Mitspielen mit den Mächtigen, um diese zu übertölpeln? Veronika Bachmann zieht Parallelen zwischen dem Umgang mit Macht im Esterbuch und in der heutigen Politik.
Der Inhalt des Esterbuches ist Christinnen und Christen in der Regel nicht sehr präsent. Erstaunlich klar sind dagegen oft die Vorurteile. Irgendwie weiß man, dass Gewalt eine Rolle spielt. Es mag damit zusammenhängen, dass die meisten Übersetzungen den hebräischen Ausdruck jehudim mit „Juden“ wiedergeben, dass es verlockend ist, dieses Buch inklusive Gewaltproblematik als jüdisch und nicht als christlich zu begreifen und so das Unschöne von sich fernzuhalten.
unschöne Themen
Antijudaismus lässt grüßen, was im Fall des Esterbuches nicht nur stoßend, sondern besonders absurd ist, geht es inhaltlich doch gerade um kollektive Verleumdung, das Verdrehen von Tatsachen und die unheilvollen Konsequenzen solchen Tuns. Tatsächlich sind dies unschöne Themen. Doch die Bibel – aus christlicher Perspektive das Alte wie auch das Neue Testament – zeigt gerne die Hölle, steckt gerne ihre Finger in die Wunden menschlicher Fehlbarkeiten, um Wege in paradiesischere Richtungen zu weisen.
Figurenkonstellation
Wenn überhaupt, ist vielen diejenige Esterbuchfassung vertraut, die in der Hebräischen Bibel erzählt wird.[1] Da tritt gleich zu Beginn der persische Großkönig auf, der sich macht- und prunkvoll inszeniert, umgeben von vielen königlichen Beratern und sonstigen Höflinge, auch zahlreichen Eunuchen. Als Hauptfiguren betreten die Bühne: der eitle Emporkömmling Haman, daneben Mordechai, der als Judäer am persischen Hof arbeitet und Haman in Rage bringt, weil er sich vor ihm nicht zu Boden wirft. Und dann natürlich die Königin Ester, Mordechais Cousine, die als Nachfolgerin der verstoßenen Waschti als Vorbild für alle Frauen im Reich die adrette, brave Königin zu sein hat. Der Konflikt zwischen Haman und Mordechai gipfelt in individueller und kollektiver Gefährdung: Nicht nur Mordechai allein soll am Pfahl landen, sondern sein ganzes Volk an einem ausgewählten Tag per königlichem Dekret ausgerottet werden.
Gott kommt in der hebräischen Fassung nicht explizit vor.
Gott kommt in der hebräischen Fassung nicht explizit vor. Da bleibt die Verantwortung für die Hölle ganz bei den Menschen, und auch für die Rettung ist menschlicher Einsatz gefordert. Das Schicksal (Gott?) hilft allerdings ein gutes Stück mit. Anders die griechische Fassung, von der die sogenannten Zusätze Eingang in die lateinischsprachige Bibel und damit in den christlich-katholischen Kanon gefunden haben. Da ist unverblümt von göttlichem Walten die Rede, man betet zu Gott, und bereits der Auftakt zum Buch unterstreicht die enge Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Mordechais seltsamer Traum hält die Hoffnung wach, dass der Notschrei Gerechter zu Gott bewirken kann, dass Licht und Sonne hervorbrechen.
Am Ort, wo Machtspiele gespielt werden
Das Esterbuch spielt am Ort menschlich-irdischer Machtkonzentration, nämlich am Hof des persischen Großkönigs. Erzählungen, die am Königshof spielen, waren bereits in persischer, aber vor allem dann in hellenistisch-römischer Zeit beliebt. Es sind Erzählungen, die es erlauben, auf kleinem Raum – die Handlung spielt größtenteils in den Palastgebäuden und -höfen – umso größere Machtgelüste und entsprechende Intrigen zu inszenieren.
Hoferzählungen waren unterhaltsame ‚Politthriller‘
Beim Regenten handelte es sich häufig um einen fremden König, sodass sich – etwa bei der hellenistischen Literatur über die Perser – zugleich eigene und fremde Regierungsformen kritisch reflektieren, oder – dies eine der biblischen Akzentsetzungen – das Verhältnis dieses Weltenherrschers zur eigentlichen, wahrhaftigen Macht thematisieren ließen. Hoferzählungen waren unterhaltsame „Politthriller“. Nicht zufällig lassen sie an Filmserien wie House of Cards oder Borgen denken.
Frauen am Hof
Im Vergleich zu anderen antiken Hoferzählungen ist es außergewöhnlich, dass mit Ester, aber auch mit Seresch (griechisch: Zosora), der Frau von Haman, Frauen mit Namen in Sprechrollen auftreten. Damit besteht das Esterbuch – auch für biblische Texte eine Rarität – schon fast den berühmten Bechdel-Test, der mit drei Testfragen die Stereotypisierung von Frauenrollen im Film in den Fokus nimmt: Tritt mehr als eine Frau auf? Sprechen die auftretenden Frauen miteinander? Reden sie dabei über etwas anderes als über einen Mann?
Bechdel-Test
Leider lässt das Buch die beiden nicht direkt miteinander sprechen. Ester bleibt abgekapselt in ihren Palastgemächern. Allerdings entpuppen sich in diesem Fall gerade die Bechdel-Test-Defizite als aussagekräftig: Waschti hat keine Stimme, da der König lieber auf die Situationsanalyse seiner „Weisen“ zählt als auf ihre Sicht, nachdem sie seiner Aufforderung nicht gefolgt ist, beim königlichen Zechfest aufzutreten. Ester muss den Weg zur Rettung ganz offensichtlich aus kompliziertester Warte aus beschreiten. Um Rettung zu erwirken, bleibt ihr, der Königin, bloß die Möglichkeit, mit wenig Bewegungsfreiheit bei der Verliebtheit des Königs in schöne Frauen und Wein, bei seiner Unfähigkeit, politische Geschäfte seriös zu führen, sowie bei Hamans Eitelkeit anzusetzen.
Seresch scheint die freiste Frau im Spiel zu sein. Fast schon in sibyllinischer Art heißt sie ihren Mann für Mordechai einen Pfahl errichten, an dem dann als böse Überraschung er selbst enden wird. Sie findet zwar als Beraterin Beachtung, verliert jedoch in der Folge Haus, Mann und Söhne. Ob der Verlust eines solchen Mannes für sie selbst Schicksalsschlag oder Rettung ist, lässt der Text wie bei der geschassten Waschti offen. Klar ist, dass die Estererzählung Machtfragen auch an die Geschlechterfrage koppelt. Letztere ist kein Nebenwiderspruch, sondern wesentlicher Teil der Frage, wie mit Macht umgegangen wird. Allerdings fehlt im Esterbuch diesbezüglich die positive Perspektive. Am Ende bleibt der König König, die Königin kann sich nach der Rettung ihres Volkes wieder in ihre Gemächer zurückziehen, und in der Öffentlichkeit glänzt Mordechai als Held.[2] Immerhin hat Ester dem biblischen Buch den Namen gegeben.
Stimmungsmache
Während die hebräische Erzählfassung kunstvoll, aber eher salopp-ironisch weisheitliche Einsichten wie „Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ (z. B. Sprüche 26,27) oder „Hochmut kommt vor dem Fall“ (Spr 16,18) erzählerisch entfaltet, erhellt die griechische Erzählfassung[3] zusätzliche Dimensionen perfider Ränke, die sich mit Macht und Reichtum im Rücken schmieden lassen. Dies kommt z. B. in Kapitel 3 in den Blick. Hier wird thematisiert, wie es zum Ausrottungsedikt kommen konnte. Haman, so der Text, berichtet dem König, in seinem Reich gebe es ein Volk, das eigentümliche Gesetze habe und nicht die königlichen Gesetze befolge. Wenn es dem König gefalle, sei dieses Volk zu vernichten. Der König – dümmlich, wie er im Esterbuch dargestellt wird – kommt weder auf die Idee, sich Auskunft geben zu lassen, um welches Volk es geht, noch lässt er das Gesagte überprüfen. Er übergibt Haman den königlichen Siegelring und lässt ihn freihändig ein königlich gesiegeltes Dekret verfassen. Anders als heutigen Regenten ist ihm nicht einmal das Signieren wichtig – dieses darf Haman übernehmen, der im griechischen Text nicht umsonst den Beinamen „Gernegroß“ trägt.
Sich selbst ins beste, die zu Verleumdenden ins schlechteste Licht setzen.
Während der hebräische Text direkt dazu übergeht, von den Eilboten zu erzählen, die das Edikt im Weltreich verbreiten, bleibt die griechische Fassung noch einen Moment beim Edikt stehen und gibt es im Wortlaut wieder. So bietet sie der Leserschaft Einblick, wie Haman sein böswilliges Anliegen, Mordechais Volk auszurotten, nicht nur dem König, sondern auch der Öffentlichkeit verkauft, wie er also „Stimmung macht“. Das simple, aber wirkungsvolle Rezept, bis heute beliebt und auf der Politbühne gar wieder salonfähig: Sich selbst ins beste, die zu Verleumdenden ins schlechteste Licht setzen. Von sich selbst behaupten, sich mit allen Kräften für das Gemeinwohl einzusetzen, von den anderen, dieses böswillig zu zerstören. Brauchte es zur Verbreitung einer solchen Botschaft damals ein aufwändiges Eilbotensystem, reicht heute ein Tweet.
Kein Punklied, aber …
In seinem Beitrag zur verbrannten Erde in Hamburg hat Gerrit Spallek auf widerständige Punksongs verwiesen, insbesondere auf den ZSK-Song „Und da gehen unsere Wege auseinander“. Das Esterbuch ist auf seine Weise widerständig, was Machtkonstellationen, Politgehabe, eine verzerrte Sicht aufs Gemeinwohl und die Gefahr von Volksverhetzung angeht. Es sind nicht die königlich-protzig inszenierten Partys, die der Bevölkerung nachhaltig dienen. Beim Dinieren auf dem Eiffelturm oder beim Besuch der Elbphilharmonie erleben die Mächtigsten der Mächtigen kaum die Realitäten, die sie bewegen müssten.
Was ein Haman lieben und was ihn unangenehm berühren würde, wäre vielleicht die Testfrage für die Organisation des Rahmenprogramms politischer Anlässe, ob es dabei um Lokal- oder um Weltpolitik geht. Umgekehrt nimmt das Esterbuch – wie das deuterokanonische Buch Judit – ernst, dass es manchmal vonnöten ist, die Spiele der Selbstgefälligen mitzuspielen und sie so zu übertölpeln. Dass dieser Weg, Gutes zu bewirken, eine heikle Gratwanderung bleibt, verschweigt keines dieser beiden Bücher. Während der von Spallek zitierte Punksong demgegenüber konsequente Abgrenzung einfordert, stimmen Lied und Bibeltext doch darin überein, dass nicht alles geht – eine zentrale Einsicht, auf der auch die Botschaft Jesu aufbaut. Daher zum Schluss dennoch der Versuch, die zitierte Songstrophe von Ester her zu formulieren:
Das ist euer Weltreich – und nicht meines!
Eure selbstgefälligen Seilschaften, damit ihr noch mehr Macht und Geld anhäuft.
Das ist eure Rhetorik – und nicht meine!
Angst- und Hassschürerei, mit der ihr euch als Retter inszeniert.
Das sind eure Zückerchen fürs Volk – ich spucke sie aus, sie schmecken sauer!
Heile Welt für Ausgewählte, alle anderen weggemacht.
Das ist mein Leben – und ich hab keine Lust darauf, dass ihr es definiert!
Rettet euch vor euch selbst! Seht euch an!
Rettet euch vor euch selbst, denn diese Welt gehört mir ebenso!
Anmerkungen:
[1] Dies ist die Fassung, die sich in allen evangelischen Bibelausgaben präsentiert findet. Die Einheitsübersetzung bietet einen Mischtext aus hebräischer Fassung und Passagen, die nur in der griechischen Septuagintafassung vorkommen.
[2] Eine literarische Weiterführung findet sich daher z. B. in Wyler, Bea: Esther. The Incomplete Emancipation of a Queen, in: Brenner, Athalya (Hg.), A Feminist Companion to Esther, Judith and Susanna (The Feminist Companion to the Bible 7), Sheffield 1995, 111–135.
[3] In vollem Umfang ist die griechische (Lang-)Fassung z. B. in der Bibel in gerechter Sprache oder in der Septuaginta deutsch nachzulesen: de Troyer, Kristin/Wacker, Marie-Theres: Esther. Das Buch Ester, in: Karrer, Martin/Kraus, Wolfgang (Hg.): Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009, 593–618. Eine zweite griechische Erzählfassung, die auf Handschriften bezeugt ist, manchmal Kurzfassung oder Alpha-Text genannt, bleibt hier unberücksichtigt.
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Dr. Veronika Bachmann ist katholische Theologin, Bibelwissenschaftlerin und Dozentin am Religionspädagogischen Institut der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die antike Esterliteratur.
Beitragsbild und Fotos: Veronika Bachmann