Wir kennen Vampire als untote Fantasiewesen aus Literatur und Fernsehen. In einer Woche ist Halloween. Das nimmt Matthias Steiner zum Anlass, auf ganz reale Vampyre zu blicken. Weil sie zu wenig Lebensenergie besitzen, sind Vampyre davon überzeugt, auf Fremdenergie angewiesen zu sein. Für Christinnen und Christen gibt es nichts zu befürchten – aber Spannendes zu entdecken!
In einer Woche ist Halloween und die Toten steigen wieder einmal aus ihren Gräbern, um die Lebenden für ein kleines Stell-dich-ein zu besuchen. Welcher Zeitpunkt wäre besser dafür geeignet, sich wieder einmal mit Vampiren zu beschäftigen? Doch dieser Artikel soll sich nicht mit den mythologischen Untoten aus Film und Literatur beschäftigen. Die sind ohnehin im öffentlichen Diskurs bereits mehr als genug vertreten. Nein, dieser Artikel möchte sich mit einem Phänomen beschäftigen, welches sich langsam aber beständig in den letzten dreißig Jahren im Schatten des allgemeinen Vampirhypes entwickelt hat: die »Vampyrsubkultur«.
Vampyre sind davon überzeugt, richtige Vampire zu sein.
Nun, was ist das? Vampyre (mit der Schreibweise “y”; auch: real life vampires genannt) sind Menschen, welche davon überzeugt sind, dass sie selbst richtige Vampire sind. Es handelt sich bei diesen also nicht um sogenannte Rollenspieler, die gerne für einige Stunden in die Rolle ihrer glamourösen Helden schlüpfen. Nein, hier hat man es mit dem “real thing” zu tun.
Vampyre sind der Ansicht, dass jeder Mensch (und eigentlich jedes Lebewesen) neben einem stofflichen (physischen) Körper auch einen feinstofflichen bzw. energetischen Körper (Prana, Qi, etc.) besitzt – eine Ansicht, die in der westlichen Gesellschaft dank Techniken wie Yoga und Qi Gong bereits weit verbreitet ist. Im Gegensatz zu normalen Menschen sehen sich Vampyre in diesen Bereich aber mit einem Defizit behaftet. Sie glauben, dass sie von Geburt an zu wenig an eigener Körperenergie besitzen bzw. nicht in der Lage sind, genügend eigene Energie zu produzieren. Daraus leiten viele Vampyre die durchaus nachvollziehbare Folgerung ab, dass man als Vampyr geboren wird, und nicht durch einen Biss oder ähnliches dazu gemacht werden kann.
durch Fremdenergie die eigene Körperenergie auf ein normales Level heben
Das Ergebnis ist, dass sie auf “Fremdenergie” angewiesen sind. Und, wie ihre untoten Namensgeber aus der Mythologie, versuchen sie ihre Körperenergie mit Hilfe ihrer Mitmenschen auf ein für sie “normales” Level zu heben. Soweit die Theorie. In der Praxis sind in der Subkultur hierfür zwei grundlegende “Techniken” zu beobachten. Ein Teil der Vampyre trinkt kleine Mengen menschliches Blut, um damit die darin (angenommene) enthaltene Lebensenergie in sich aufzunehmen. Sie werden in der Subkultur als “sanguine Vampyre” bezeichnet. Die andere Gruppe von Vampyren versucht, direkt Körperenergie vom Energiefeld eines anderen Menschen zu “saugen”, weshalb sie Psi-Vampyre genannt werden.
Aus dieser kurzen Charakterisierung geht bereits hervor, dass die Vampyre ihre Eigenheiten nicht als eine Sache des Glaubens verstehen. Vampyrismus ist in ihrem Verständnis keine Religion und keine Sekte. Vampyrismus wird vielmehr als eine besondere Lebensform verstanden – unabhängig davon, welche religiösen Ansichten und Überzeugungen die jeweilige Person sonst vertreten mag. Und ja: es gibt auch Vampyrchristen (oder: christliche Vampyre).
Vampyre sie sind nichts, vor dem man sich fürchten muss.
Diese grundlegende Charakterisierung mag auf den ersten Blick verstören, und auf den zweiten Blick Angst machen – verständlich. Betrachtet man die Subkultur und ihre Publikationen aber etwas näher, so findet man bald heraus, dass es sich bei den Vampyren aber nicht um die neueste Version des “Teenager-Babys-schlachtenden-und-Luzifer-anbetenden-Satanisten” handelt. Gerade von diesem Bild versuchen sie sich auch streng abzugrenzen. Ein Grund, weshalb sie sich eben auch mit etablierten Religionen durchaus vereinen lässt.
Die Vampyrsubkultur hat im Laufe ihres Bestehens bereits eine umfangreiche Vampyr-Ethik entwickelt. Vor allem der allgemein anerkannte und verbreitete “Black Veil” gilt gemeinhin als eine Art Ehrenkodex, der das Verhalten der einzelnen Protagonisten strikt reglementiert und kriminelle Auswüchse verhindern soll. So ist das “Saugen” oder Bluttrinken nur von freiwilligen und erwachsenen Spendern erlaubt, auf deren Gesundheit der jeweilige Vampyr immer und zu jeder Gelegenheit zu achten hat. Ein weiterer bekannter Text der Subkultur, die “Donor Bill of rights”, widmet sich ausschließlich diesem Verhältnis zwischen Vampyr und Spender, und betont eben gerade die Tatsache, dass “normale Menschen” (d.h. Nicht-Vampyre) eben gerade nicht nur Nahrung sind. Standards innerhalb der Subkultur, wie diese Texte, zeigen den einzelnen Mitgliedern ganz klar, in welchem Rahmen sie sich zu bewegen haben, um als ein Teil derselben akzeptiert zu werden. Man sieht also: Vampyre mögen auf den ersten Blick dunkle Gesellen sein – doch sie sind nichts, vor dem man sich fürchten oder in Acht nehmen müsste.
Vor allem beim Christentum zeigen sich Anknüpfungspunkte, die für die Subkultur interessant sind.
Während die Subkultur nun im Blick auf die Ethik, bei aller Verschiedenheit, zum großen Teil diesen gemeinsamen Regeln folgt, sieht es im Bereich der Religion und der Weltanschauungen sehr viel weniger einheitlich aus. Es gibt schlicht keine Vampyr-Religion, welcher alle Vampyre folgen. Zwar haben einige Vampyre, basierend auf ihrer postulierten Natur, spezifische Weltbilder entwickelt (vor allem im Kontext des Neopaganismus). Doch es gibt keine Monopolstellung. Dies erklärt sich auch daher, dass der Vampyrismus von den Mitgliedern der Subkultur eher als anthropologische Besonderheit verstanden wird. Und so kann er prinzipiell mit jeder Religion kombiniert werden, genauso wie es Christinnen und Christen unterschiedlicher Hautfarbe geben kann.
Dies führt in der Realität zu der faszinierenden Tatsache, dass einige Vampyre durchaus keinen Widerspruch darin sehen, sowohl Christin oder Christ (bzw. Anhängerin oder Anhänger einer der großen monotheistischen Religionen) und gleichzeitig auch Vampyr zu sein. Vor allem beim Christentum zeigen sich zudem Anknüpfungspunkte, die für die Subkultur interessant sind. Die Grundlage des mythologischen Vampirs ist und war immer: “Blut ist Leben”. Und die gleiche Maxime findet sich bereits in der jüdischen Tradition. Auch hier wird die Lebenskraft im Blut verortet, was schließlich zu den bekannten Speisevorschriften im Judentum geführt hat. Im Kontext des Katholizismus zeigt sich ein Anknüpfungspunkt in der Gottesdienstfeier: die im katholischen Messritual vollzogene Wandlung von Wein in das Blut Jesu Christi. Als erster Vampyr hat Michelle Belanger in ihrem Buch “Sacred Hunger” auf diese Nähe zu Aspekten der jüdisch-christlichen Weltdeutung verwiesen. Auch die aus der selben Tradition stammende Figur der Nephilim findet bei einigen Vampyren beliebten Anklang. Die, durchaus ambivalenten, Söhne und Töchter der Engel unter den Menschen werden von einigen Vertreterinnen und Vertretern der Subkultur als ihre Ahnen beansprucht. Womit sich diese Vampyre auch in ihrem Herkunftsmythos ganz klar und selbstverständlich in ein jüdisch-christliches Geschichts- und Weltbild einordnen.
Dass es sich hierbei noch nicht um eine klare christliche Vampyr-Theologie handelt ist klar. Aber die ersten zarten Bande hin zu einer auch christlichen Deutung des Vampyrismus sind ohne Zweifel bereits geknüpft.
zwischen Nichtbeachtung und Dämonisierung
Dies führt auf der anderen Seite zu der Frage, wie Vampyre in den christlichen Gemeinschaften und Kirchen gesehen werden. Betrachtet man die katholische Theologie, so findet sich dort bisher noch kaum eine ernsthafte Auseinandersetzungen mit diesem Phänomen. Anders sieht die Situation bei den evangelikalen Christen in den USA aus. Bekannt dafür, ein sehr rigides und fundamentalistisches Christentum zu vertreten, sehen viele dieser Christen die Vampyrsubkultur als einen natürlich Feind an. Ausdrücke wie “das Böse” oder “die Dämonen” – leider durchaus in einem handfesten Sinne verstanden – sind hier oft zu beobachten. Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele durchaus froh sind, nun endlich “das Dämonische” vermeintlich real und in Aktion erleben zu dürfen. Unzählige Berichte von Vampyren in sozialen Netzwerken geben davon ein trauriges Zeugnis.
Eine christliche Vampyrvereinigung ist nur eine Frage der Zeit.
Sicher, eine sehr radikale (christliche?) Position. Doch betrachtet man diese Tatsache nüchtern im Kontext der Religionsgeschichte, ist derlei nicht unüblich. Neue weltanschauliche Bewegungen erscheinen auf den ersten Blick oft als Gefahr für die eigenen Überzeugungen und Werte. Und bei der Exotik sowie dem dunklen Glamour der Vampyrsubkultur ist eine solche Reaktion eigentlich nicht weiter verwunderlich. Langfristig wird sich die Lage wohl wieder bis zu einem bestimmten Grad entspannen. Bei der neuen Hexenbewegung (Wicca) war ursprünglich eine ähnliche Angst zu beobachten. Doch heute ist Wicca in den USA (und anderen Staaten) eine anerkannte Religion, ihre Vertreterinnen und Vertreter nehmen regelmäßig an interreligiösen Treffen teil und sind sogar in den US-Streitkräften akzeptiert. Man kann davon ausgehen, dass es sich mit der Vampyrsubkultur ähnlich verhalten wird. Eine christliche Vampyrvereinigung (in der Subkultur “Haus” genannt) erscheint unter diesen Voraussetzungen nur noch als eine Frage der Zeit – so sie nicht bereits unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung existiert. Und die christlichen Großkirchen werden, nach anfänglichen Schwierigkeiten, wohl auch einen entspannten Umgang mit ihren dunklen Gesellen finden.
—
Matthias Steiner ist Religionswissenschaftler und Doktorand an der Universität Graz.
Bild: Carsten Grundwald / pixelio.de
Zum Weiterlesen: Steiner, Matthias C. “Die Anthropologie und Weltanschauung der Vampyr-Subkultur.“ Master’s thesis, Karl-Franzens Universität Graz, 2012.