Die Sternsingeraktion 2023 akzentuiert die Kinderrechte. Hubertus Lutterbach ordnet das Anliegen vor dem Hintergrund einer problematischen Situation der kath. Kirche ein und zeigt die Bedeutung der UN-Kinderrechtskonvention auf.
„Kinder stärken – Kinder schützen in Indonesien und weltweit“ lautet das Motto der aktuellen Sternsingeraktion 2023. In deren Rahmen engagieren sich viele als Sternsinger:innen gekleidete Kinder singend, informierend und geldsammelnd besonders zugunsten von Kindern in Asien. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung der Aktion hat es in sich, wie das „Kindermissionswerk. Die Sternsinger“ und der „Bund der deutschen katholischen Jugend (BDKJ) als Organisatoren erläutern: „Weltweit leiden Kinder unter Gewalt. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jährlich eine Milliarde Kinder und Jugendliche physischer, sexualisierter oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind – das ist jedes zweite Kind.“
Kinder stark machen – durch Erlernen der eigenen Rechte.
In der Konsequenz geht es der Kampagne, die im Jahr 2022 einen Erlös von fast 40 Millionen Euro erzielt hat, nicht einfach nur darum, dass Kinder hierzulande für Kinder anderswo auf der Welt das dort fehlende Geld zusammenbringen. Viel grundlegender zielt die Aktion samt ihrem finanziellen Gewinn einerseits darauf hin, Erwachsene für den Kinderschutz zu sensibilisieren: „Sie sind dafür verantwortlich, junge Menschen zu schützen.“ Andererseits liegt der Aktion daran, die Kinder dadurch stark zu machen, dass die Erwachsenen „ihnen ihre Rechte vermitteln und sie darin unterstützen, diese einzufordern und ihre Bedürfnisse auszudrücken“.
Engagement für Kinderschutz
und Kinderpartizipation
Es ist ganz im Sinne einer gesellschaftlich vorwärtsweisenden Kinder- und Jugendarbeit sowie in Übereinstimmung mit der UN-Kinderrechtskonvention von 1989, dass die Sternsingeraktion ihr Engagement für den Kinderschutz und für die Kinderpartizipation nicht voneinander trennt. Mehr noch gilt im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention: Auf die Zusammenarbeit von Kindern und Erwachsenen kommt es an, wenn bessere Lebensverhältnisse für Kinder weltweit Wirklichkeit werden sollen!
Die erst drei Jahrzehnte alte UN-Kinderrechtskonvention, in deren Dienst sich auch die Sternsingeraktion 2023 stellt, ist kaum vorstellbar ohne die großen Traditionen jüdischen und christlichen Engagements zugunsten der Kinder[1]. Im Blick auf die Gegenwart ergibt sich damit für das (katholische) Christentum eine verstörende Gemengelage: Einerseits haben sich Christ:innen seit Jahrhunderten für die alltagskonkrete Wertschätzung der Kinder eingesetzt; andererseits sind es ausgerechnet auch katholische Kleriker, die sich durch ihren sexuellen Missbrauch von Kindern gegen die von der eigenen Religionsgemeinschaft mit initiierten Errungenschaften versündigt haben bzw. versündigen.
Die gottgleiche Würde der Kinder
Die Hochachtung gegenüber den Kindern, wie sie heutzutage in manchen Teilen der Erde schon Wirklichkeit ist und um die sich auch die Sternsingeraktion 2023 bemüht, ist keine Naturgegebenheit. Noch in den antiken Gesellschaften, die das Urchristentum umgaben, galten Kinder ebenso wie alte Menschen als hilfsbedürftige und nutzlose Außenseiter: „In den Quellen der klassischen Antike sucht man vergebens nach einer uneingeschränkten Wertschätzung des Kindes“, formulierte die Sozialhistorikerin Aleida Assmann schon vor Jahrzehnten[2].
Ein menschheitsgeschichtlich neuer Akzent.
In der Tradition des Judentums setzt Jesus mit seiner Wertschätzung der Kinder einen menschheitsgeschichtlich neuen Akzent, wenn er sich mit ihnen auf eine Stufe stellt und ihnen eine gottgleiche Würde zuspricht: „Wer ein solches Kind um meines Namens willen aufnimmt, nimmt mich auf.“ (Mt 18,5) Kein Zweifel: Jesus beachtet die Kinder um ihrer selbst willen. Diese Sicht sollte den Umgang mit Kindern fortan prägen.
Der eine göttliche Vater und die vielen (Gottes-)Kinder
Die Langzeitwirkungen von Jesus, dem göttlichen Kinderfreund, reichen durch die Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung bis hin zur UN-Kinderrechtskonvention, die mehr Staaten für sich übernommen haben als jede andere UN-Konvention.
Die von Jesus veranschaulichte Überzeugung, dass Kinder nicht an die Ränder, sondern in die Mitte der Gesellschaft gehören, wurzelt grundlegend in einer argumentativen Finesse der frühen Christ:innen. So griffen sie die in der kaiserlich geprägten Religiosität selbstverständliche Vorstellung vom Familienvater mit seinen weitreichenden Rechten gegenüber den Kindern auf. Allerdings beließen die Christ:innen nicht ihm seine Verfügungsgewalt über die Kinder, sondern übertrugen sie auf den göttlichen Vater im Himmel.
Herrschaft über Leben und Tod
steht allein Gott zu.
Die Konsequenzen dieser neuen Zuschreibung sind zivilisationsgeschichtlich doppelt revolutionär: Erstens steht die Herrschaft über Leben und Tod des Menschen damit fortan Gott allein zu. Zweitens sind gegenüber Gott alle Menschen Empfangende und damit untereinander Brüder und Schwestern – mit der Verpflichtung, sich gegenseitig geschwisterlich und solidarisch beizustehen. Entsprechend profitieren durchweg alle Menschen von dieser Zäsur, die überdies jedwedes Menschenrecht historisch begründet. Denn aus christlicher Perspektive gilt jedes Leben als heilig und rechtfertigt allen Aufwand, wie die diesjährige Sternsingeraktion im Blick auf die Kinder in Indonesien und weltweit in Erinnerung ruft.
Gewaltexzesse
Die Auswirkungen der christlich mitgetragenen Hochachtung gegenüber den Kindern sind sozialgeschichtlich mit Händen zu greifen. Über die Kinderbildung hinaus betreffen sie erstrangig den Kinderschutz, dessen rechtliche Festschreibung unstrittig ist, wohingegen dessen christlich-konkrete Umsetzung wahrscheinlich oft hinter den Normen zurückgeblieben ist, wie die mehr und mehr ans Licht kommenden Gewaltexzesse auch in kirchlichen Kinderheimen belegen.
Beispielsweise kam der spezielle Tatbestand der Kindestötung im römischen Recht überhaupt noch nicht vor. Auch die Gesetze der griechischen Antike begünstigten die Kindestötung eher, als dass sie sie verhinderten. In drastischer Abweichung davon bemühten sich die Christ:innen um die Ahndung der Kindestötung von allem Anfang an. Grundlegender noch unterstreicht der Historiker Heinz Wilhelm Schwarz unter Einschluss beispielsweise der Sorge um die Waisen- und die Findelkinder seit mittelalterlicher Zeit: „Die Vielfalt der kirchenrechtlichen Quellen wie auch ihrer Ausgestaltung zeugt in puncto Kinderschutz von einem erheblichen Vorsprung der kirchlichen gegenüber der weltlichen Gesetzgebung.“[3]
Die UN-Kinderrechtskonvention von 1989
Der UN-Kinderrechtskonvention, die sich auf Kinder bis zum Alter von 18 Jahren bezieht, geht es darum, den Kinderschutz, die Kinderförderung sowie die Kinderpartizipation verbindlich festzuschreiben.
Besonders anhand der Bestimmungen zum Kinderschutz lässt sich eine Entwicklungslinie von Jesus, dem göttlichen Kinderfreund zur UN-Kinderrechtskonvention – und weiter zur aktuellen Sternsingeraktion – aufzeigen. So spricht Art. 6. jedem Kind als Ausdruck des Kinderschutzes das Lebensrecht zu. In diesen Zusammenhang gehören auch die Vorschriften zum Schutz der Gesundheit, zur Ernährung und zur körperlichen Unversehrtheit des Kindes bis hin zu dessen Schutz vor Genitalverstümmelung, sexueller Gewalt und Drogenmissbrauch (Artikel 24-34) sowie vor Kinderhandel, Ausbeutung, Folter und körperlicher Gewalt unter anderem innerhalb militärischer Konflikte (Artikel 35-39).
Kinderförderung als zweiter Schwerpunkt
der UN-Kinderrechtskonvention
Auch wenn die aktuelle Sternsingeraktion diesen Akzent eher beiläufig berücksichtigt, sei hier zumindest der Vollständigkeit halber das Kernanliegen der Kinderförderung als zweiter Schwerpunkt der UN-Kinderrechtskonvention mit christlichen Wurzeln erwähnt (u. a. Mühen um eine kindgemäße Bildung für jedes Kind, wie Artikel 28 erläutert).
Über die genannten Traditionen hinaus reichen schließlich die Vorschriften der UN-Kinderrechtskonvention, die die seit 40 Jahren gesellschaftlich diskutierte Kinderpartizipation aufgreifen. Unter diesem Stichwort verpflichtet sich die Staatengemeinschaft, die „volle Beteiligung des Kindes am kulturellen und künstlerischen Leben“ zu gewährleisten (Artikel 31). „Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.“ Um diese Partizipationsrechte wahrnehmen zu können, gestehen die Staaten dem Kind schließlich ein Recht auf Versammlungs- und Informationsfreiheit zu.
Kinderschutz und Kinderpartizipation als Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt
In der Spur der von Jesus vertretenen Hochschätzung der Kinder ist die UN-Kinderrechtskonvention eine auf die Kinderrechte bezogene Präzisierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Vor diesem Hintergrund wirkt es wie eine treffsichere Reaktion nicht zuletzt auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen auch in der katholischen Kirche, wenn sich die aktuelle Sternsingeraktion davon inspiriert zeigt, dass Kinderschutz und Kinderpartizipation keine Gegensätze, sondern wie zwei Seiten einer einzigen Medaille aufeinander bezogen sind.
Eine bemerkenswert ökumenische Dimension
Kinder, die unter Anleitung von Erwachsenen ihre Rechte kennen und wahrzunehmen wissen, sind besser als andere Kinder geschützt – nicht nur, wenn sie sich innerhalb und außerhalb der Kirche sexueller Gewalt gegenübersehen. Auch in dieser Hinsicht dürfen sich die jungen Sternsinger:innen hierzulande sowie die Kinder in Indonesien oder anderswo auf der Welt untereinander solidarisch fühlen. Bemerkenswerterweise umfasst dieses Miteinander inzwischen sogar eine selbstverständlich ökumenische Dimension, weil sich auch evangelische Kinder und Jugendliche an der Sternsingeraktion beteiligen und auf das Anliegen „Kinder stärken! Kinder schützen“ aufmerksam machen.
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Hubertus Lutterbach, Prof. Dr. Dr., geb. 1961, lehrt Christentums- und Kulturgeschichte am Institut für Katholische Theologie der Universität Duisburg-Essen. Zahlreiche monographische Publikationen, zuletzt: „Urtümliche Religiosität in der Gegenwart„, Freiburg: Herder Verlag 2022“.
Titelfoto: Ben Wicks / unsplash.com
Porträtfoto: Kath. Kirchengemeinde Hl. Kreuz/Osnabrück
[1] Hubertus Lutterbach, Kinderschutz, Kinderbildung, Kinderpartizipation. Historische Wurzeln und aktuelle Provokationen, in: Lebendige Seelsorge 68 (2017) S. 320-325.
[2] Aleida Assmann, Werden was wir waren. Anmerkungen zur Geschichte der Kindheitsidee, in: Antike und Abendland 24 (1978) S. 98-124, S. 98.
[3] Heinz-Wilhelm Schwarz, Der Schutz des Kindes im Recht des frühen Mittelalters. Eine Untersuchung über Tötung, Missbrauch, Körperverletzung, Freiheitsbeeinträchtigung, Gefährdung und Eigentumsverletzung anhand von Rechtsquellen des 5. bis 9. Jahrhunderts (Bonner historische Forschungen 56) Siegburg 1993, S. 27.