Die Skulptur Projekte in Münster brechen die ewige Wiederkehr des Gleichen nur selten auf, meint Claudia Gärtner.
Einmal wie Jesus über das Wasser gehen, das scheint in Münster in diesem Sommer möglich. Die Künstlerin Ayşe Erkmen lässt Besucher*innen der Skulpturen Projekte über eine Wasserfläche schreiten. Die Bilder dieses Werks erinnern zumindest christlich affine Betrachter*innen an Jesu Gang über das Wasser. Doch wagt man derzeit das feuchte Experiment, ist an ein Wunder kaum zu denken. Nahezu knietief laufen Menschengruppen über einen Unterwassersteg – eher kühler Sommerspaß für Groß und Klein als Anspielung an biblische Wunder.
Wunder thematisieren die Skulptur Projekte nicht, auch sind viele Werke nicht so stark politisch und gesellschaftskritisch aufgeladen wie auf der parallel stattfindenden documenta (vgl. Viera Pirker, Documenta 14 in Kassel – Theologische Sichtachsen am 3. Juli). Alle 10 Jahre lädt ein Kurator*innenteam um Kasper König, in diesem Jahr Marianne Wagner, Britta Peters, Künstler*innen nach Münster ein, die sich mit dem Stadtraum auseinandersetzen. Ein Thema wird nicht vorgegeben, viele Arbeiten kreisen jedoch diese Mal um Körper, Zeit und Raum angesichts von Digitalisierung und Globalisierung, ohne dabei zu einem umfassenden Oberthema zu werden.
Körper, Zeit und Raum angesichts von Digitalisierung und Globalisierung
Die künstlerischen Eingriffe sind weiträumig über die Stadt verteilt, der Begriff „Skulptur“ wird breit gedehnt. Auch Videos, Performances und Interventionen sind zu sehen, weshalb die Kurator*innen von Skulptur Projekten sprechen. Die räumliche Anlage der Ausstellung lädt zur entschleunigten Erkundung ein. Erreicht man – teils erst nach einigen Kilometern – ein Objekt, so verweilt man dort – einen schnellen, oberflächlichen Blick, wie bei enger Hängung im Museum, ermöglichen die Skulptur Projekte nicht. Mit dieser Haltung werden im Folgenden einige Werke erkundet, gleichsam eine Radtour mit theologischem Interesse, individuellem Verlauf und eigenem Tempo.
Orte des Glaubens?
Bereits bei einer ersten Orientierung überrascht, dass nur sehr wenige Künstler*innen religiös geprägte Orte aufsuchen, von denen es in Münster reichlich gibt. Stattdessen führt die Kunstroute zu Eissporthalle, Asia Shop, Tattoo Studio, Tiefgarage, Fernsehturm …
Nur Cerith Wyn Evans sucht für seine Intervention eine Kirche auf. Er installierte im Glockenturm von St. Stephanus ein Kühlaggregat, das die Temperatur der zweiten Glocke herabsetzt. Für das ungeschulte Ohr nicht hörbar, erklingt diese nun im höheren „Winterton“, während die anderen im „Sommerton“ schlagen – und dies nur viermal pro Tag. Die meisten Besucher*innen pilgern somit zu diesem Werk, ohne es sinnlich erschließen zu können. Allein das Wissen setzt die Imagination in Bewegung, versucht die Sinne zu sensibilisieren und neue Nuancen zu hören. Doch schnell tauchen Zweifel auf: Klingt die Glocke tatsächlich anders? Ist da wirklich ein Kühlaggregat – oder alles nur künstlerisches Spiel? Dieses Werk ist nichts für den zweifelnden Apostel Thomas, wie ein biblisch versierter Kommentator anmerkt.1 Denn schlussendlich können Besucher*innen dem Projekt nur mit Glauben etwas abgewinnen: keine Beweise, keine sinnlichen Hinweise auf die künstlerische Intervention. Das Kunsterleben entfaltet sich allein durch den Glauben an die unterschiedlichen Klänge. Dieser beflügelt die Imagination, das freie Spiel der Einbildungskraft.
Andere Projekte suchen keine derart religiösen Orte auf, thematisieren Religion nicht explizit. Dennoch lassen sich unterwegs durchaus weitere theologisch relevante Signaturen entdecken.
Orte der Vergemeinschaftung?
Gleich mehrere Arbeiten reagieren auf die Entgrenzung von Kommunikation und Öffentlichkeit durch Digitalisierung und Globalisierung. Sie schaffen neue Orte der Vergemeinschaftung, bringen Menschen in Echtzeit zusammen, eröffnen reale Räume jenseits des Digitalen und öffentliche Räume jenseits der Kommerzzonen.
So lässt Aram Bartholl täglich ein Lagerfeuer entzünden, in das die Besucher*innen thermoelektrische Generatoren an Stöcken halten müssen, die Strom erzeugen, der wiederum zum Aufladen von Smartphones verwendet wird. Ein bis drei Stunden dauert das Aufladen, das Zeit schafft für analoge Gespräche. Die Feuerstelle, archaischer Ort des gesellschaftlichen Lebens, wird so zur doppelten Energiequelle. Sie schafft Voraussetzung zur digitalen Kommunikation als auch zur direkten Begegnung. Zugleich entschleunigt Bartholl die Geschwindigkeit des Alltags. Wer hier sein Handy auftankt, braucht Zeit – und gewinnt diese dadurch.
Eine Feuerstelle als Versammlungsort steht auch bei „Burn the Formwork“ im Zentrum. In einem unwirtlichen Hafengebiet installiert Oscar Tuazon eine zylindrische Betonskulptur. Um eine hohe Säule, die Feuerstelle und Schornstein zugleich ist, führt eine spiralförmige Treppe, die als Sitzgelegenheit und als Ausguck dient.
Die Holzverschalung, die für den Guss der Betonteile benötigt wurde, ist das Feuermaterial. Die Skulptur setzt auf Partizipation – nicht nur der Ausstellungsbesucher*innen. Der Standort in Kanalnähe wird von unterschiedlichen Personen frequentiert und so zeigt die Skulptur schon nach wenigen Wochen deutliche Gebrauchsspuren: die Verschalung ist verfeuert, Graffitis und Brandspuren zeugen von reger Benutzung. Tuazon hat eine Art sozialer Plastik geschaffen, die als Treffpunkt, als Feuer- und Grillstelle Menschen zusammenführt und sie verortet, ihnen eine „Basisarchitektur“2 bietet, die zur Aneignung freigegeben ist.
Auch Nicole Eisenman schafft mit „Sketch for a Fountain“ einen Versammlungsort und greift ebenfalls einen tradierten Topos auf. An der Promenade realisiert sie einen Brunnen mit Gips- und Bronzefiguren. Brunnen sind seit Jahrtausenden Treffpunkte des sozialen und kultischen Lebens. Eisenmans Figuren sind monumental und zerbrechlich zugleich: die überlebensgroßen Gipsskulpturen altern und zerfallen während der Ausstellung, die Bronzeskulpturen hingegen wirken beständig und gewaltig. Allen Figuren ist jedoch etwas Unfertiges, Skizzenhaftes, teils Morbides (Pilz- und Schneckenbefall) zu Eigen. Sie sind nicht für die Ewigkeit, sondern für den Augenblick gemacht. Aus einigen Figuren plätschert Wasser und unterstreicht die entspannte Atmosphäre, die sich auch auf das Publikum ausbreitet – nicht selten picknicken Menschen in der Nähe. „Sketch for a Fountain“ ist ein temporärer Versammlungsort, der Menschen für kurze Zeit zusammenführt und dabei selbst dem baldigen Verfall preisgegeben ist.
Bereits 2007 initiierte Jeremy Deller sein Projekt mit Kleingärtnervereinen. Diese sollten über 10 Jahre hinweg Tagebuch über ihr Vereinsleben führen. Entstanden sind so ca. 30 Bände, die ein ganz eigenes soziales „Biotop“ dokumentieren, Einblicke geben in das Vereinsleben, das in seiner jahreszeitlichen Prägung und lokalen Verwurzelung gegenläufig zur Beschleunigung und Entgrenzung der Lebenswelten ist.
Vergemeinschaftung, Kommunikation, Verwurzelung – all dies sind zentrale Funktionen, die auch Religion zugeschrieben werden, ohne dass dieser in den Projekten eine Bedeutung zugemessen wird.
Orte der Unterbrechung?
Wie dem Alltag entkommen, dem ewigen Kreislauf der Dinge? Was ist das Ziel des stetigen Mühens? Justin Matherly wirft mit „Nietzsches Felsen“, einem Betonnachbau eines Felsens im Engadin, der Nietzsche zu seiner philosophischen Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen veranlasst haben soll, solche Fragen auf. Matherlys Fels ist brüchig, schwebt labil auf Gehhilfen, die die Massivität des „philosophischen Urgesteins“ untergraben. Während das christliche Zeitverständnis auf ein Weltenende, auf Erlösung zuläuft, ist „Nietzsches Felsen“ ein solches Ziel fremd.
Auch in anderen Skulptur Projekten scheint ein Entkommen aus dem zermürbenden Alltagsgetriebe kaum möglich. Mika Rottenberg zeigt in einem Asia Shop „Cosmic Generator“, ein Video, in dem Menschen durch Tunnel zwischen USA und Mexiko ihrem Land zu entkommen suchen. In surrealen Szenen, in denen offen bleibt, inwiefern es sich um reale oder mentale Fluchten handelt, landen die Fliehenden entweder auf dem Teller eines Chinarestaurants oder in einem baufälligem Keller mit Paradiesbrunnen. Durchbrochen werden diese Szenen von erschöpften Arbeiter*innen, die hinter chinesischen Plastikwaren nahezu verschwinden und deren einzige Regressionsmöglichkeit der Schlaf ist.
Benjamin de Burca und Barbara Wagner gehen fiktiv-dokumentarisch dem Phänomen des deutschen Schlager nach, der kleine Fluchten in eine Traumwelt ermöglicht, ohne jedoch Gesellschaft und Alltag in Frage zu stellen oder zu verändern. Ähnlich dokumentarisch mutet auch die Arbeit von Gregor Schneider an, der zwei spärlich eingerichtete Wohnungen gestaltet, die kreisförmig so ineinander übergehen, dass der Ausgang aus der einen in die identische zweite Wohnung führt. Auch hier scheint kein Entkommen möglich, irritiert die Monotonie, die Leere, die ohne Sinn und Ziel zu sein scheint.
Johann Baptist Metz beschreibt Religion als Unterbrechung, als Aufbrechens des Alltags, als Durchscheinen des Anderen. Von einer solchen Unterbrechung zeugen diese Werke gerade nicht, sondern betonen die wenig hoffnungsvolle Kontinuität des täglichen Schaffens.
Orte kultureller, historischer Vergewisserung?
Viele Skulptur Projekte setzen sich mit der Geschichte, der spezifischen Situation des Ortes auseinander. Sie ziehen historische, kulturelle und dabei teils auch religiös kodierte Linien in die Gegenwart. Wenn Hervé Youmbi seine „Himmlischen Masken“ auf einem alten Friedhof in die Nähe des Grabes des Generals von Schreckenstein in die Bäume hängt und dabei nicht nur afrikanische Motive, sondern auch Referenzen an den Horrorfilm „Scream“ sowie Edvard Munchs „Schrei“ mit einbezieht, dann spannen animistische und christliche Begräbniskultur, preußische und afrikanische Geschichte, Kunst- und Filmgeschichte ein dichtes Beziehungsnetz, das den Ort neu lesen lässt.
Ähnliche Linien zieht Lara Favaretto mit ihrem monolithischen Spenden-Stein. In optischer und ästhetischer Nähe zu einem umstrittenen Kolonialdenkmal und zu einer Ausländerbehörde errichtet sie ihre Granitskulptur, in der Spenden für Menschen in Abschiebehaftanstalt gesammelt werden. Nur durch die Zerstörung der Skulptur am Ende der Ausstellung kann dieses Geld seiner Bestimmung zugeführt werden.
Das Künstlerinnenduo Peleş Empire verwendet die künstlerische Strategie des Sampling und bezieht sich in ihrer Arbeit sowohl auf die nach dem Krieg rekonstruierten Münsteraner Giebelhäuser, auf die Fassade einer benachbarten Barockkirche sowie auf Prunk und Verfall eines rumänischen Königsschlosses. Das Sampling aus historischen Reminiszenzen, aus feudalen, kirchlichen und bürgerlichen Relikten erscheint auf den ersten Blick verlockend, entpuppt sich jedoch als Fassade mit billigen Reproduktionen, ist weitgehend funktions- und wertlos, nicht einmal vor dem Münsteraner Regen bietet es ausreichend Schutz.
Mit den hier – sehr subjektiv – herausgestellten Themenverdichtungen markieren die Skulptur Projekte gesellschaftlich und kulturell virulente Signaturen der Gegenwart. Sie weisen die Theologie darauf hin, dass Religion in diesen ästhetischen Settings bei Vergemeinschaftung, historisch-kultureller Vergewisserung oder Unterbrechung des Alltags kaum Bedeutung besitzt, obwohl es sich hierbei um zutiefst religiöse Topoi handelt. Eine Radtour durch die Skulptur Projekte kann somit auch als eine Erkundung drängender theologischer Arbeitsfelder betrachtet werden.
Die Skulptur Projekte sind noch bis zum 1. Oktober in Münster zu sehen.
Text: Prof. Dr. Claudia Gärtner, Universitätsprofessorin für Praktische Theologie TU Dortmund; Bilder: privat.