Der vielfach ausgezeichnete Film Borga von York-Fabian Raabe erzählt beeindruckend facettenreich eine Fluchtgeschichte, ohne die Flucht zu zeigen und ohne zu moralisieren. Melanie Wurst hat ihn sich angesehen.
Gerade komme ich von einer Kundgebung. Vor dem Abschiebeknast in Darmstadt haben wir gegen die menschenverachtende Abschiebepolitik protestiert. Dort sitzen Menschen ein, jede*r mit der eigenen Lebensgeschichte, den eigenen Fluchtgründen, dem Verwobensein mit Menschen hier. Das Einzige, was ihnen zum Verhängnis wurde, ist die Migration. Dabei ist Flucht kein Verbrechen. Das gilt, auch wenn wir uns durch die europäische Abschottungspolitik an etwas anderes gewöhnt haben. Wenn dieser Text erscheint, werden viele von ihnen wahrscheinlich schon abgeschoben sein.
gefangen in einem Netz aus Erwartungen, Abhängigkeiten, Illegalität.
Die Verquickungen, in denen sich so viele Fluchtgeschichten und Biographien abspielen, spiegeln sich in Borga faszinierend in der Hauptfigur wider: Kojo, sympathisch und hoffnungsvoll, von Ghana nach Deutschland migriert. Er kann nie ganz er selbst sein, sondern muss immerfort Rollen spielen und kann vieles einfach nicht sagen, obwohl es in manchen Momenten gut und richtig wäre. Er ist gefangen in einem Netz aus Erwartungen, Abhängigkeiten, Illegalität. Hinzu kommt der Druck seiner Familie, die Verantwortung ihr gegenüber, die daraus erwachsenden Konflikte mit seinem Bruder, die Sorge um seinen Neffen, die Beziehung zu Lina, die Verantwortung in seinem Business, die Ruchlosigkeit seiner Geschäftspartner, der Drogenhandel. Dem Regisseur York-Fabian Raabe gelingt es, diese Facetten spannungsreich und sehr nah an den Figuren zu zeichnen. Dazu trägt nicht zuletzt die schauspielerische Leistung des Protagonisten Eugene Boateng bei.
„Was ist mit mir?“
In zehn Episoden wird einfühlsam das Leben von Kojo erzählt. Die erste Szene zeigt ihn als Kind mit Freunden auf der Müllhalde in Accra, Ghana. Sie verbrennen Kabel. Sein älterer Bruder Kofi sucht ihn, weil er eigentlich in der Schule sein sollte. Als sein Vater ihn zur Rede stellt und fragt, warum er das mache, antwortet er: „Ich wollte eine Cola kaufen.“ Der Vater fragt: „Was siehst du hier?“ Kojo: „Unser Viertel.“ Vater: „Ich sehe lauter Verlierer.“ Die Benachteiligung des Zweitgeborenen wird in den Eingangsszenen deutlich: der ältere Kofi bekommt Geld zugesteckt vom Chief, der jüngere Kojo muss Bier holen. Er fragt: „Was ist mit mir?“ In den nachfolgenden Szenen wird bei aller Zuneigung die bestehende Ordnung und Ungerechtigkeit gegenüber Kojo nicht in Frage gestellt.
Borga – die, die es geschafft haben
Er sitzt mit Freunden am Wasser. Nebenan findet eine Strandparty statt. Die Kids versuchen, Bierfässer zu klauen, werden erwischt und dem fein gekleideten Gastgeber gegenüber gestellt: „Überlass die Ratten mir, Borga!“ Borga, so werden in Ghana Menschen genannt, die nach Europa bzw. Deutschland geflohen sind und es dort zu vermeintlichem Reichtum gebracht haben – Hamburger, Hamburga, Borga.
„Wie kann ich so werden wie du?“ fragt Kojo den Borga.
„Get rich or die trying“
2. Episode: Kojo als Jugendlicher. Der Traum von Reichtum ist präsent und wird auch in der ironischen Unterhaltung mit seinem Freund Nabil während der Arbeit deutlich. Auf die Frage „Wie geht’s?“ antwortet Nabil: „Der Ferrari ist in der Garage, der Bruder im Penthouse und meine Freundin geht shoppen mit der Kreditkarte.“
Sein Vater sieht die Freundschaft nicht gern. Kojo begehrt auf, zeigt auf seine Arbeit mit dem Metall und fragt: „Dafür bin ich zur Schule gegangen? Warum gibst du mir keine Chance? Hast du Angst, dass ich erfolgreicher werde als ihr?“
Lagos, Marokko, Deutschland – heute Nacht!
Anstatt in die Kirche geht Kojo tags darauf zu Nabil. Nach einem kurzen Geplänkel zeigt dieser ihm unvermittelt Fahrkarten. „Wir fahren von Abossey-Okia nach Lagos und von Lagos nach Marokko. Dann Deutschland. Heute Nacht.“ Ziel ist der Borga-Onkel von Nabil. Im Hintergrund ein Grafitto an der Wand: „Get rich or die trying.“
„Was ist dein Ding?“
3. Episode: Kojo erwacht zwischen Containern in „Mannheim, Germany“. Die nächsten Szenen sind geprägt von Unsicherheit, Enttäuschung, weil der Onkel nichts hat und nichts wissen will, und den Versuchen, irgendwie anzudocken. Er arbeitet für einen aus der ghanaischen Community. „Was ist dein Ding? Warum reißt du dir so den Arsch auf?“ wird Kojo gefragt. „Ich will etwas erreichen.“ „Du willst ein Borga werden.“ „Ich will meiner Familie aus der Armut helfen.“ „Und du glaubst, dafür danken sie dir?“ „Das ist mir egal.“
Ein eigenes Business
Kojos Ausbruch: „Du willst wissen, was mein Ding ist? Ich starte mein eigenes Business. Und ich werde mehr verdienen als ihr.“ Er geht in eine Bar, wo er Lina, eine Rettungssanitäterin, kennenlernt. Er stellt sich als Curtis Jackson aus New York vor, aber Lina durchschaut ihn. „Wie oft funktioniert das?“ fragt sie. „Ich weiß nicht. Ist mein erstes Mal.“ „Warum?“ „Es ist einfacher, ein Amerikaner als ein Afrikaner zu sein.“ „Woher weißt du das?“ „Ich habe es gelernt.“
Sein Chef erwischt ihn dabei, wie er den Anzug, den er sich ungefragt geliehen hat, zurückhängen will. Im Hintergrund hängt eine Madonna an der Wand. Kojo will es schaffen. Er sagt, dass er alles mache, aber eine Perspektive brauche. „Wirklich alles?“ will sein Chef wissen. „Alles.“
In welchen Unsicherheiten müssen Menschen in Deutschland leben?!
Faszinierend ist, wie distanziert und doch nah Szenen aus dem Leben der Community eingespielt werden. Im Afroshop essend sagt der Onkel zu Kojo: „Was machen wir hier eigentlich? 20 Jahre und ich schmecke immer noch den Unterschied zu Zuhause.“ „Du warst 20 Jahre nicht zuhause?“ „Vergiss es! Hol mir ein Bier!“ Und dabei leuchtet immer im Hintergrund die Frage nach der Gerechtigkeit und auch der Absurdität des Migrationssystems auf: Wer darf reisen? Wer hat Papiere? In welchen Unsicherheiten müssen Menschen leben in diesem reichen Deutschland?
„Es ist soweit. Nächste Woche bist du in Accra.“ eröffnet Kojos Chef. Dann beginnt sein Leben als Borga.
Borga
Inszeniert als Borga geht Kojo im feinen Anzug durch sein Viertel und begegnet seinem Neffen, der begeistert zusammenfasst: „Du hast es geschafft.“ Sein Bruder Kofi hingegen: „Du wolltest zeigen, dass du es geschafft hast und wir nicht. So war es schon immer … Du bist abgehauen und ich bin hier geblieben. Der, der bleibt, muss die Toten begraben.“
Die vielen Brüche, die Konflikte, die unausgesprochenen Kränkungen, die Erwartungen, die Machtverhältnisse und die Träume werden ausbuchstabiert oder angerissen, aber nie platt zur Schau gestellt. Diese deutsch-ghanaische(n) Geschichte(n) lassen erahnen, wie viel mehr sich in einem Leben verwirklichen ließe oder wie viel mehr Leben möglich wäre, wären da nicht die ungerechten Verhältnisse, in die manche von uns zufällig hineingeboren werden. Dem Film gelingt es, all das auf Augenhöhe, niemals von oben herab zu thematisieren.
Mein Fazit: unbedingt sehenswert!
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Autorin: Melanie Wurst lebt und arbeitet als Theologin in Frankfurt am Main.
Der Film: https://borga-themovie.com/
Kinostart: September 2021