Angesichts des Synodalen Prozesses, aber auch des Umgangs mit Missbrauchsfällen blickt der Fundamentaltheologe Wolfgang Treitler (Wien) kritisch auf kirchliche Entwicklungen. Seine These lautet: Es braucht mehr Demokratie in der (römisch-katholischen) Kirche.
Die Römisch-Katholische Kirche befindet sich mitten in synodalen Prozessen, die Papst Franziskus seit langem forciert. Ein anderer Stil soll damit entwickelt werden und ruft gleichzeitig Widerstand hervor. Denn kirchenrechtlich ändert dieses Vorhaben (noch) nichts. Die Entscheidungen bleiben bei den Bischöfen, was immer davor diskutiert, beraten, erstritten oder ignoriert wird.
Von echten, substanziellen Diskursen, die wirken und Entscheidungen vorbereiten, ist man weit entfernt.
Das zeigt sich bei der Besetzung von Synoden. Im Fall der Familiensynode von 2015 trafen etwa 300 Bischöfen auf ein paar ausgesuchte Eheleute, die gut ins spätere Alter gekommen sind – ein geringer Bestand angesichts der mehr als 34.000 Eingaben allein aus Österreich, die der Synode vorausgingen.[1] Ein „Anti-Missbrauchs-Gipfel im Vatikan“[2] zählte 190 Bischöfe und Ordensobere und nur eine Handvoll von Missbrauchsgepeinigten. Diese beiden synodalen Beispiele zeigen ein doppeltes Defizit: Von echten, substanziellen Diskursen, die wirken und Entscheidungen vorbereiten, ist man weit entfernt. Und was nach solchen Treffen folgt, sind Schreiben, in einer Sprache abgefasst, in der viele Phrasen so selbstverständlich wie bedeutungslos sind und anzeigen, was Abraham J. Heschel vor 50 Jahren schon konstatierte: „Wir haben Gott in unsere Tempel und Schlagworte eingesperrt, und jetzt stirbt das Wort Gottes auf unseren Lippen.“[3] Der Glaubensschwund scheint kein Problem primär der säkularen Welt zu sein, sondern der kirchlichen Welt, deren abgewetzte Sprache heute viele befremdet, sofern sie diese überhaupt noch sich zu Gehör bringen lassen.
Was sich hier zeigt, wirkt als Umkehr pandemischer Effekte: Während Corona sich in neuen Varianten weltweit ausbreitet und festgesetzt hat, schrumpft die Ausbreitung religiöser Lehrformeln von selbst ein und erreicht immer weniger Ohren und noch weniger Geister. Darüber hilft der absolutistische Gestus ebenso wenig hinweg wie die Idee von Synodalität, die aufgrund eben dieses Grundgestus keine institutionellen Folgen zulässt oder nach sich zieht.
Diese auf sich bezogene hierarchische Form ist am Ende, die sie stützende Theologie tot.
Dieser Gestus lässt sich nicht aus dem Neuen Testament ableiten. Die auf ihm fußende Hierarchie verdankt sich der Militarisierung der römischen Gemeinde im Zeichen radikaler Gehorsamsunterwerfung, wie sie der erste Clemensbrief paradigmatisch vorführt.[4] Dies wurde hierarchisch gepflegt und im 19. Jhdt. zur Spitze der Infallibilität des päpstlichen Lehramtes in Glaubens- und Sittenfragen auch ohne jede Zustimmung kirchlicher Institutionen gebracht.[5] Dass in Sittenfragen das unfehlbare Lehramt und ein ehemaliger Vertreter desselben wie Joseph Ratzinger seit geraumer Zeit mit den kirchlichen Sexualverbrechen neben aufrichtigen Umkehrwünschen[6] auch einen an Täuschung und Lüge entlangziehenden Weg beschreiten,[7] erweist sich immer wieder. Das zeigt: Diese auf sich bezogene hierarchische Form ist am Ende, die sie stützende Theologie tot.
Demokratisierung der Kirche und ihrer Prozesse ist Gebot der Stunde. Dass sie von Vertretern des Klerus gerne in Misskredit gezogen wird als Mehrheitsbeschaffung und Durchsetzung von Interessen ohne „Ringen um Konsens“[8], malt eine Karikatur an die Wand, die sich in der Wirklichkeit allenfalls in Zerrformen findet, unterlegt mit den redundanten Warnungen, mit denen „die neuen Technologien…, der Einfluss der Massenmedien; die hedonistische Kultur; der Relativismus; der Materialismus; der Individualismus; der wachsende Säkularismus“[9] angeprangert werden, anstatt darin demokratische Möglichkeiten und Prozesse zu erkennen, die auch kirchlich lehrrelevant sind.
Demokratie erfordert Bildung. Bildung ermöglicht Aufklärung und Selbstaufklärung sowie Kritik und Selbstkritik.
Denn Demokratie bildet im Grundsatz ein aufgeklärtes Diskurs- und Entscheidungsforum, in dem Kompetenzen und nicht fiktive göttliche Hierarchien entscheidend sind und offene Identitäten in Leben und Lehre zeitgerecht ermöglicht werden. Das fordert Bildung, sowohl theoretische wie ethische und religiöse; und Bildung ermöglicht Aufklärung und Selbstaufklärung sowie Kritik und Selbstkritik und die ihr entsprechenden rechtlichen Formen. Das Erlangen von Kompetenzen ist nicht an Stand, Geschlecht, Herkunft gebunden, sondern grundsätzlich Recht und Verpflichtung aller Demokratisierten. Konsense, die erzielt werden, schließen Dissense nie aus, Dissense haben, soweit sie human relevant sind, Anspruch auf Anerkennung.
Das wird seit Jahrhunderten von jüdischen Gemeinschaften praktiziert, ohne dass diese ihre Profile eingebüßt hätten. Thomas Fornet-Ponse plädierte in seiner großen Arbeit „Ökumene in drei Dimensionen. Jüdische Anstöße für eine innerchristliche Ökumene“ für eine „wissenschaftliche Demut“[10] in jeder Lehrform, und zwar auf dem Boden rabbinischer Selbsterfassung, die wiederum von „Laiengelehrten“[11] getragen ist. Laiengelehrte sind hoch kompetente Gelehrte der verschiedenen rabbinischen Schulen, die das Judentum über die Zerstörung des Tempels und der Priesterschaft im 1. Jhdt. n. Chr. hinwegbrachten. Die Rabbinen sind keine Priester, sondern Lehrer ihrer Gemeinden, von diesen allein eingesetzt und daher mit ihnen unterwegs und in ihnen rechenschaftspflichtig.
Alle dogmatischen Beschlüsse der Vergangenheit bis einschließlich zum Ersten Vatikanum wurden durch Mehrheiten abgesichert.
Laiengelehrte gibt es mittlerweile in hochprozentiger Mehrheit in der Römisch-Katholischen Kirche. Sich vor ihnen als Mehrheit zu fürchten und Demokratie zu einem Kampfwort zu schmieden, mit dem Kleriker gegen irgendwelche ausgerufenen Lehrämter mobilisieren wollen, um ihr eigenes zu immunisieren, offenbart einen Anachronismus und geschichtliche Ahnungslosigkeit. Alle dogmatischen Beschlüsse der Vergangenheit bis einschließlich zum Ersten Vatikanum wurden durch Mehrheiten abgesichert. Die Referenz auf den Heiligen Geist stützte das, konstituierte es jedoch nicht verfahrensmäßig. Vielmehr kann man heute wissen, dass die Herstellung von Mehrheiten unter nicht kulturell-demokratischen Formen manchmal der tödlichen Vorarbeit von „violent gangs“[12] folgte, wie sie etwa Athanasius eingesetzt hatte, um im 4. Jhdt. seine christologischen Ziele zu erreichen und durchzusetzen.
Bischöfe nach dem Willen des Volkes einzusetzen, ist weder neu noch übel.
Verglichen damit nimmt sich Demokratisierung heute mild und sanft aus. Sie sich als Verfahrensform kirchlich anzueignen, entscheidet angesichts der Erosion klerikaler Suprematie und der Bedeutungslosigkeit der Phrasensprache über die Zukunftsfähigkeit der Katholischen Kirche. Bischöfe nach dem Willen des Volkes einzusetzen, ist weder neu noch übel, ebenso Pfarrer. Statt „ehernen Fäusten Gottes“[13] hätte man Aussichten auf von den Glaubenden anerkannten Leuten, die nicht primär hierarchisch gefügig, sondern religiös kompetent wären.[14] Rom bestätigt sie nach dem Willen des lokalen Glaubensvolkes, ohne sie einsetzen oder absetzen zu können.
Kirchliche Demokratisierung machte so mit der biblischen Grundeinsicht ernst, dass nicht der zölibatäre Mann des kirchlichen Amtes, sondern erst mindestens zwei unterschiedliche Menschen gemeinsam und ohne jede hierarchische Differenz Ebenbild des unsichtbaren, dogmatisch nicht sagbaren, lehrhaft nie adäquat vermittelbaren namenlosen Heiligen sind (Gen 1,26).
Frauen als Pfarrerinnen, von Gemeinden ausgewählt? Demokratie als Synodenform mit entsprechenden Gruppenrepräsentationen? Liturg*innen, die Messen feiern ohne glanzvolle Verkleidung? Jugendliche, die sich auf ihre Firmung vorbereiten und nach der Firmung Gottesdienste leiten können? Priester*innen, Bischöf*innen, die verstanden haben, dass die Alltagsarbeit in der eigenen Familie Gottesdienst ist, nicht von der Nähe zu Gott abhält, sondern diese womöglich intensiviert? Feierliches Ende der römischen Hierarchie unter dem absoluten Wahlmonarchen?
Heute kann man die kirchliche Demokratisierung wahrscheinlich noch gestalten. Morgen mag es dafür zu spät sein.
Warum nicht? Heute kann man die kirchliche Demokratisierung wahrscheinlich noch gestalten. Morgen mag es dafür zu spät sein, wenn eine klerikale Sekte auf sich zusammengeschrumpft sein wird und in ihrer Selbstbehauptung die unangenehme Frage vergessen hat: „Wird … der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde (noch) Glauben vorfinden?“ (Lk 18,8).
Diese entscheidende Frage trifft demokratisch alle und ist von allen einzeln und demokratisch zu beantworten und zu verantworten.
[1] Familiensynode. Familienumfrage: Mehr als 34.000 Antworten, online: https://www.bischofskonferenz.at/familiensynode/familienumfrage-mehr-als-34.000-antworten (20.1.2022).
[2] Anti-Missbrauchs-Gipfel im Vatikan, online: https://www.kathpress.at/goto/dossier/1736305/anti-missbrauchs-gipfel-im-vatikan (20.1.2022).
[3] Heschel Abraham J., Die ungesicherte Freiheit. Essays zur menschlichen Existenz. Aus dem Englischen von Ruth Olmesdahl, Neukirchen-Vluyn 1985, 136.
[4] Wengst Klaus, Wie das Christentum entstand. Eine Geschichte mit Brüchen im 1. und 2. Jahrhundert, München 2021, 283-285.
[5] DH 3074.
[6] Null Toleranz bei Missbrauch, in: https://www.katholisch.de/artikel/3180-null-toleranz-bei-missbrauch (30.1.2022).
[7] Missbrauchsgutachten belastet emeritierten Papst Benedikt XVI., online: https://religion.orf.at/stories/3210982/ (20.1.2022); D: Münchner Missbrauchsgutachten am 20. Januar, online: https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2022-01/muenchen-erzbistum-missbrauch-gutachten-benedikt-xvi-ratzinger.html (20.1.2022); Ratzinger räumt Falschaussage ein, online: https://www.sueddeutsche.de/politik/benedikt-xvi-falschaussage-1.5514186 (30.1.2022).
[8] Kardinal Koch: Synodalität ist etwas anderes als Demokratie, online: https://kathpress.at/site/webmeldung_detail.siteswift?ts=1642663153 (20.1.2022).
[9] Bischofssynode III. Außerordentliche Versammlung. Die pastoralen Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung. Instrumentum Laboris, Vatikanstadt 2014, online:
https://www.vatican.va/roman_curia/synod/documents/rc_synod_doc_20140626_instrumentum-laboris-familia_ge.html (20.1.2022).
[10] Fornet-Ponse Thomas, Ökumene in drei Dimensionen. Jüdische Anstöße für eine innerchristliche Ökumene, Münster 2011, 365.
[11] Ebd., 264.
[12] Rubenstein Richard E., When Jesus Became God. The Struggle to Define Christianity during the Last Days of Rome, Orlando u.a. 1999, 110.
[13] Wachter Hubert, Kurt Krenn. Gottes eherne Faust, München 1994.
[14] Fornet-Ponse Thomas, Ökumene in drei Dimensionen. Jüdische Anstöße für eine innerchristliche Ökumene, Münster 2011, 333-343.
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Autor: Wolfgang Treitler ist Ao.-Univ.-Prof. im Fachbereich Theologische Grundlagenforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
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