Länger schon hatten viele gewartet: auf ein Wort der deutschen Bischöfe zu Amoris laetitia. Jetzt ist es da, und es ist überraschend deutlich. Daniel Bogner versucht eine Orientierung auf umstrittenem Terrain.
Hoch gingen die Wellen in den vergangenen Monaten. Seit Humanae vitae von 1968 ist wohl keine päpstliche Verlautbarung so kontrovers diskutiert worden, auch unter Bischöfen und Kardinälen, wie das „Nachsynodale Päpstliche Schreiben“ zu Familienpastoral und Sexualmoral. Mit den sogenannten Dubia („Zweifeln“) von vier prominenten Kardinälen hat die zum Teil polemisch geführte Debatte einen Höhepunkt erreicht. Auch wenn es immer wieder herunter gespielt wird: Es geht um eine ganz Menge, vor allem um die Frage, wie die kirchliche Morallehre zu verstehen ist, wenn sie von dem „Gesetz Gottes“ spricht, auf das sie sich beruft.
„Eine Stellungnahme, die Stellung bezieht“
Dass einzelne Ortskirchen sich nun äußern, liegt aber nicht nur an der Kontroverse, die das Dokument ausgelöst hat. Es ist auch eine innere Konsequenz der Argumentation von Papst Franziskus. Denn er hat immer wieder betont: In vielen Dingen kann es keine von oben verordnete, ein für allemal und überall einheitlich gültige Regelung geben. Vielmehr müsse vor Ort nach der passenden Antwort auf grundsätzliche Herausforderungen gesucht werden. Die deutschen Bischöfe haben diese Herausforderung jetzt angenommen. Angesichts der heftigen Kritik am Text des Papstes ist das ein notwendiger, aber auch ein mutiger Schritt. Denn es ist klar, dass man mit einer solchen Stellungnahme auch Stellung beziehen muss, so oder so.
Der Text (hier verfügbar) schlägt zunächst einen Ton an, wie man ihn von Dokumenten des kirchlichen Lehramtes kennt: getragen, würdigend, hervorhebend. Das päpstliche Schreiben wird als „großes Geschenk“ bezeichnet, als Summe und Ertrag der beiden vorangegangenen Familiensynoden, als eine „überzeugende Einheit“ aus biblischer Botschaft, der kirchlichen Tradition und seelsorglichen Erfahrungen. Besonders empfehlen die Bischöfe das vierte Kapitel zur „Liebe in der Ehe“ und sie wissen, dass ihr Echo lediglich einzelne Aspekte eines reichhaltigen und noch nicht angemessen rezipierten Textes aufgreifen kann. Besonders widmen sie sich dann den Themen der Ehevorbereitung, der Ehebegleitung und der Familie als Lernort des Glaubens, bevor sie im letzten Teil auf die hoch umstrittenen Passagen des päpstlichen Schreibens zu sprechen kommen – dem Umgang mit Zerbrechlichkeit.
Wer setzt die vielen guten Absichten um?
Das Genre des Dokumentes macht es aus, einzelne Aussagen des Papstes zu betonen und zu unterstreichen. Die Ehevorbereitungspastoral, so die Bischöfe, bedarf einer Intensivierung und muss verbindlicher werden. Die Ehebegleitung, besonders die Entwicklung einer Familienspiritualität, aber auch die Würdigung konfessionsverschiedener Ehen soll „verstärkt“ werden. Es wird „hingewiesen“ auf die „besondere Bedeutung der Familie als Lernort des Glaubens“; das intergenerationelle Miteinander in religiösen Belangen wollen die Bischöfe „verstärkt seelsorglich begleiten“.
Solche Aussagen sind wichtig, sie sind gut und sie sind sensibel für die wirklichen Defizite und Notwendigkeiten von Familienpastoral. Aber bei aller Wertschätzung: Es bleibt doch ein schaler Nachgeschmack, wenn in einem Bischofswort zwar viele gute Absichten festgehalten werden, es aber – zwangsläufig – offen bleiben muss, was das denn konkret für die pastorale, beratende und seelsorgliche Arbeit vor Ort bedeutet. Eine Erklärung der deutschen Bischöfe zu solchen Fragen hat immer einen Pferdefuss: Das meiste von dem, was pastorale Fragen betrifft, liegt in der Gestaltungsverantwortung der einzelnen Ortsbischöfe. Zwar können Rahmenrichtlinien festgehalten werden, aber die Organisationshoheit liegt eben nicht beim Kollektivsubjekt „Deutsche Bischöfe“, sondern beim einzelnen Ortsbischof. Und erst auf diözesaner Ebene stellt sich heraus, wie ernst die Vorsätze wirklich genommen werden. Man vermisst die andere Seite der Medaille: konkrete Pläne von Seelsorgeämtern, katholischen Bildungsträgern und Pfarrgemeinden, um aus den Absichten erfahrbare Wirklichkeit für die Menschen werden zu lassen.
Interpretatorische Geradlinigkeit
Diesem eher noch schwachen Anlauf des Dokuments folgen Passagen zum „Umgang mit Zerbrechlichkeit“. Hier erfüllt das Bischofswort eine für die innerkirchliche Verständigung, aber auch für die Darstellung des kirchlichen Standpunkts nach außen wichtige Funktion – die Aufgabe, in einer strittigen Frage klärend Stellung zu beziehen. Und hier erlebt man eine interpretatorische Geradlinigkeit, die man angesichts des zu erwartenden Gegenwindes sicher als mutig bezeichnen kann.
Im Blick sind jene Lebenssituationen, die in früheren Dokumenten noch als „irreguläre (Lebens-) Situationen“ bezeichnet wurden. Als besonders drängend wurde dabei die Frage nach dem Sakramentenzugang (insbesondere: der Zulassung zur Eucharistie) von wiederverheirateten Geschiedenen empfunden. Seit langem ringt die Kirche hier mit einer Haltung, die sowohl ihrer Lehre wie auch der Lebenswirklichkeit der Menschen gerecht wird.
„Wenn etwas ein Glaubensgut ist, was heißt das denn konkret?“
Das Bischofswort betont zunächst, dass die Unauflöslichkeit der Ehe zum Glaubensgut der Kirche gehört und dass Amoris laetitia daran auch gar keinen Zweifel lässt. Eine, wenn nicht die entscheidende Frage lautet nun aber: Was bedeutet das konkret, welchen „Status“ hat ein solches Glaubensgut als Handlungsorientierung in Pastoral und Seelsorge? Ist es als unaufgebbares Gut des christlichen Glaubens zugleich ein jederzeit und überall wirksames Handlungsgesetz? Oder bedarf es der konkretisierenden, anwendenden Auslegung und damit der „Übersetzung“ in konkrete, pastoral wirksame Handlungsprinzipien? Die Norm bliebe als Norm unberührt, aber sie müsste in einem Prozess der „Begegnung“ mit realer Lebenswirklichkeit ausgelegt und interpretiert werden.
Nicht über ein Gewissensurteil richten, sondern es ermöglichen
Unter dem Stichwort des „Unterscheidens“ (discernere/discretio) hat der Papst im achten Kapitel seines Schreibens einen Weg aufgezeigt und entfaltet, wie er sich diesen Prozess einer Normauslegung und –anwendung vorstellt. Der zentrale Punkt für ihn ist: Die kirchliche Lehre (z.B. von der Unauflöslichkeit der Ehe) hält zwar gültige und nicht widerrufbare normative Prinzipien fest, aber die Normen dieser Lehre sagen selbst noch nicht, wie damit in jeder einzelnen möglichen Situation, in die Menschen geraten und dann mit dem Prinzip in Konflikt geraten können, umzugehen ist. Es bedarf deshalb einer geistlichen Unterscheidung, die dem einzelnen Menschen in seinem Gewissen die Orientierung darüber ermöglicht, ob für ihn der erneute Sakramentenempfang der richtige Weg in seiner Beziehung zu Gott sein kann. Letztlich, das hat der Papst in seinem Schreiben an die argentinischen Bischöfe vom September 2016 betont, kann am Ende einer solchen Unterscheidung das Urteil stehen, dass dies möglich ist. Entscheidend ist: Die Kirche hat dieses Urteil dann nicht ihrerseits nochmals zu bewerten. Ihre Aufgabe besteht darin, den Weg, auf dem es zustande kommt, möglichst gut und hilfreich zu gestalten.
Jenseits von Laxismus und Rigorismus: der dritte Weg von Amoris laetitia
Dem Papst war diese Position schier „um die Ohren geflogen“: Zu situationistisch sei sie, von der Lehrtradition abweichend, Spiegel des zeitgenössischen Relativismus und Individualismus – so und ähnlich lauten die Vorwürfe. Die Bischöfe urteilen nun: Nein, nicht Ausdruck eines Wegduckens und einer Unentschiedenheit ist das Schreiben des Papstes, sondern ein theologisch und seelsorglich gerechtfertigter Weg, um eine falsche Alternative – Laxismus oder Rigorismus, individuelle Beliebigkeit oder lehramtliche Vorschriftsmoral – zu vermeiden.
Der „kategorische und irreversible Ausschluss von den Sakramenten“, so die Bischöfe, dürfe nicht das letzte Wort der Kirche sein, solange der Kontext des betreffenden Einzelschicksals nicht berücksichtigt worden sei. Und dann könne es eben auch zum gegenteiligen Urteil kommen: dass der sakramentale Weg der richtige ist, wenn die Unterscheidung zum Ergebnis kommt, dass in einer besonderen Situation keine schwere Schuld vorliegt.
Schnörkellos, geradlinig und mit ausreichender Deutlichkeit werden die dafür entscheidenden Textstellen aus Amoris laetitia benannt, nämlich die beiden Fußnoten 336 und 351: Das Resultat der geforderten geistlich-moralischen Unterscheidung habe auch Auswirkungen auf den Bereich der Sakramentenordnung (336). Außerdem gebe es Situationen, in denen zwar objektive Schuldhaftigkeit vorliegt, aber die Kontextbedingungen („Bedingtheiten“, AL 301) es verbieten, von subjektiver Schuld zu sprechen. Hier habe die Kirche kein Recht, über eine restriktive Sakramentenspendung moralpädagogischen Einfluss auszuüben, denn die Sakramente sind „keine Belohnung für die Vollkommenen, sondern Heilsmittel für die Schwachen“ (351).
„Unter diesen Bedingungen ist der erneute Sakramentenempfang möglich.“
(Die Deutschen Bischöfe)
Die Bischöfe erkennen die Qualität einer sakramenten- und moraltheologischen Hermeneutik, die in solchen Akzentsetzungen liegt, und machen sie in einer Weise stark, die dem Geist und der inneren Logik von Amoris laetitia entspricht. Sie formulieren die Schlussfolgerung ihrer Überlegungen und räumen damit Zweifel an den konkreten Konsequenzen des Papstwortes beiseite: „Amoris laetitia geht von einem Prozess der Entscheidungsfindung aus, der von einem Seelsorger begleitet wird. Unter der Voraussetzung dieses Entscheidungsprozesses, in dem das Gewissen aller Beteiligten in höchstem Maß gefordert ist, eröffnet Amoris laetitia die Möglichkeit, die Sakramente der Versöhnung und der Eucharistie zu empfangen.“ (S. 6)
Richtungsanzeige für die weitere Rezeption
Das Papier ist wichtig, weil damit eine der großen europäischen Bischofskonferenzen in einer kontrovers und zum Teil mit unlauteren intellektuellen Mitteln geführten Debatte einen wichtigen Impuls gibt, wie das Papstschreiben interpretiert und rezipiert werden sollte. Dass dies auch in ganz anderer Richtung möglich ist, zeigt eine just erschienene „Auslegungshilfe“ des scheidenden Churer Bischofs Vitus Huonder (Text hier), der seinen Priestern einen engen, limitierenden Kurs in der Sakramentenspendung vorgibt, damit die kanonische Rechtssicherheit zum Hauptkriterium erhebt und diese restriktive Haltung ebenfalls aus der päpstlichen Aufforderung ableitet, nach Lösungen „vor Ort“ zu suchen.
Bei aufmerksamer Lektüre von Amoris laetitia besteht kein Zweifel, dass die Auslegung der deutschen Bischöfe näher an Sinn und Absicht des Papstwortes liegt als die beinahe schon verschlagen zu nennende Argumentation des Churer Oberhirten. Dessen Papier nimmt eine postmodern-eklektizistische Lektüre des Papstwortes vor. Die von Franziskus entwickelte Dialektik zur Frage, wie sich menschliches Handeln und vorgegebene Norm zueinander verhalten (Nr. 304), aber auch sein kluger und wichtiger Verweis auf Thomas und dessen Präferenz für das praktische Klugheitsurteil gegenüber dem Wissen um das normative Grundsatzurteil werden von Huonder ignoriert. Diese Überlegungen machen es aber erforderlich, neu darüber nachzudenken, wie die Kirche dem, was sie als das Gesetz Gottes erkannt hat, unter den Bedingungen ihrer Zeit konkret Gestalt geben kann. [1]
Die vom Papst geforderte Kontextsensibilität bezieht sich eben vor allem darauf, wie das moralisch-geistliche Urteil in der Sache zustande kommt. Bischof Huonder kommt gar nicht erst so weit, weil er sich durch die Aufforderung des Papstes zu je konkreten Lösungen und Wegen „vor Ort“ zu solcher Abkürzung ermächtigt fühlt. Es ist ein lokaler episkopaler Dezisionismus, der bei solcher Lektüre herauskommt. Den hat der Papst sicher nicht gemeint, wenn er von den Entscheidungen „vor Ort“ sprach.
„Der Text ist kein Kompromisspapier, bei dem am Ende alles offen bleibt.“
Vor solchem kirchenpolitischen Kolorit wird der Schritt, den das deutsche Bischofswort darstellt, noch einmal sichtbar. Zwar bleibt einiges noch zu vertiefen, besonders die Frage, wie denn Seelsorger (und auch von den Seelsorgerinnen müsste man doch wohl reden) die geforderte Begleitung qualifiziert und verantwortungsvoll wahrnehmen können. Es wird „Umsetzungsrichtlinien“ geben müssen und dann werden sich auch noch einmal Differenzen zwischen einzelnen Bistümern und Bischöfen auftun, die eine erneute Abstimmung auf übergeordneter Ebene erforderlich machen. Hinter dieses Wort mit seinen klaren Grundaussagen aber wird man nicht mehr zurückkommen.
Deshalb kann man ganz entschieden festhalten: Der Text ist kein Kompromisspapier, mit dem um den heißen Brei herumgeredet wird. Er zeigt ein mutiges Zugehen auf eine noch unbeschriebene, offene pastorale Situation.
[1] Das so oft bemühte natürliche Sittengesetz, eine aus der Naturordnung bezogene, durch die Offenbarung noch einmal untermauerte Naturrechtsmoral bildet nicht eine positivierbare Gesetzesnorm, sondern sie ist eine „objektive Inspirationsquelle“ (also keine direkt in Normen und Befehle übersetzbare Größe) für die subjektiv beheimatete Gewissensentscheidung (AL, 305), die aber immer noch vorgenommen werden muss. Gerade im Blick auf die Ehe und die Stellung, die wir ihr geben, nimmt der Papst diese Akzentsetzung vor.
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Der Moraltheologe Daniel Bogner lehrt an der Universität Fribourg/Schweiz. Er ist Mitglied der Redaktion von Feinschwarz. Bild: Albrecht E. Arnold / pixelio.de