Die Frankfurter Schule feierte am 3.2. ihr 100-Jahr-Jubiläum. Thomas Staubli (Fribourg) über die kritische Theorie, Horkheimer und den Psalm 91.
Die Frankfurter Schule feiert ihr hundertjähriges Jubiläum. Am 3. Februar 1924 wurde sie gegründet. Der Frankfurter Schule gehe es im Schulterschluss der Disziplinen darum, «die Paradoxien unserer Lebensweise offenzulegen», kommentierte Simone Miller im Deutschlandfunk das Jubiläum, und dies sei aktueller denn je. Eine solche Paradoxie, ja vielleicht die stärkste und tiefste im Leben der Menschen, eine mit theologischer Relevanz, hat uns der Kopf der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, gleichsam testamentarisch auf seinem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Bern hinterlassen. Darauf wird Vers 9 aus Ps 91 zitiert: «Denn du, Ewiger, bist meine Zuversicht.» Stünde der Satz auf dem Grabstein eines in die Schweiz ausgewanderten schwäbischen Pietisten, wäre er leicht einzuordnen. Was aber hat er auf dem Gedenkstein des Mitbegründers der kritischen Theorie verloren?
Ps 91 – Ausdruck der Gewissheit einer göttlichen Heimat
In einem heute kaum noch bekannten Beitrag hat der Philosoph den Satz schon sechs Jahre vor seinem Tod kommentiert. Der Sender Freies Berlin lud ihn 1967 ein, einen Psalm auszulegen. Horkheimer wählte Psalm 91, der Psalm, der wie kein anderer von Juden und Christen gleichermaßen über Jahrhunderte hinweg immer wieder auf Amulettzettel geschrieben worden ist. Angeregt wurde er dazu durch den Spruch auf der Grabplatte seiner Eltern, Kommerzienrat Moritz Horkheimer (1858-1945) und Babette Horkheimer, geb. Lauchheimer (1869-1946), auf dem jüdischen Friedhof von Bern: «Wer im Schirm des Höchsten wohnt, der ist im Schatten des Allmächtigen geborgen» (Ps 91,1). Psalm 91 war für ihn unlösbar mit der Erinnerung an die Mutter verbunden: «Die Mutter hat den Psalm geliebt; ihn von der Erinnerung an den Glanz ihrer Augen zu lösen, wenn sie ihn sprach, vermag ich auch heute nicht. Er war der Ausdruck ihrer Gewissheit einer göttlichen Heimat, angesichts der Not und des Schreckens in der Wirklichkeit».
Ausdruck eines Trotzes gegen alle menschliche Barbarei
Dieses Gottvertrauen, das durch das hebräische Akrostichon unter dem Psalmvers für den Satz «Möge seine/ihre Seele eingebunden sein im Bündel des Lebens» (1Sam 25,29) noch bekräftigt wird, ist für Horkheimer Ausdruck eines Widerstandes gegen das Schlechte in der Welt: «Wenn wahre Empörung gegen das Schlechte seit je die Idee des Anderen, des Richtigen, mit einschloss, so umgekehrt das Vertrauen zum Ewigen den Gedanken des Untergangs». Dieses Gottvertrauen ist Ausdruck eines Trotzes gegen alle menschliche Barbarei, wie sie den in die Schweiz geflohenen jüdischen Eltern und ihrem Kind mehr als deutlich vor Augen stand. «Für den Widerspruch zum bon sens, zum Plausiblen, weiß ich als Erklärung nur die Ohnmacht, mit dem furchtbaren Bestehenden, dem Irrsinn der Realität anders sich abzufinden als durch die Flucht in das auf eigene Kompetenz verzichtende Vertrauen zu einem unbedingten Anderen, zu einem Guten trotz alledem». Der Sinn des gebeteten Psalms liegt somit, nach der Schoah mehr denn je zuvor, in seinem Widerspruch zur grauenhaften Realität wider alle Vernunft. Horkheimer konstatiert nüchtern und ehrlich: «Wie immer die Verse historisch zu interpretieren seien, für viele, die sie gesungen haben, verkündeten sie, entgegen der Ratio, einen Sinn der Geschichte, der dem Bestehenden zuwiderläuft und doch von Wahn und Unwahrheit so weit entfernt ist, wie nur je die Wissenschaft».
Trotz allem.
Der Psalm ist der Aufklärung der ihr entsprungenen Wissenschaft überlegen, die sich in dem von ihr ermöglichten Wahn von Schoah und Atomkrieg ad absurdum führte. «Anders als die der Ratio zugeschriebenen kategorischen Prinzipien weckt der Gedanke einer Zuflucht, wie er im Psalm sich ausspricht, nicht bloß Gehorsam, sondern die Liebe zu dem, was anders ist als die Welt und dem Leben und dem Leiden in ihr einen Sinn verleiht. Trotz allem». Möglich wird solches Verständnis freilich nur, dank einer grundlegenden Erziehung auf jenen messianischen, sinnverleihenden Trotz hin: «Wenn ein Vater sein Kind in dem Gedanken erzieht und eine Mutter in der Erwartung es ansieht, es werde jenem unendlichen Glück dienen, ja vielleicht es erleben dürfen, auch wenn sie selbst einmal gestorben sind, erfährt das Kind die Liebe und vermag sie wieder auszustrahlen, die im emphatischen Sinn den Menschen zum Menschen macht».
Dem ist auch am hundertsten Geburtstag der kritischen Theorie, 51 Jahre nach dem Tod ihres Mitbegründers und im Angesicht der vielen durch modernste Waffen Getöteten in Palästina, Israel, Syrien, Yemen, dem Sudan oder der Ukraine nichts hinzuzufügen.
Literatur:
Simone Miller, Das Ganze denken: Deutschlandfunk Kultur, 22.1.2023: https://www.deutschlandfunkkultur.de/100-jahre-frankfurter-schule-das-ganze-denken-102.html
Horkheimer, Max, Psalm 91, in: Gesammelte Schriften 7, Frankfurt/M 1989, 209-212 (= K.H. Schröter, Hg., Mein Psalm, Berlin 1968, 86-94).
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Thomas Staubli (*1962), PD Dr. theol., unterrichtet und erforscht das Alte Testament an der Universität Fribourg.
Photos im Text: Thomas Staubli, Herbst 2020
Beitragsbild: https://anthrowiki.at/index.php?curid=65797