Seit Jänner 2024 wird im Grazer Schubertkino jeden ersten und dritten Sonntag im Monat eine heilige Messe gefeiert. Der neue Ort und die darauf abgestimmte Art des Feierns will vor allem kirchenferne Menschen ansprechen und keine Konkurrenz zu bestehenden Pfarren sein. Zusätzliche Formate und Kooperationen zeigen, wie vielfältig Kirche sein kann und sorgen für weitere Begegnungsmöglichkeiten. Feedback und Medienecho[1] sind bisher sehr positiv, und das zunächst für sechs Monate vom Prozessbereich Innovation und Entwicklung der Diözese Graz-Seckau geförderte Projekt ist um zwei weitere Jahre verlängert worden. Ein Beitrag von Stefan Gmoser, Graz.
Kirche anders erleben
Für das Team hinter „Kirche im Kino“ war die Ausgangslage eindeutig: Die üblichen Angebote der katholischen Kirche schaffen es aus den verschiedensten Gründen immer weniger, Menschen zu erreichen. Zwar sind die Rituale an den Lebenswenden wie Taufe, Hochzeit, Begräbnis immer noch hoch im Kurs, allerdings gibt es über diese punktuellen Begegnungen hinaus kaum noch Anknüpfungspunkte für 90% der Katholik:innen, von Menschen ohne Bekenntnis oder aus der Kirche Ausgetretenen ganz zu schweigen. Religion ist längst nicht mehr Schicksal, sondern Wahl. Um also die Grundbotschaft des Evangeliums[2] neu zu verkünden, galt es einen Ort zu schaffen, an dem Menschen ganz neu berührt werden.
In einer Art „paradoxen Intervention“ soll Tradition mit Innovation verbunden werden.
Einen solchen Ort hat der Leiter des Projekts, Florian Mittl, an der amerikanischen Church of the Nativity gefunden, an der er 2017/2018 einen einjährigen Forschungsaufenthalt absolvierte.[3] Die dort gemachten Erfahrungen sind zunächst in kleinere Initiativen eingeflossen, bevor die Zeit reif war, ein „Churchplant“ zu starten. Der ungewöhnliche Ort Kino wurde aus mehreren Gründen gewählt:
- Kino ist prinzipiell positiv besetzt und weckt sofort Assoziationen von Aufregung, Spannung, Emotionen und Unterhaltung in einem angenehmen Ambiente;
- die Leinwand bietet neue visuelle Möglichkeiten, um das Geschehen in der Messe zu illustrieren und zu unterstützen;
- in einer Art „paradoxen Intervention“ soll Tradition mit Innovation verbunden werden; der Kern der Botschaft bleibt erhalten, wird aber in eine neue Schale oder Form gegossen.
Angelehnt an die „3 Ms“ an der Church of the Nativity – Ministry, Music, Message – wird auch bei Kirche im Kino der Fokus auf diese drei Bereiche gelegt. Der Anspruch ist es, Gottesdienst als ganzheitlich beeindruckendes Erlebnis, gewissermaßen als „Barockmesse des 21. Jahrhunderts“, zu etablieren.
Ministry, Music, Message, Visuals
- Ministry/Willkommenskultur: Ein Hostteam begrüßt die Mitfeiernden, unterstützt dabei, im oft sehr vollen Saal einen Platz zu finden, und steht für Fragen zur Verfügung. Vor und nach der Messe kann man sich im Café stärken und austauschen. Moderator:innen machen die offizielle Begrüßung, leiten in einzelne Teile (Eucharistiefeier, Kommunion) ein und erklären unter dem Motto “Wos tua ma do?“ kurz und knackig jeweils ein Element der Messe. Das schätzen sowohl Seltenkommende, die die Messrituale nicht kennen, als auch häufige Kirchgänger:innen, die an den Ablauf gewöhnt sind, aber auch nicht immer wissen, warum gewisse Dinge geschehen.
- Music: Musik ist seit jeher ein wichtiger Begleiter des Menschen und hat messbaren Einfluss auf Körper und Psyche (Atmung, Herzschlag, Emotionen, Blutdruck etc.). Auch im Gottesdienst nimmt Musik einen Schlüsselfaktor ein und kann dort den Boden (und die Seele) für das Geschehen bereiten – oder das genaue Gegenteil bewirken.
Kirche im Kino legt großen Wert auf Qualität, Songauswahl und deren Einbettung in ein liturgisches Gesamtkonzept. Die Wahl ist auf christliche Pop- und Rockmusik gefallen, da „weltlicher“ Pop und Rock von vielen, gerade auch jungen, Menschen gehört wird und dadurch eine unmittelbare Identifikation gegeben ist. Zusätzlich werden nicht genuin christliche Songs eingebaut, die aber inhaltlich dazu passen, z.B. „Shallow“ von Lady Gaga oder „Unconditionally“ von Katy Perry. Akkustische Soundteppiche, die das gesprochene Wort und die Bilder auf der Leinwand untermalen, runden das Erlebnis ab. Die Sänger:innen und Musiker:innen werden bezahlt und haben alle einen professionellen Hintergrund; viele studieren an der Kunst- oder Jazzuni.
- Message: Jeder Sonntag steht unter einem Thema, z.B. „Vagöd’s Gott it’s Sunday“ zur Bedeutung des Schabbats/Sonntags oder „Heute ist ein guter Tag, um glücklich sein“ in Anlehnung an ein Lied von Max Raabe. Bei der Predigt wird Wert daraufgelegt, das Evangelium so auszulegen, dass der Bezug der Texte zur Gegenwart deutlich wird. Die Predigtvorbereitung ist ein Gemeinschaftsprozess. Priester und Leiter entwickeln im Vorfeld Predigtbausteine, die dann im Kernteam vorgestellt und von den anderen ergänzt und diskutiert werden. Ausgangsfrage ist immer das „Warum“ – Was berührt mich an den Texten, was möchte ich unbedingt loswerden?
Die Sprache ist einfach, konkret, persönlich und humorvoll, und immer wieder treten überraschende Elemente auf – von einem Interview mit Jürgen Klopp über „Baywatch“ bis hin zu persönlichen Videobotschaften.
- Visuals: Da der gewählte Ort ein Kino ist, war es den Initiatoren wichtig, noch einen vierten Fokus zu legen und nicht nur einfach eine Messe an einem anderen Ort zu feiern, sondern diesen Ort mit seinen spezifischen Eigenschaften und Möglichkeiten auch bewusst einzubeziehen. Das Bespielen der Leinwand ist also essenziell und umfasst die Lyrics der Lieder, Gebete, Visuals, Videoclips, Filmausschnitte und interaktive Elemente. Der Bußakt heißt „Herzensbereitung“ und wird als positiver Impuls mit Bebilderung gestaltet; beim Zwischengesang gibt es ein Video oder eine Collage, die Thema und/oder Lesung aufgreift; die Predigt startet meistens mit einem Teaser (z.B. einer Filmszene), die neugierig auf die Erklärung macht, und bei den Fürbitten kann man sich über Mentimeter auch selbst einbringen.
Kirche anders sehen
Die Vision von Kirche im Kino lautet:
Eine Gemeinschaft schaffen, die
- Gottes Botschaft in den Mittelpunkt stellt
- auch kirchenferne Menschen anspricht
- und zu aktivem gesellschaftlichen Mitgestalten in Graz und darüber hinaus motiviert
Das neue Erlebnis von Kirche führt idealerweise dazu, dass sich der Blick auf Kirche verändert und Glaube als konkreter Mehrwert[4] für das eigene Leben erkannt oder vertieft wird. Die Rückmeldungen scheinen diesen Anspruch zu bestätigen:
- Wir sind in den letzten Jahren nicht mehr in die Kirche gekommen (außer Taufe, Begräbnis etc.). Jetzt innerhalb von 14 Tagen gleich zweimal;-)
- War heute das 1. Mal bei eurer Messe und wollte mal sagen, dass es so unglaublich cool und vor allem abwechslungsreich war! Ich hab mal im Radio von der Messe im Kino gehört und bin heute mal mit dem Zug hergefahren. Werde es auf jeden Fall wieder tun und Freunde und Familienmitglieder mitbringen. Ich finde es ist eine super Sache, die ihr ins Leben gerufen habt!
Der Großteil der Mitfeiernden besteht aus Personen, die auf Englisch als „dechurched“ bezeichnet werden – prinzipiell kirchlich sozialisiert, aber in keiner Gemeinde aktiv oder präsent. Bei Kirche im Kino finden sie einen neuen Zugang zu ihrem Glauben und laden Freunde und Bekannte ein, ebenfalls einmal zu kommen. Ungefähr 15 Prozent sind wirklich „unchurched“, d.h. ausgetreten oder ohne Bekenntnis aufgewachsen, sehr oft atheistisch. Sie kommen aber auf Einladung, genießen die Atmosphäre und Gemeinschaft und lassen sich in ihrem Tempo auf das Geschehen ein. Der dritte Teil sind regelmäßige Kirchgänger:innen, die neugierig sind, das Projekt unterstützen oder einmal etwas anderes erleben wollen. Demographisch hat sich eine gute Mischung ergeben: Junge Erwachsene und Jungfamilien bis hin zu älteren Personen.
Zwei große Felder haben sich herausgebildet: Karitatives Engagement und gemeinschaftsbildende Aktivitäten.
Kirche anders denken
Motiviert vom gemeinschaftlichen Erlebnis im Gottesdienst und mit einem neuen Blick auf Kirche kann Kirche im dritten Schritt anders gedacht werden. In diesem Bereich ist Vieles noch offen, es haben sich aber zwei große Felder herausgebildet: Karitatives Engagement und gemeinschaftsbildende Aktivitäten.
Karitatives Engagement
Unter dem Titel „Kirche in Aktion“ und frei nach dem Motto „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“ (Jacques Gaillot) wird versucht, sich positiv in die Gesellschaft einzubringen. Die Aktivitäten reichen von Lebensmittelsammelaktionen während der Messe oder vor Ort in Supermärkten über eine Nonstop-Wallfahrt nach Mariazell mit Spendensammlung und digitalem Storytelling bis hin zu Patenschaften für jugendliche Asylwerber. Da Dominik Wagner, der Priester im Team, gleichzeitig Caritasseelsorger ist, ergeben sich hier automatisch Betätigungsfelder und Überschneidungen. Hinzu kommen Kooperationen mit lokalen Vereinen und Organisationen, mit denen Schnittmengen bestehen.
Kirche am Berg und Kirche im Gespräch
Unter „Kirche am Berg“ werden einmal im Monat Wanderungen mit spirituellen Impulsen angeboten, „Kirche im Gespräch“ lädt Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Politik und Gesellschaft einmal im Halbjahr zu einem Austausch ein.
Alphakurs
Für den Herbst ist ein an den Alphakurs angelehnter Glaubenskurs an fünf Abenden und einem Tag geplant, aus dem weiterführende Kleingruppen entstehen sollen. Für diese gibt es keine fixen Vorgaben, idealerweise werden sie von Engagierten aus der Kirche im Kino Community geführt und entsprechen deren Interessen und Fähigkeiten.
Kritik
Bis jetzt übertrifft die positive Resonanz die Kritik bei Weitem. Letztere ist rein innerkirchlich und bezieht sich meist auf folgende Punkte:
Warum muss es ein Kino sein? Dasselbe würde doch in einer Kirche auch gehen.
Stimmt, nur ist es dann eben Kino in der Kirche und nicht Kirche im Kino. Das Kino ist bewusst gewählt als ein Ort, an dem sich Menschen prinzipiell gerne aufhalten und der für eine bestimmte Atmosphäre und gute Geschichten steht. Warum nicht Jesus, der selbst oft über Bildergeschichten/Gleichnisse Menschen angesprochen hat, gerade an diesem Ort eine Bühne bieten?
Warum ausgerechnet eine Messe? Es gibt so viele andere Formen, die man wählen könnte, wenn man andere Menschen erreichen will.
Stimmt auch, aber Anspruch von Kirche im Kino ist es, die Messe als „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens (LG 11)“ in einer Form zu feiern, die sowohl Kirchgänger:innen als auch Kirchenferne anspricht. Aufgrund des speziellen Charakters ist Kirche im Kino daher nicht einfach „eine Messe mehr“, sondern ein neues und eigenständiges Konzept im Sinne von Innovation als Variation von Tradition.
Warum werden so viele Ressource in eine Messe gesteckt? Ist Kirche nicht mehr als der Sonntagsgottesdienst?
Das ist sie natürlich, deshalb gibt es mit Kirche in Aktion, Kirche am Berg etc. auch andere Formate, die andere Menschen anziehen. Aber der Sonntag ist nach wie vor der Tag, an dem potenziell am meisten Menschen Zeit haben und an dem man einen positiven Impuls für die Woche mitgeben kann. Der Sonntag steht für das Feiern des Glaubens in Gemeinschaft und dem Erzählen eines positiven Narrativs, dass den vielen negativen Narrativen um uns herum die Stirn zu bieten imstande ist.
Innerkirchlich scheint man an manchen Orten das Ende der Volkskirche schulterzuckend akzeptiert zu haben und allen Initiativen, die in irgendeiner Form missionarisch ausgerichtet sind, mit Skepsis zu begegnen. Dabei hat bereits in den 1970er Jahren Karl Rahner diese Haltung kritisiert: „Vermittelt wird das Gefühl, es sei theologisch unanständig, Menschen für die Kirche zu gewinnen. Zwar wird ein missionarisches Grundsatzpapier nach dem anderen angefertigt. Doch will man praktisch höchstens die Menschen ein Stück auf ihrem individuellen Lebensweg begleiten. Ein wenig vom Evangelium soll diakonal in die Biographie implementiert werden. Aber dass Menschen in die Kirche eintreten und zu uns gehören: Das gilt als verwerflich. Die Frage ist dann allerdings, wer dann morgen unsere Arbeit weitermacht und wer missionieren wird. Vor allem aber: Entspricht solche vermeintliche kirchliche Selbstlosigkeit (ist sie mehr als Zweifel an der theologischen Wichtigkeit von Kirche für die heilende Arbeit Gottes in der Welt?) wirklich den Absichten Gottes, seiner Art, sich um das Heil der Welt zu kommen?“[5]
Ausblick
Kirche im Kino ist gut gestartet; junge Menschen haben angedockt und bringen sich ehrenamtlich ein; Menschen, die Kirche noch nicht abgeschrieben haben, aber für sich keinen passenden kirchlichen Ort finden konnten, werden neu inspiriert. Die kommenden zwei Jahre werden zeigen, wohin der Weg geht. Ziel ist es, finanziell unabhängig zu werden und eine Gemeinde aufzubauen, die sich nicht mit dem Status Quo zufriedengibt, in der das Evangelium in Wort und Tat erfahrbar ist, und deren Mitglieder selbstbewusst und ohne Hintergedanken andere einladen, sich das Ganze einmal anzuschauen.
[1] Vgl. z.B.: Swoboda, Norbert, Wenn sich die Kirche im Kino abspielt, in: https://www.kleinezeitung.at/steiermark/18014263/wenn-sich-die-kirche-im-kino-abspielt [abgerufen am 24.07.2024]; ORF-Beitrag „Orientierung“ vom 26.05.2024, https://on.orf.at/video/14227897/15646384/kirche-im-kino-orientierung-vom-26052024 [abgerufen am 24.07.2024].
[2] Die Kurzform dieser Botschaft könnte lauten: „Es gibt jemanden, der dich bedienungslos liebt. Wir nennen diesen Jemand Gott.“
[3] Vgl. Mittl, Florian: Wachstum trotz schwieriger Zeiten. Was wir von der US-Kirche Church of the Nativity lernen können, in: Kopp, Stefan (Hg.): Von Zukunftsbildern und Reformplänen. Kirchliches Change Management zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Freiburg im Breisgau: Herder 2020, 328-343.
[4] In der Religionswissenschaft spricht man von Bindungskräften/Gratifikationen durch den Glauben. Es handelt sich dabei „um jene ‚wohltuenden‘, tröstenden oder auch verändernden Erfahrungen […] die für das eigene Leben hilfreich sind. Das ist kein Konzept der ‚Vernützlichung‘ der Religion, sondern fragt eher nach der ‚Stimmigkeit‘, dem ‚Einklang‘ zwischen Evangelium und Leben.“ Zulehner, Paul: Neue Schläuche für jungen Wein. Unterwegs in eine neue Ära der Kirche, Ostfildern 2017, 22. Konkrete Antworten auf die Frage „Was habe ich vom Glauben?“ können sein: Sinnstiftung, Orientierung, ein positiver Blick auf die Zukunft, Heilung, Resilienz, Gemeinschaft, Motivation zu gemeinwohlorientiertem Engagement.
[5] Rahner, Karl: Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Freiburg 1972, 88.
—
Beitragsbild: (C) Gmoser