Es gibt eine schöne Anekdote über einen alternden Schauspieler, dem man seinen Text schon sehr häufig soufflieren musste. Eines Tages mühte sich der Souffleur wieder redlich ab, den Schauspieler an seinen Text zu erinnern, bis dieser plötzlich zum Souffleurkasten trat und ungeduldig rief: „Keine Details! – Welches Stück?“ Dieselbe Frage sollte allen Diskussionen über die biblische Fundiertheit kirchlicher Entscheidungen vorausgehen, meint Elisabeth Birnbaum
In der derzeitigen Diskussion rund um das Verbot der Segnung homosexueller Paare wird darüber verhandelt, ob eine solche Entscheidung auf der Basis der Bibel steht. Grundsätzlich ist es ja sehr erfreulich, dass die Bibel eine wichtige Rolle im Leben und Handeln der Kirche spielt, ist sie doch Zeugnis der Offenbarung Gottes (vgl. DV 11) – die Frage ist nur, in welchem Stück sie dabei spielt?
Ein abgesetztes „Stück“
Um sich dieser Frage zu nähern, hilft oftmals ein Blick in die Geschichte. Dort, aus wohltuender Distanz, lassen sich Aporien und Probleme ja häufig besser erkennen als aus der Nähe:
Es gab Zeiten in der Bibelauslegung, vor allem im 18./19. Jahrhundert, da hieß „das Stück“: „Die Bibel erzählt nur von geschichtlichen Ereignissen, und das korrekt.“ Die detailreichen Diskussionen verliefen unter dieser Prämisse. Hatte ein Bibeltext historisch „recht“, dann war alles gut, wenn nicht, lief er Gefahr seine Legitimation als heiliger Text zu verlieren.
Von daher versuchten katholische Exegeten mit allen Mitteln die Historizität von Schöpfung, Sintflut oder Exodus aufzuweisen. Sogar dort, wo selbst Bibelunkundige sofort sahen, dass die Zeit-, Ort- und Personenangaben nicht passten, z.B. beim Juditbuch, hielt man notgedrungen an der Prämisse fest. Gegen protestantische Vorwürfe des 18. Jh., das Juditbuch sei historisch nicht zuverlässig und habe daher nichts in der Bibel verloren, strengte man teils an den Haaren herbeigezogene Datierungsversuche an, die wiederum von ihren Kritikern zynisch kommentiert wurden. Seinen Höhepunkt hatte diese Entwicklung mit dem Exegeten Dom Augustin Calmet, der sich nur so zu helfen wusste, dass er Judit zum Zeitpunkt ihrer Tat 60 bis 65 Jahre alt sein ließ[1]. Dazu merkte Voltaire lapidar an: „C’est le bel âge pour tourner et pour couper les têtes“ („das ist das schönste Alter, um Köpfe zu verdrehen und abzuschlagen“).[2]
Die Bibel muss nicht mehr in jedem Detail historisch nachweisbar sein, um Bibel sein zu dürfen.
Nach Jahrhunderten zahlloser Verwerfungen und Aporien hat man dieses „Stück“ in der katholischen Kirche hinterfragt und abgesetzt. Die Bibel muss nicht mehr in jedem Detail historisch nachweisbar sein, um Bibel sein zu dürfen.
Details der heutigen Diskussion
Derzeit gibt es einige Anstrengungen, das Verbot der Segnung von Homosexuellen biblisch zu fundieren. Dabei beruft man sich u.a. auf Folgendes: 1) In der Bibel würden homosexuelle Akte nie gutgeheißen, sondern als „Gräuel“ bezeichnet. Sie würden als mutwillige Entscheidung gegen die göttlich gefügte Ordnung Kinder zu bekommen gesehen, also sei Homosexualität Sünde. 2) Unter dem Segen Gottes stehe laut Gen 1,28 nur die (eheliche,) auf Nachkommen ausgerichtete Verbindung von Mann und Frau, denn nur diese entspreche der göttlichen Ordnung. Eine Segnung von Homosexuellen habe also keine biblische Grundlage.
Natürlich lassen sich auch hier wieder Details dagegen argumentieren. Zum Beispiel: 1) Nicht nur gleichgeschlechtliche Sexualakte werden in der Bibel verboten, sondern auch das Stutzen von Bärten (Lev 19,27), das Ritzen der Haut (Lev 19,28) oder jegliche Form des Schwörens (Mt 5,34). Eine konsequente Umsetzung aller biblischen Verbote und Gebote hätte also weitreichende Folgen.
Gott segnet also nicht explizit die Verbindung von Frau und Mann mit dem Ziel der Fruchtbarkeit.
2) Dass der Segen Gottes ausschließlich auf die Verbindung von Mann und Frau hinsichtlich ihrer Fruchtbarkeit ausgerichtet ist, wird in der Bibel an keiner Stelle gesagt: In Gen 1,28 segnet Gott alle Menschen, weibliche und männliche (die Transgender-Thematik kennt die Bibel noch nicht). Danach schenkt er den Menschen die Fruchtbarkeit und die Herrschaft über die Erde als Gabe und Aufgabe. Die Segnung geht dieser Aufgabe voraus, unbeschadet dessen, was der Mensch mit dieser Aufgabe tun wird. Gott segnet also nicht explizit die Verbindung von Frau und Mann mit dem Ziel der Fruchtbarkeit. Übrigens: Auch sonst segnet Gott in der Bibel zwar Einzelpersonen oder ganze Personengruppen, aber keine Paare, weder homo- noch heterosexuelle.
„Wenn die Bibel das sagt …“?
Eine solche Diskussion bleibt allerdings wiederum nur an Details hängen. Interessanter und wichtiger ist die Frage, welches Stück dahintersteht. Und das Stück scheint zu lauten: „Die (moralischen, anthropologischen, soziokulturellen) Bewertungen der Bibel sind überzeitlich richtig und daher für heutige Entscheidungen bindend. Wenn in der Bibel gleichgeschlechtliche Sexualakte verurteilt werden, darf die Kirche die Verbindung von Homosexuellen nicht segnen“.
Doch dieses „Stück“ geht methodisch und hermeneutisch hinter das zurück, was schon 1993 das lehramtliche Dokument „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“[3] formuliert: „Es genügt also nicht, eine bestimmte Position hinsichtlich der Moral im Alten Testament bezeugt zu finden (…), um daraus die fortdauernde Berechtigung dieser Praxis zu folgern“ (III.D.3), denn: „Das Wort Gottes hat sich im Werk menschlicher Autoren ausgedrückt. (…) Daraus darf man jedoch nicht schließen, Gott hätte der geschichtlichen Erscheinungsweise seiner Botschaft einen absoluten Wert gegeben. Seine Botschaft ist der Interpretation und Aktualisierung fähig, d.h. sie kann von ihrer geschichtlichen Bedingtheit wenigstens teilweise losgelöst werden, um auf die gegenwärtigen geschichtlichen Bedingungen sinnvoll bezogen zu werden.“ (III.D.2)[4]
Die Kirche hat also die Aufgabe, die Botschaft Gottes von ihrer geschichtlichen Bedingtheit („wenigstens teilweise“) loszulösen und ins Heute zu übersetzen, statt die damaligen Gesellschaftsordnungen und Moralvorstellungen um jeden Preis zu prolongieren. Sie kann sich von dieser Aufgabe nicht dispensieren, indem sie sagt: „In der Bibel steht aber …“.
Plädoyer für ein neues Stück
Die Bibel bezeugt … [e]inen Gott, der alle Menschen segnet, noch bevor er ihnen Aufgaben erteilt.
Ich schlage daher ein anderes „Stück“ vor: „Die Bibel ist Zeugnis der Offenbarung Gottes, nicht die Offenbarung selbst. Sie bezeugt den sich selbst offenbarenden, befreienden, erlösenden Gott.“ Einen Gott, der lieber sein Verhalten ändert, als dass er seine Gebote rigoros verwirklicht haben will. Einen Gott, der weiß, dass die Menschen „böse sind von Jugend auf“, und dennoch oder deswegen (?) beschließt, sie nicht mehr zu verfluchen. (vgl. Gen 8,21). Einen Gott, der die Welt aus Liebe durch seinen Sohn erlöst und Leben ermöglicht. Einen Gott, der alle Menschen segnet, noch bevor er ihnen Aufgaben erteilt.
Wenn die Kirche alle Details der Bibel von diesem „Stück“ her interpretieren würde, dann fände sie keine biblischen Anhaltspunkte dafür, homosexuelle Paare nicht zu segnen. Stattdessen würde sie, wie der Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn empfiehlt, ihrer Rolle als Mutter nachkommen und ihrem Kind „den Segen nicht verweigern“.[5]
In einem solchen Stück könnte die Bibel ihre Stärken jedenfalls ideal entfalten. Ein dankbares Publikum wäre der Kirche gewiss.
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Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks und seit Juni 2018 Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net
[1] Calmet, A., Commentaire litteral sur tous les livres de l’ancien et du nouveau Testament (Bd. 7; Paris 1723–1726), 491f.
[2] Voltaire, F.M.A.de, La bible enfin expliquée par plusieurs aumôniers de S.M.I.R.D.P.; London, [Genf] 1776. Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 79a (I), S. 458.
[3] Deutsch: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/pcb_documents/rc_con_cfaith_doc_19930415_interpretazione_ge.html
[4] Vgl. dazu die in jeder Hinsicht bedenkenswerten Ausführungen von Thomas Hieke zum Thema „Homosexualität in der Bibel“: http://blog.thomashieke.de/blog/bibel-und-homosexualitat/
[5] https://www.erzdioezese-wien.at/kardinal-schoenborn-den-menschen-ehrliche-bitte-um-segen-nicht-verweigern
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