine Herde» der wahrhaft Glaubenden zurückbleibt.
Gelingt es, diesen Übergang samt schmerzhaften Abschieden zu gestalten?
Ob es gelingt, diesen Übergang samt schmerzhaften Abschieden zuversichtlich, gemeinsam und selbstbewusst zu gestalten, oder ob er die einen in die Versektung, die anderen in die Selbstsäkularisierung und noch andere in die Beliebigkeit und Belanglosigkeit führt, ist derzeit nicht absehbar. Schon 1993 verfasste Dorothee Sölle[4] zu diesem Thema ein Gebet, das nochmals andere Herausforderungen benennt, über die ebenfalls zu sprechen wäre:
Lehr uns Minderheit zu werden, Gott,
in einem Land, das zu reich ist,
zu fremdenfeindlich und zu wirtschaftsgläubig[5].
Pass uns an Deine Gerechtigkeit an,
nicht an die Mehrheit,
bewahre uns vor der Harmoniesucht
und den Verbeugungen vor den großen Zahlen.
Sieh doch, wie hungrig wir sind nach Deiner Klärung. […]
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Daniel Kosch, Dr. theol., ist Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz.
Bild: Niels Fabry / unsplash.com
[1] Jan Loffeld, Wenn Gott nicht mehr notwendig ist … Oder: Was macht eine Erlösungsreligion in einer Welt, die sie nicht mehr braucht?: <https://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/zpth/article/view/2294>, Zitate 105.112.
[2] Rosemarie Schärer, «Es ist Gott, der die Kirche führt» (Interview mit Bischof Charles Morerod): SKZ (187) 2019, 31.
[3] Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, Freiburg 2011, 172.
[4] Dorothee Sölle, Träume mich Gott, Wuppertal 1994, 33f.
[5] Dorothee Sölle sagte «militärfromm».