Vor 80 Jahren starb Pius XI. Er ist der letzte Papst, den seine Nachfolger nicht bestrebt sind, heiligzusprechen. Aus einem Paktierer mit Mussolini wird ein Kritiker des Faschismus. Bevor es aber zur Abrechnung kommen kann, verstirbt der Papst. Ein Porträt von Klaus Unterburger.
Am 10. Februar 1939 starb Papst Pius XI. Einen Tag später, am 11. Februar, haben sich die Lateranverträge, die große Aussöhnung (conciliazione) von Kirche und faschistischem Staat, zum zehnten Mal gejährt. Pius XI. hat sie mit Mussolini geschlossen und feiern lassen. 10 Jahre später war Pius XI. an der römischen Kurie weitgehend isoliert. Er war verbittert und wollte den Jahrestag zur Abrechnung nutzen. Doch der Tod kam schneller. Die Anklage drang nicht an die Öffentlichkeit.
Ein Pontifikat in Konfrontation mit Kommunismus und Faschismus.
Pius XI. hatte Schwächen. Seine eiserne Strenge im Regieren war ebenso gefürchtet wie sein Jähzorn und seine Tendenz zum Autokratischen. Andererseits besaß er Geschichtskenntnisse, die ihn weit über das kuriale Klerikermilieu hinaushoben. Sie befähigten ihn zu einer fundierteren Analyse der Moderne, als es die etablierten traditionellen Konzepte anboten. Pius XI. sah in der Moderne mehr als einen immer schlimmer werdenden Abfall von der wahren Religion. Die wohl weitreichendste Entscheidung, vor der sein Pontifikat stand, war jedoch die Konfrontation mit Kommunismus und Faschismus. Seit 1918 radikalisierten beide Ideologien zunehmend die europäische Gesellschaften in wechselseitiger Feindschaft.
Die päpstliche Konfrontation mit dem Sozialismus war das Erbe des 19. Jahrhunderts. Entstanden war ein Verhältnis von katholischer Kirche und Sozialismus, nach dem Wort August Bebels, wie „Feuer und Wasser“. Die drei klassischen Elemente, welche die radikale Feindschaft seitens der Kirche begründeten, waren folgende Vorwürfe:
- Der Sozialismus sei aus dem Laizismus erwachsen, propagiere Atheismus oder wenigstens die Privatisierung der Religion;
- er wolle die gottgewollte hierarchische – da die natürliche Diversität der Menschen abbildende – Herrschaftsordnung mit ihrem Recht auf Eigentum zerstören;
- im Untergrund strebe er Verschwörung und Auflehnung gegen die legitime Staatsgewalt an.
In kirchlichen Augen musste das Phänomen des Faschismus ambivalent erscheinen.
Die faschistischen Systeme entstanden hingegen erst nach 1918. Sie verstanden sich als Antwort auf die bolschewistische Gefahr, die am Kriegsende an vielen Orten Umsturzversuche unternahm und in Russland Erfolg hatte. Die alten bürgerlichen Kräfte seien zu schwach, der roten Gefahr wirkungsvoll entgegen zu treten, so die faschistische Begründung. Der Liberalismus habe sie verdorben. Den Bolschewismus gelte es gewaltsam, mit dessen Mitteln zu schlagen.
1922: Pius XI. wird zum Papst gewählt. Im Oktober findet Mussolinis Marsch auf Rom statt.
In kirchlichen Augen musste das Phänomen des Faschismus ambivalent erscheinen. Ein Verbündeter gegen die alten Todfeinde, Liberalismus und Sozialismus? Ein Erbe der sozialistischen Kirchenfeindschaft? Vorgeprägte Handlungsmuster existierten bislang noch nicht. Achille Ratti wurde 1922 als Pius XI. zum Papst gewählt. Im Oktober desselben Jahres fand Mussolinis Marsch auf Rom statt. Es folgte die sukzessive Ausschaltung konkurrierender Kräfte, die Errichtung der Diktatur. Wie sollte sich der Papst dazu positionieren?
Das zentrale Ziel des Papstes entsprach dabei demjenigen von dessen Vorgängern: Rechristianisierung! Ziel des Papstes war eine katholische Gesellschaft. Pius XI. wollte die Säkularisierung umdrehen, Christus wieder als König, im privaten wie im öffentlichen Leben. 1925 führte er in diesem Sinne das Christkönigsfest ein.
Das zentrale Ziel: Rechristianisierung der Gesellschaft.
Der Papst verstand, dass Glaube der positiven Beeinflussung von außen, durch die Gesellschaft, bedarf. So wie der zunehmende Glaubensabfall keine abstrakte Entscheidung der vielen einzelnen Individuen gewesen ist, sondern sich gesellschaftlich fortgepflanzt hat, so konnten gesellschaftliche Bedingungen auch eine gegenteilige Bewegung befördern. Schule und Öffentlichkeit sollten anstatt Laizismus das Christentum propagieren, ebenso die Familien. Diese determinierenden Faktoren sollten der freien Glaubensentscheidung und damit auch dem ewigen Heil des Menschen helfen.
Dabei hatte sich in Italien der verspätete Versuch, eine katholische Partei zu gründen (Partito Popolare Italiano), als nicht zu eigenständigen Mehrheiten fähig erwiesen. Dagegen wurde mit Mussolini möglich, was der Partito nur gefordert hatte: katholische Ehegesetzgebung als Staatsgesetz, die Eliminierung unkatholischer Bücher durch den Staat und die Anbringung von Schulkreuzen.
Das Bündnis mit dem Faschismus: Der autoritäre Staat garantiert die Entfaltung des Glaubens.
Einen Verzicht auf politische Betätigung konnte die Kirche verschmerzen, insofern der Staat ihr die geistliche Prägung der italienischen Nation ermöglichte. Dies war der Sinn der Lateranverträge, die dem Hl. Stuhl 1929 wieder ein autonomes (Zwerg-)territorium und eine finanzielle Entschädigung für den „Raub des Kirchenstaates“ zugestanden hatten. Starker Staat und die öffentliche, geistige Dominanz der katholischen Religion, beide sollten sich gegenseitig fördern.
Der autoritäre Staat garantierte die Entfaltung des Glaubens in Italien, später auch in Portugal, Spanien und Österreich. Dieses Ideal der geschlossen christlichen Gesellschaft entwickelte der Papst weiter: in den 1930er Jahren propagierte er einen totalitarismo cattolico. Ein Papst, der den traditionellen Antiliberalismus und Antisozialismus weiterentwickelt hat, führte zu einem unduldsamen Katholizismus im Bündnis mit dem Faschismus.
Rätselhaft: Gerade dieser Papst wird zum verhassten Gegenspieler Mussolinis.
Doch hier wird es rätselhaft: Gerade dieser Papst war es auch, der gegen sein Umfeld zum verhassten Gegenspieler Mussolinis wurde und ihn öffentlich anklagen wollte. Impulsiv reagierte er auf Konkordatsverletzungen und staatliche Übergriffe, etwa gegen die katholischen Verbände oder das Eherecht.
Man wird sagen, zwischen zwei Autokraten sei Harmonie eben schwierig. Ein staatlicher und ein katholischer Totalitarismus müssen früher oder später aufeinanderprallen. Aber historisch gesehen ist die Konzeption des Christlichen, die allen totalitären Vereinnahmungen entgegensteht, nicht selbstverständlich. Hans Joas hat in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, wie überzeitliche Ideale und Werte unter historisch kontingenten Bedingungen erst entdeckt und erfasst werden mussten, ohne dass diese dadurch nur relative Geltung hätten.
Was hat den Papst zum Kritiker des Faschismus werden lassen, was hat er entdeckt?
Alles spricht dafür, dass das Konzept des „katholischen Totalitarismus“ Pius XI. einerseits anfällig gemacht hat für ein Bündnis mit autoritären Regimen, andererseits aber auch sensibel für die antitotalitäre Kraft des Christentums. Der Totalitarismusbegriff erwuchs aus der inneritalienischen Opposition der 1920er Jahre. Dass ein Papst ihn aufgreift, ist alles andere als selbstverständlich.
Was hat den Papst zum Kritiker des Faschismus werden lassen, was hat er entdeckt? Steht ein gemeinsames Konzept hinter den drei Enzykliken 1937 gegen den Kommunismus, gegen den Nationalsozialismus und gegen das Regime in Mexiko? Tatsächlich gibt es in den Debatten an der Kurie – um eine Verurteilung Hitlers neben Kritik an Hypernationalismus und Rassismus – ein antitotalitäres Theorieelement, das auf die Weiterentwicklung der katholischen Gesellschaftslehre des Papstes zurückweist.
Subsidiarität als antitotalitäres Theorieelement.
Dieses antitotalitäre Theorieelement hat Pius XI. 1931 in der Enzyklika Quadragesimo anno entfaltet: Subsidiarität, Eigenverantwortlichkeit, als Konsequenz des christlichen Menschenbildes, als Konsequenz von Personalität, die aus dem Gegenüber zum personalen Gott erwächst. Dies ist die Grundlage nicht nur der vatikanischen Kommunismuskritik der 1930er Jahre, sondern auch die Hintergrundtheorie der Entwürfe zu einer Anti-Rassismus-Enzyklika 1938.
Der total von Gott angerufene Mensch muss frei sein, hat also Gewissens- und Freiheitsrechte.
Am meisten hatte den Papst die Annäherung Italiens an Hitler-Deutschland verbittert. Nach einer kurzen Phase der Täuschung 1933 war der Nationalsozialismus für den Papst Bolschewismus mit anderen Vorzeichen, im Kern totalitäre Vergewaltigung des geistig-personalen Menschen. Der total von Gott angerufene Mensch muss dagegen frei sein, hat also Gewissens- und Freiheitsrechte. Dies ist die Einsicht des sterbenden Papstes. Die Konsequenzen haben erst die Nachfolger gezogen: Pius XII. 1944 mit dem Bekenntnis zur demokratischen Staatsform; Johannes XXIII. 1963 mit der Anerkennung der Menschenrechte. Eine konsequente innerkichliche Applikation dieser Einsicht Pius XI.‘ steht aber noch aus.
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Klaus Unterburger ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Regensburg und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Kirchenhistoriker und Kirchenhistorikerinnen im deutschen Sprachraum.
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