Noch immer wird mit der Bibel gegen Homosexuelle gehetzt, obwohl es dafür keine Grundlage in den biblischen Texten gibt. Gegen diesen Missbrauch wehrt sich Thomas Hieke.
Das heutige Konzept von Homosexualität ist nicht auf antike Texte und damit auch die biblischen Passagen anwendbar.[1] Homosexualität als Ausdruck einer nicht frei gewählten, sondern entdeckten sexuellen Orientierung ist in dieser Begrifflichkeit ein neuzeitliches Konzept. Den Begriff unkritisch für Texte aus der Antike zu verwenden, ist anachronistisch und wird weder der heutigen Debatte noch den biblischen Texten gerecht.
Das argumentum e silentio
In der antiken griechischen Kultur gibt es hohe Wertschätzungen homosexueller Beziehungen. Solche Wertschätzungen fehlen in der biblischen Weisheitsliteratur, obwohl sich diese durchaus mit hellenistischer Lebensweise befasst (v.a. das Buch Jesus Sirach und die Weisheit Salomos). Aus diesem Fehlen aber kann nicht geschlossen werden, dass die Bibel insgesamt einen ausschließlich „heteronormativen Rahmen“ (445) vertrete. Das wäre ein argumentum e silentio. Auch der Rat Kohelets, das Leben mit einer Frau, „die du liebst“, zu genießen (Koh 9,7–10), schließt per se gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht aus. Vielleicht waren gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht interessant genug für die jeweiligen Verfassenden, vielleicht erschienen ihnen die Konflikte um heterosexuelle Beziehungen wichtiger. Bei Kohelet wäre auch der Spruch „zwei sind besser als einer allein“ (Koh 4,9–11) zu nennen. Warum sollen diese Worte ausschließlich auf einen Mann und eine Frau, also „heteronormativ“, zu deuten sein?[2] Dass das „Konzept von Homosexualität als einer (auf Dauer angelegten) Geschlechtsgemeinschaft nicht in die jüdische Denkform integrierbar war“ (445), ist ein angreifbarer Satz: Das Konzept von Homosexualität war als solches nicht begrifflich explizit; was „die jüdische Denkform“ ist, müsste noch erläutert werden. Damit ist aber unklar, was hier worin nicht integrierbar war.
Lev 18,22 und „Homosexualität“
„Und bei einem Mann sollst du nicht liegen, wie man bei einer Frau liegt. Es wäre ein Gräuel“ (Lev 18,22). Der Hauptpunkt meiner Argumentation zu dieser „Hammer-Stelle“ besteht darin, dass deren Kontext auf die Hervorbringung von Nachkommen in der rechten sozialen Ordnung abzielt (Lev 18,19–23). Man darf dabei das Verbot des Beischlafs mit einer menstruierenden Frau nicht weglassen. Damit eröffnet nämlich der Abschnitt und zeigt so dessen Thema: Es werden Praktiken geächtet, die keine Nachkommen für die eigene Gemeinschaft hervorbringen (Menstruation, Kinderopfer bzw. Übergabe der Kinder an die Besatzungsmacht, Verkehr eines Mannes mit einem Mann bzw. eines Mannes oder einer Frau mit einem Tier) oder die zu Nachkommen in Konfliktsituationen (Verkehr mit der Frau des Mitbürgers: Erbstreitigkeiten!) führen. Die besondere Minderheitensituation der kleinen perserzeitlichen jüdischen Gemeinschaft in Jerusalem erforderte solche Vorschriften. Es ist eine wichtige Aufgabe der Exegese, die Texte der Bibel in ihrer geschichtlichen Entstehung zu verstehen. Daraus erst ergibt sich ihr eigentlicher Impuls für die Gegenwart.
Schöpfungstheologie: Was der Text sagt und was nicht
Ein schöpfungstheologischer Ansatz, der die Zweigeschlechtlichkeit von Gen 1,1–2,3 als „Binarität“ deutet, verstellt eine mögliche Sinndimension dieses Textes. Wenn Gen 1,27 sagt, dass Gott die Menschen „männlich und weiblich“ erschuf, dann bedeutet dieser Plural nicht zwingend, dass es jetzt um Mann und Frau geht (465). Diese Eindeutigkeit gibt der Text nicht her. „Männlich und weiblich“ ist nicht identisch mit einem binären „Mann und Frau“. Die Stelle kann vielmehr als Bipolarität im Sinne der Merismen von Gen 1 gedeutet werden: Zwischen Licht und Dunkel gibt es die Dämmerung und zwischen Meer und Land das Wattenmeer. So gibt es auch ein Spektrum zwischen eindeutig „Mann“ und eindeutig „Frau“. Wenn man in kanonischer Leserichtung Gen 2,4–25 als Ausfaltung des vorausgehenden Textes liest, kann die Erschaffung des Menschen und die aus einem Teil dieses Menschen gebaute Frau als eine besondere Entfaltung der bipolaren Erschaffung des Menschen als männlich und weiblich aufgefasst werden. Das Menschenpaar aus Mann und Frau ist die häufigste Ausprägung menschlicher Zweisamkeit. Daraus folgt keine „Heteronormativität“. Wenn die jüdische und christliche Tradition in diesen Erzählungen die Stiftung und Sanktion der Ehe grundgelegt sehen, ist dagegen nichts einzuwenden. Das Problem entsteht dann, wenn gegen den Text und über den Text hinaus behauptet wird, etwas Anderes (etwa eine homosexuelle Orientierung oder eine nicht eindeutig männlich oder weibliche sexuelle Identität) sei völlig ausgeschlossen und gegen den Willen Gottes. Eine solche Deutung, und mag sie noch so oft in der jüdischen und christlichen Tradition vorkommen, liest etwas in den Text hinein, was dieser nicht hergibt.
Wie Schöpfungstheologie gut funktionieren kann
In der Debatte um Homosexualität und Bibel, Bibel und sexuelle Identität kann man mit den Begriffen „Schöpfung“, „Schöpfungstheologie“ und „Schöpfungsordnung“ arbeiten und bibeltheologische Lösungen anbieten. Nimmt man mit der Bibel ernst, dass Gott die Welt geschaffen hat, dann ist alles, was der Mensch auf dieser Welt entdeckt und was sich nicht eindeutig auf eine böswillige Entscheidung oder Zerstörung des Menschen zurückführen lässt, Gottes Schöpfung. Wenn also die Humanwissenschaft feststellt, dass menschliche Sexualität (ähnlich der im Tierreich) reicher ist als das Binär-Paar Mann und Frau, dass sie zu mehr dient als zur Produktion von Nachkommen, dass es überwiegend eindeutig männliche und weibliche Wesen gibt, aber auch Menschen, die nicht eindeutig diesen beiden Polen zuzuordnen sind, wenn sie darüber hinaus entdeckt, dass es neben der heterosexuellen Mehrheit manche Menschen ihre Erfüllung in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung finden, ohne dass sie sich dafür bewusst entschieden haben, dann hat die Humanwissenschaft ein weiteres Stück von Gottes Schöpfung aufgedeckt. Schöpfungstheologie heißt, die Erkenntnisse der Humanwissenschaft in die Lehre davon, dass Gott die Welt geschaffen hat, zu integrieren. Das Ganze funktioniert nicht, wenn man in ideologischer Engführung diese Einsichten ausblendet und (gegen alle wissenschaftliche Wahrscheinlichkeit) die sexuelle Orientierung dem freien Willen des Menschen zuschreibt. Die biblischen Texte sprechen darüber bezeichnenderweise nicht, und diese Offenheit sollte zu denken geben.
Schöpfungstheologie wandelt sich und wächst
Eine Schöpfungstheologie, die aus dem Betrachten von Gottes Schöpfung eine Ordnung ableiten will, muss veränderlich sein – weil die menschliche Erkenntnis sich wandelt und wächst. Je mehr der Mensch über die Welt und sich selbst herausfindet, umso mehr erkennt er von Gottes Schöpfung. Die Rede von der Schöpfungsordnung ist ein Geschöpf der Menschen, eine wandelbare Deutung dieser Welt.[3] Die Ablehnung des Konzepts Homosexualität mit Verweis auf eine unveränderbare Schöpfungsordnung, die unabhängig vom Menschen von Gott festgelegt sei, ist in dreifacher Hinsicht eine menschliche Kompetenzüberschreitung: Erstens wird somit ein bestimmter Punkt in der Geschichte, in der diese Deutung plausibel erschien, verabsolutiert. Zweitens wird damit die menschliche Erkenntnisfähigkeit überschätzt: Es würde so behauptet, der Mensch habe Gottes Schöpfung bereits zur Gänze erkannt und durchschaut, und alles, was danach noch von den Wissenschaften erkannt wird, sei, wenn es dazu nicht passt, von Übel. Drittens wird damit Gottes Souveränität eingeschränkt: Es bleibt immer noch Gott überlassen, wie Gott die Welt und den Menschen gestaltet, und wieviel davon Gott wann dem Menschen offenbart. Gute Schöpfungstheologie integriert Erkenntnisse der Human- und Sozialwissenschaften in ihre Sicht vom Menschen und entwickelt die Vorstellung von einer Schöpfungsordnung dynamisch weiter. Nur so sind die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen vor dem Zugriff durch totalitäre Partikularinteressen gesichert – und die Offenheit und Zukunftsfähigkeit des biblischen Textes, der Gottes Wort für alle Zeiten ist, gerettet.
[1] Zur heute begegnenden Hassrede gegen homosexuelle Menschen vgl. z.B. die juristische Auseinandersetzung um den Bremer Pastor Olaf Latzel auf katholisch.de. Zu den alttestamentlichen Stellen vgl. Thomas Hieke, Kennt und verurteilt das Alte Testament Homosexualität?, in: Stephan Goertz (Hg.), „Wer bin ich, ihn zu verurteilen?“ Homosexualität und katholische Kirche (Katholizismus im Umbruch 3), Freiburg i.Br.: Herder, 2015, 19-52. S. auch https://blog.thomashieke.de/blog/bibel-und-homosexualitat/ (AT und NT). Eine problematische Gegenposition entfaltet Ludger Schwienhorst-Schönberger, Ehe und Freundschaft unter dem Segen Gottes. Schriftauslegung im Lichte der Schöpfungstheologie, in: Jan-Heiner Tück; Magnus Striet (Hg.), Jesus Christus – Alpha und Omega. Für Helmut Hoping, Freiburg i.Br: Herder, 2021, 442–471. Auf den Artikel von Schwienhorst-Schönberger wird gelegentlich durch eine kursiv gesetzte Seitenangabe im Text verwiesen.
[2] Vgl. z.B. Karin Hügel, Eine queere Lesart von Kohelet 4,9-12, in: Scandinavian Journal of the Old Testament 28 (2014) 104–115.
[3] Eine unveränderliche, göttlich fixierte Schöpfungsordnung ist für den Menschen nicht in Gänze erkennbar, denn was der Mensch erkennen kann, ist immer bruchstückhaft und unvollkommen. Die erkannte Schöpfungsordnung ist somit unvollkommen und wächst mit der Erkenntnis des Menschen.
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Prof. Dr. Thomas Hieke lehrt Altes Testament an der Universität Mainz.
Bild: Oliver Mohr – pixelio.de