„Was verteidigen wir eigentlich, was so viel wert sein soll wie das Überleben der Flüchtlinge?“, fragt Ottmar Fuchs im Blick auf die aktuelle Flüchtlingsfrage.
In der Flüchtlingsfrage ist jede glatte Lösung in der Gefahr, zu einer Endlösung zu werden, durchaus mit der schrecklichen Konnotation, die dieses Wort aus der deutschen Geschichte heraus hat. Denn solche Endlösungen enden im Stacheldraht und in der abwehrenden Gewalt. Wenn die AfD-Vorsitzende Frauke Petry dadurch an den deutschen Grenzen Recht und Ordnung herstellen will, dass die Polizisten notfalls schießen dürfen, zeigt dies die erschreckende Konsequenz, gegen wehrlose und hilflose Flüchtlingen von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.1 Solche Entweder-oder-Lösungen des Problems schlagen historisch zurück, als Terror nach innen und als Genozid nach außen. Und der Genozid wird dann auch noch als Notwehr legitimiert.2 Es gibt nur die Alternative: relativ offene Grenzen und eine flexible, mit hartnäckiger Solidarität zu gestaltende Aufnahme- und Integrationspolitik oder die Grenzschließung mit Stacheldraht und militärischer Gewalt und damit die erbarmungslose Vernichtung der Flüchtlinge. Da trifft die Frage ins Schwarze: Was verteidigen wir eigentlich, was so viel wert sein soll wie das Überleben der Flüchtlinge?3
auf Sicht handeln
Allein schon das Erschrecken vor einer solchen Zukunft ist als Motivationsbasis dafür ins Bewusstsein zu heben, es nicht soweit kommen zu lassen. Ein völlig unvergleichlicher Vergleich bringt bildfähig zum Ausdruck, was unser, der einheimischen und der fremden Menschen, die nach Lev 19,34 als Einheimische wahrzunehmen sind, gemeinsamer Weg ist: Flüchtlinge sind in ihren Booten darauf angewiesen, auf Sicht zu fahren und sie wissen nicht ob und wo sie ankommen. Was sie erleben müssen, bleibt auch, in anderer Form, und in anderen Kontexten, den Besitzenden, den europäischen Ländern nicht erspart, nämlich auf Sicht zu handeln. Das Mögliche und auch das, was für viele als unmöglich erscheint, zu tun, die Grenzen offen zu halten, mit dem Selbstbewusstsein, darin das einzig Richtige und Gute zu tun. Wie viele angesichts der Hilfsbereitschaft der Helfer und Helferinnen in der realen Willkommenskultur sagen konnten und können: „Angesichts dessen bin ich stolz, ein Deutscher bzw. eine Deutsche zu sein.“ Ein Satz, der nicht nur den Älteren unter uns nicht leicht über die Lippen kommt.
in der Schwebe eines zuversichtlichen Weges
Diesen Weg gilt es zu gehen, ohne im Griff halten zu können, was dabei herauskommt, auf welche Gesellschaft wir zusteuern, aber mit der Hoffnung darauf, dass wir gerade darin nicht stecken bleiben, sondern immer wieder ein Stück weiter kommen. In ihrem Satz hat die deutsche Kanzlerin das ausgedrückt: „Wir schaffen das!“ Nicht im Sinn eines Zieles und einer Lösung, sondern in der Schwebe eines zuversichtlichen Weges, der immer wieder neu austariert wird zwischen Selbstschutz und Solidarität, nie absolut richtig und absolut falsch, sondern immer, jeweils neu gegenseitig abwiegend, dazwischen, mit Kompromissen, aber nie mit dem Verlust dieser Spannung und dieser Steigerung des Möglichen zum schier Unmöglichen, so weit, wie es eben geht, und manchmal darüber hinaus, und dann doch wieder zum Nicht-mehr-Können, mit der eigenen Hilflosigkeit und den aus dieser Schwäche heraus nötigen Einhaltungen.
Wie viele Menschen können wir aufnehmen? Auf diese Frage gibt es keine quantitativen Antworten, sondern nur die Haltung, wie sie der Bürgermeister von Lesbos ausgedrückt hat: „Ja, wir müssen eine große Last tragen, aber wir sind bereit sie zu tragen.“
„Ja, wir müssen eine große Last tragen, aber wir sind bereit sie zu tragen.“
So geben und tun wir unser Bestes, was wir haben und können, und tragen die Lasten, mit der Einstellung, lieber zu teilen als zu töten. Und dabei radikal zu verhindern, dass die Nachteile nicht denen zusätzlich aufgebürdet wird, die bei uns bereits benachteiligt sind. Deren Nachteile nicht verhindert zu haben, ist ein Versäumnis der Sozial- und Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte.
Stärkung liegt in der hoffnungsvollen Ausdauer, dass daraus Gutes erwächst, mit einer Geduld, die jetzt mehr gibt als sie empfängt, aber vielleicht weniger gibt, als sie erst später empfängt. Die Asymmetrie wird sich auf der Zeitachse möglicherweise verändern und umdrehen: In 10 bis 20 Jahren wird unsere Gesellschaft wahrscheinlich froh um die jungen Menschen sein, die jetzt Hilfe brauchen.4 Dies darf eine Hoffnung sein, keine Bedingung.
Investition in die Humanisierung Europas
Die humane Zukunft der Menschheit und Europas im Besonderen liegt in der Fähigkeit, durch alle Hindernisse hindurch die Kraft der Solidarität nicht aufzugeben, und je mehr dieser Weg gelingt, desto besser wird die Zukunft. Der humane Umgang mit den Flüchtlingen, diese „Investition“ in Menschen, wird zur Investition in die Humanisierung Europas. Dagegen wird die Zukunft grauenhaft, wenn dieser unsichere Weg auf Sicht nicht gegangen wird, und wir werden in diesem Jahrhundert eine Welt der Verteilungskriege, der Aussperrungen und von Genoziden haben, wie sie jetzt noch gar nicht vorstellbar sind, mit der katastrophalen Ideologie: die, die zuerst da sind bzw. die Wohlstand besitzen, hätten ein Notwehrrecht auf Inhumanität. Dann werden viele, die jetzt Einheimische sind, hier in Europa nicht mehr leben wollen und flüchten. Wir stehen an der Wegegabelung zwischen diesen beiden Richtungen.
Und der Streit darum tobt bis in unsere Pfarrgemeinden hinein. Pfarrer und andere Hauptamtliche in der Kirche, die sich in ihren Bereichen für die Flüchtlinge einsetzen, können viel Solidarität bei den Gläubigen erfahren, aber sie erfahren auch viel Widerstand und viele Hässlichkeiten. Wo am Ende die Mehrheiten unseres Volkes und auch der Gläubigen stehen, scheint noch offen zu sein. Die entsprechende Verkündigung eines die Menschen unbedingt tragenden und liebenden Gottes, der zur Solidarität befähigt, wird hier genauso wichtig wie die von daher ermöglichte praktizierte Solidarität mit den Fremden in unserem Land.
Ottmar Fuchs / Bild: by knipseline / pixelio.de
Vgl. auch den Beitrag des Autors vom 10. März 2016 „Wenn Fremde bei dir in eurem Land leben…“ (Lev 19,33-34)
- Vgl. Eilmeldung von ZEIT-online vom 30. Januar 2016. ↩
- Vgl. Ottmar Fuchs, Wohin mit der „Angst im Abendland“?, in: Adrian Loretan, Franco Luzatto (Hg.), Gesellschaftliche Ängste als theologische Herausforderung. Kontext Europa, Münster 2004, 119-135. ↩
- So gestellt in der Sendung „Die Anstalt“ am 23.2.2016 im ZDF. ↩
- Vgl. Ottmar Fuchs, Im Brennpunkt: Stigma. Gezeichnete brauchen Beistand, Frankfurt a. M. 1993, 205. ↩