Das ethische Dilemma der Flüchtlingspolitik zeigt sich in der Frage nach einem Grundrecht auf ein besseres Leben, genauer, nach der Realisierbarkeit eines solchen Grundrechts. (Walter Lesch)
Wer sich in Fragen der Flüchtlingspolitik zu Wort meldet, muss sich auf spannungsreiche Debatten und auf Missverständnisse gefasst machen. Denn schließlich geht es um einen der herausragenden Bereiche, in denen Politik und Moral notgedrungen ins Gespräch kommen und mit ihren unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben für Irritationen sorgen. Die Gewährung von Asyl für Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, gehört zum Kernbestand eines demokratischen Selbstverständnisses, das Grundrechte nicht nur unter den komfortablen Bedingungen eines relativ gut abgesicherten Wohlstands beschwört, sondern gerade auch dann, wenn die Verhältnisse chaotisch und prekär werden. Das Recht auf Asyl ist der kosmopolitische Ernstfall eines Gemeinwesens, das über die Grenzen einer eng definierten Mitgliedschaft hinauszudenken vermag und vom universalistischen Potential seiner Grundwerte überzeugt ist. Doch diese Überzeugung wird keineswegs von allen Bürgerinnen und Bürgern geteilt. In genau diese Unsicherheit trifft Victor Orbáns rechtspopulistischer Spruch, es gebe kein Grundrecht auf ein besseres Leben. Ein solcher Wunsch sei zwar menschlich nachvollziehbar, könne aber nicht rechtlich eingeklagt werden. Die demagogische Sinnspitze einer solchen Position ist das Interesse an einer Schwächung des ohnehin schon fragilen Status von Flüchtlingen, denen die letzte Illusion genommen werden soll, sie bewegten sich mit ihrem energischen Aufbruch in eine bessere Existenz auf sicherem Boden.
Das Recht auf Asyl ist der kosmopolitische Ernstfall eines Gemeinwesens, das über die Grenzen einer eng definierten Mitgliedschaft hinauszudenken vermag und vom universalistischen Potential seiner Grundwerte überzeugt ist.
Auf der Ebene des kohärenten moralischen Urteils sind die Verhältnisse ebenso einfach wie sie auf der Ebene der praktischen Durchführung kompliziert sind. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist ein Gebot der Mitmenschlichkeit unter der Voraussetzung, dass Menschen sich wechselseitig als Rechtssubjekte anerkennen.
Wir helfen Notleidenden, weil wir uns gut vorstellen können, auf solche Unterstützung zählen zu wollen, falls wir selbst in eine vergleichbar aussichtslose Lage kämen und uns nur noch durch Flucht retten könnten. Insofern ist das Asylrecht eine offenkundige Anwendung der Goldenden Regel, die als Richtschnur vorgibt, andere Menschen so zu behandeln wie wir unter ähnlichen Umständen behandelt werden wollten. Wo diese Evidenz verschwindet, zerbricht eine wesentliche Grundlage der Zivilisation. Das ist die Lehre aus all dem von zahllosen Menschen erlittenen Unrecht, in dessen Kontext das Anliegen der Menschenrechte seine Plausibilität gewonnen hat. Es ist der Schutz des nackten Lebens, das Verfolgung und Gewalt ausgesetzt ist. Hier kann es seitens der Helfenden nur die eine entschiedene, bisweilen trotzige Reaktion geben: „Wir schaffen das!“
Wir schaffen das!
Es ist nicht leicht, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn die konkrete Wahrnehmung von Migrantenschicksalen mit einer hoch emotionalen Stimmung verbunden ist. Die von den Medien verbreiteten und in direkten Begegnungen entstandenen Eindrücke verstärken die Einsicht, dass Europa aus der Komfortzone undurchlässiger Außengrenzen mit einer maximalen Bewegungsfreiheit für Europäer innerhalb dieser Grenzen herausgerissen wurde. Schon seit Jahren kennen wir die Bilder der Boatpeople, die an den Mittelmeerküsten ankommen, sofern sie die gefährliche Fahrt in überfüllten und wenig tauglichen Schiffen überstanden haben. Europa und Afrika sind durch einen breiten „Wassergraben“ getrennt, der seine abschreckende Wirkung verloren zu haben scheint. Für die Bewohner der nördlicheren Länder Europas war dieses Elend bisher immer noch in weiter Ferne. Das ist 2015 nicht mehr der Fall. Die Migranten, die in Calais von tragischen Unfällen unbeirrt jeden Versuch unternehmen, durch den Tunnel nach England zu gelangen; die Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern des Mittleren Ostens oder aus Afrika, die über Griechenland und die Balkanroute nach Deutschland oder Schweden kommen wollen, sofern sie kein ungarischer Stacheldraht oder andere Grenzposten daran hindern. All das sind starke Szenen von Verzweiflung und Überlebenswillen sowie von Abschottung und Ablehnung. Seit seiner Entstehung vor über 50 Jahren hat der europäische Wohlstandsraum, der sich über die freie Zirkulation von Waren und von Menschen definiert, eine solche Verunsicherung nicht erlebt. Selbst die Ereignisse von 1989 und den Folgen waren regional begrenzter.
Es ändert nichts an den heutigen Herausforderungen, wenn wir daran erinnern, dass die jetzige Situation viel früher hätte antizipiert werden müssen, um vernünftige Szenarien der Krisenbewältigung zur Verfügung zu haben. Tatsache ist, dass es eine solche koordinierte Antwort der politischen Verantwortungsträger nicht gibt. Eine ethische Sicht der Lage scheint vergleichsweise besserwisserisch zu sein, weil die gut gemeinten Ratschläge ja nicht den Praxistest konkreter Politik bestehen müssen. Wer aus dem sicheren Abstand der Beobachterperspektive mit hohen Idealen die Verhältnisse kommentiert und kritisiert, riskiert nicht mehr als den herablassenden Vorwurf der Realitätsferne und des Gutmenschentums. Die folgenden Überlegungen kreisen um die unerledigten Fragen, auf die auch eine weltoffene Ethik keine letztgültige Antwort weiß, weil wir uns mit jedem Lösungsversuch in neue Widersprüche und ethische Zwickmühlen begeben. Das ist deshalb nicht verwunderlich, weil Migration nie als ein isoliertes Phänomen zu betrachten ist. Es reflektiert immer den komplexeren Zusammenhang einer aus den Fugen geraten Welt, in der Menschen sich aus den unterschiedlichsten Gründen auf den Weg machen, um unerträglichen Zuständen zu entfliehen. Die ethische Problematik einer jeden Flüchtlingspolitik zeigt sich in einer Reihe von Spannungsverhältnissen, die jeweils die Struktur eines Dilemmas haben. Es gibt keine ethisch gebotene Option, die nicht auch unerwünschte Nebeneffekte auslöst.
Es gibt keine ethisch gebotene Option, die nicht auch unerwünschte Nebeneffekte auslöst.
Flüchtlingsbewegungen konfrontieren die betroffenen Aufnahmeländer ab einer gewissen Größenordnung des Zustroms mit einem Regulierungsproblem, das selbst mit den besten moralischen Absichten nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. Ein Asyl für alle, die es wünschen, wird es nur selten geben können, weil Kriterien geltend gemacht werden, an denen die Ansprüche der Asylbewerber zu messen sind. Diese Kriterien werden aber nicht auf allgemeine Zustimmung treffen, weil sie immer mit einer mehr oder weniger umstrittenen Auswahl verknüpft sind, die einigen Flüchtlingen Priorität einräumt und die Ansprüche anderer als nicht oder weniger berechtigt zurückweist. Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Motiven für die Beantragung eines sicheren Flüchtlingsstatus sind aber fließend, so dass die Prüfungsverfahren zur Feststellung einer solchen Berechtigung immer mit einem Gefühl von Ungerechtigkeit und Diskriminierung verbunden sein werden. Durch die Notwendigkeit einer Regulierung werden Asylbewerber in einen grotesken Wettbewerb um die grausamsten Verfolgungssituationen geschickt und verlieren ihre Chancen auf Anerkennung, wenn sie aus einer nur etwas wenigen bedrohlichen Notlage kommen.
Neu an der gegenwärtigen Situation ist ihre europäische Dimension, die sich zugleich als Chance und als Zerreißprobe für das politische Projekt Europas erweist. Es ist eine Chance, weil angesichts der Dimension des Problems ein solidarisches Vorgehen mittels transparenter Absprachen und eines verbindlichen Verteilungsschlüssel für die Zuweisung von Flüchtlingen jedem nationalen Alleingang in pragmatischer Hinsicht überlegen sein dürfte. Diese Chance verwandelt sich aber in einen Konflikt zwischen den Mitgliedsländern, sobald doch wieder nationalen Egoismen der Vorrang gegeben wird. Und es kommt zum unvermeidlichen Konflikt mit den Migranten, denen es nicht genügen dürfte, sich irgendwo in Europa vorerst in Sicherheit zu wissen, sondern die sich mit der Vorstellung von einem ganz bestimmten Zielland auf den Weg gemacht haben. Über Verteilungsschlüssel werden solchen Lebensentwürfe aber wieder durchkreuzt, was eine enorme Flexibilität in der Anpassung an sprachliche und kulturelle Besonderheit der zufällig zugeteilten Aufenthaltsorte verlangt.
Chance und als Zerreißprobe für das politische Projekt Europas
Ein drittes Dilemma jeder moralischen und politischen Stellungnahme betrifft die Widerstände, mit der eine prinzipielle Option für eine „Willkommenskultur“ rechnen muss. Es ist der mächtige Schatten des Rechtspopulismus, der den Elan einer offenen europäischen Gesellschaft zu lähmen droht. Wenn die Zivilgesellschaft nicht über genügend Reserven verfügt, um den Stimmungsmachern und Gewalttätern am rechten Rand die Stirn zu bieten, dann droht jedes Projekt der Öffnung und der Integration in eine Haltung der Abschottung und der Feindseligkeit zu kippen.
Auch ohne die Bedrohung durch nationalistische Engstirnigkeit müsste ein politischer Handlungsrahmen abgesteckt werden, der über die aktuelle Krisenbewältigung hinaus einen Entwurf einer offenen Gesellschaft rechtfertigen könnte, in der Migranten eine echte Chance haben. Ob dies mit dem Modell offener Grenzen gelingen kann, wird von den meisten Experten bestritten. Eine Migrationspolitik, die mehr sein will als ein Kurieren an Symptomen einer ungerechten Welt, muss sich dazu äußern, wie sie sich eine mittel- und langfristige Zukunft vorstellt, und die argumentative Anstrengung akzeptieren, die denkbaren Optionen auf ihre Wünschbarkeit und auf ihre Realisierbarkeit zu prüfen. Irreguläre Migranten sind noch lange keine Kriminellen, auch wenn eine auf Abschreckung zielende Politik sie dazu machen will. Damit sind wir aber wieder beim dem schon erwähnten Regulierungsproblem, das eine aktive Einwanderungspolitik für alle Kategorien von Migranten erfordert.
Und schließlich zwingt jede vernünftige Flüchtlingspolitik zur Auseinandersetzung mit den Fluchtursachen, durch deren Beseitigung der Druck aus einer angespannten Situation nehmen ließe. Doch dieser Anspruch ist leider in den meisten Fällen eine hoffnungslose Überschätzung der Handlungsspielräume eines Staates. Auch in einer Welt ohne die aktuellen Krisenherde begäben sich Menschen auf den Weg in eine Zukunft in einem anderen Land. Die Verstrickung in die Unrechtsverhältnisse der Herkunftsländer erhöht zwar den moralischen Druck auf die Aufnahmeländer, die sich mit den Folgen ihrer falschen Entscheidungen, ihrer politischen Versäumnisse oder ihrer ökonomischen Gier konfrontiert sehen. Aber dies gibt noch keine unmittelbaren Orientierungsmaßstäbe für den Umgang mit Menschen, die akut auf die Einreise und einen fairen Aufenthaltsstatus drängen.
Einfache Antworten sind nicht erhältlich.
All diese Fragen sind nicht neu. Dass wir ihnen heute immer noch mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und schlechtem Gewissen begegnen, zeigt nur das Ausmaß der Verdrängung an, mit der die Migrationspolitik über Jahrzehnte an den Rand der politischen Agenda und der ethischen Reflexion geschoben wurde. Einfache Antworten sind wie gesagt nicht erhältlich, nur die schrittweisen Einsichten, die in einem Lernprozess gewonnen werden, der möglichst angstfrei und respektvoll gestaltet werden sollte. Es ist zwar richtig, dass es vermessen wäre, durch punktuelle Maßnahmen globale Probleme lösen zu wollen. Doch irgendwo muss die Weltinnenpolitik in einer weltweiten Gemeinschaft beginnen, wenn diese sich nicht damit abfinden will, in durch Mauer und Stacheldraht abgrenzte Zonen mit unterschiedlichen Lebenschancen und Privilegien eingeteilt zu sein. Die ermutigenden Zeichen der Solidarität aus der Zivilgesellschaft, insbesondere auch das Engagement unter dem Vorzeichen einer konsequent gelebten christlichen Ethik, sind Anlass zur Hoffnung auf eine neue Qualität einer durch viel Polemik und viel Moralinsäure vergifteten Debatte.
(Walter Lesch, Louvain-la-Neuve, Belgien)