Vom 21. bis 24. Februar wird im Vatikan eine Konferenz zur Missbrauchsthematik stattfinden, zu der Papst Franziskus die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen aus der ganzen Welt eingeladen hat. Feinschwarz.net setzt im Umfeld dieser Konferenz einen Schwerpunkt mit mehreren Beiträgen. Nach dem kirchenrechtlichen Aufruf zur Übernahme von Verantwortung (Thomas Schüller) folgt nun eine pastoralpsychologische Perspektive von Wolfgang Reuter.
Die Veröffentlichung der MHG-Studie1 gab einen erschütternden Einblick in die Missbrauchsdynamik und -praxis innerhalb der katholischen Kirche Deutschlands. Doch nicht genug. Zuletzt wurde offenkundig, dass Missbrauch ein Thema der katholischen Kirche weltweit ist. Es ist folgerichtig, dass nun endlich auch in Rom eine Konferenz zum Thema stattfindet. So weit, so gut. Aber wird dies, neben den Initiativen in den Bistümern, ausreichen? Zur Aufarbeitung der Krise ist es aus pastoralpsychologischer Perspektive unerlässlich, die vielfältigen Verstrickungen (innerhalb) der Kirche in das das Beziehungstrauma erst ermöglichende traumatische Milieu in den Blick zu nehmen. Wo dies nicht geschieht, wird der Kirche – auf welcher Ebene auch immer – weiter der Geruch einer Täterorganisation anhaften. Es gibt noch viel zu tun.
Dem Übel auf den Grund gehen
Ja, seit der Veröffentlichung der Studie hat sich Einiges getan und das ist gut so. Wichtig ist es, das Thema weiterhin wach zu halten, wozu gegenwärtig Viele beitragen. Doch Vorsicht, denn es ist zugleich weiterhin zu beklagen, dass die bisher ergriffenen vielfältigen Maßnahmen noch lange nicht ausreichen, dem Übel wirklich auf den Grund zu kommen.
systemische und milieubedingte Zusammenhänge
Nahezu sämtliche Bemühungen zur Aufarbeitung des Skandals bleiben weiterhin der symptomatischen Oberfläche verhaftet, so lange nicht die dies Alles ermöglichenden systemischen und milieubedingten Zusammenhänge erkannt, offenkundig gemacht und angegangen werden. Dies wird neben aller Aufarbeitung eines jeden einzelnen Falles zur Hauptaufgabe der kirchlich Verantwortlichen und des gesamten Volkes Gottes, wie auch zu einer neuen Grundfrage theologischer Forschung werden.
Auch die Theologie ist mit im Boot …
Auch die Theologie als Wissenschaft ist mit im Boot. Angesichts der Missbrauchsthematik steht sie, mit nahezu allen Fächern, vor epochalen Herausforderungen. Nicht, dass sie nun schnelle Lösungen erarbeiten sollte und damit auf ihre Weise zur Bewältigung der Krise einen eigenen Beitrag leisten könnte. Das kann sie – zumindest auf die Schnelle – nicht. Aber insofern sie – gerade in den praktischen Fächern – die Praxis der Kirche von ihren Grundlagen her erforscht, sie in der Gegenwart im Diskurs mit angrenzenden Wissenschaften kritisch reflektiert und immer wieder neu konzipiert, ist sie nun in dieser kritischen Angelegenheit selbst besonders gefragt.
grundlegende Relecture
Die Frage zielt letztlich dahin, ob und inwieweit die Theologie als Wissenschaft angesichts der Missbrauchthematik selbst auch einer grundlegenden Relecture ihrer Bestimmung und ihrer Aufgaben bedarf, damit sie im abhängigkeitsförderlichen System universitären Arbeitens und Forschens nicht unbewusst traumatisierende Milieus und traumaförderliche Systeme stützt oder solche gar selbst generiert. Dies wäre übrigens ein wirksamer Beitrag zur Prävention.
Missbrauch im Blick der Pastoralpsychologie
Wir stehen hier vor einem weiten Feld, das erst noch der Bearbeitung harrt – Bearbeitung nicht nur an der Oberfläche, sondern in der Tiefe. Mit auf dieses Feld gehört natürlich die Pastoralpsychologie. Als theologische Wissenschaft, die in besonderer Weise den Diskurs mit ihren psychologischen Nachbardisziplinen pflegt, weiß sie sehr genau um die Bedeutung von Entwicklung und Beziehung für das Leben der Menschen, wie auch um die fatalen Konsequenzen ihrer Störungen.
psychoanalytisch und systemisch
Aus der Perspektive einer psychoanalytisch und systemisch konzipierten Pastoralpsychologie wird es nicht ausreichen, dieses Wissen nun auf einzelne Fälle des Missbrauchs zu beziehen. Natürlich ist es unerlässlich, jedem einzelnen Opfer den notwendigen Raum zur Aufarbeitung seines Traumas und – soweit das überhaupt möglich ist – (nicht nur finanzielle) Angebote zur Auferbauung – Re-Konstruktion – seines zerstörten Selbst anzubieten. Zum heilsamen Wiederaufbau des durch den Missbrauch zerstörten Selbst bedarf es mehr, als einiger von der Kirche finanzierter Therapiestunden, begleitet von der Bekundung tiefsten Bedauerns und einigen durchaus glaubhaften Versprechungen, künftighin nun alles anders machen zu wollen.
Die Kirche – eine Täterorganisation?
Die Kirche wird vielmehr aufarbeiten müssen, welchen Anteil sie auf den entsprechenden Ebenen ihres Handelns und der Verantwortlichkeit an den Taten und an deren Ermöglichung hat. Ist sie, so muss man fragen, eine Täterorganisation? Natürlich ist sie das in ihrer Gesamtheit nicht. Auf der Ebene amtlicher Verantwortung hat sie sich allerdings durch ihre längst noch nicht zur Genüge aufgedeckte Praxis der Vertuschung und Verschleierung selbst in den Geruch einer die Täter schützenden Organisation gebracht. Nach Aussage der Verantwortlichen in den Bistumsleitungen soll sich dies nun ändern.
noch nicht zur Genüge aufgedeckte Praxis der Vertuschung und Verschleierung
Nun gut. Dazu bedarf es einer neuen Praxis im Umgang mit den Opfern, den Tätern und Täterinnen sowie mit den den Missbrauch erst ermöglichenden Rahmenbedingungen2. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört es, die zum großen Teil unbewusste Verstrickung der Kirche in traumaförderliche Milieus, die den Missbrauch ermöglichen, in den Blick zu nehmen, um diese dann vom Fundament her anzugehen und sie, soweit als möglich, in lebensfreundliche Milieus zu verwandeln. Hier sind Seelsorge, Pastoral und Theologie gefragt, wie auch das Votum des Volkes Gottes, das sich in vielerlei Stellungnahmen zunehmend Gehör verschafft.
Im traumatiserenden Milieu
Mit dem Blick aufs Milieu ist im weitesten Sinne eine systemische Perspektive eröffnet. Zusammengenommen mit moderner Traumatheorie3 weitet dies den Blick auf systemimmanente Strukturen, welche die Rahmenbedingungen für den Missbrauch nachhaltig fördern, ja ihn letztlich erst ermöglichen. Der Missbrauch ist demzufolge keine rein exklusive Beziehungstat zwischen Täter und Opfer, wiewohl er – paradox (!) – dies natürlich bleibt. Vielmehr hat er seinen Wurzelgrund in einem traumatisierenden oder Trauma förderlichen Milieu, in dem vielfältige Gestalten von Beziehungstraumata, darunter der sexuelle Missbrauch, gedeihen können und praktiziert werden. Sexuellen und anderen Machtmissbrauch lediglich als eine dyadische Beziehungskonstellation zu verstehen, greift von daher eindeutig zu kurz.
Wurzelgrund in einem traumatisierenden oder Trauma förderlichen Milieu
Will man nun Trauma und Missbrauch förderliche Strukturen im kirchlichen Milieu erkennen und entlarven, so bedarf es eines systemischen Blickes auf das Ganze. Natürlich bleiben hier die Täter verantwortlich für ihre Taten und das Leiden der Opfer soll dadurch in keiner Weise geschmälert werden. Mittels einer triadischen Perspektive, die das Missbrauch ermöglichende komplexe System oder das zu Grunde liegende Milieu näher in den Blick nimmt und analysiert, wird allerdings die Fokussierung auf die Täter-Opfer-Dynamik als dyadischer Beziehungskonflikt aufgehoben, die Symptomebene als bevorzugter Deuterahmen wird verlassen. Will sich die Kirche wirklich aus dem sie selbst nach unten ziehendem Missbrauchsstrudel befreien, so bleibt ihr keine andere Wahl, als den Weg dieser komplexen Aufarbeitung zu wählen.
Moderne psychoanalytische Traumatheorie
Ein Blick in die moderne psychoanalytische Traumatheorie bringt in diesem Zusammenhang wichtige Erkenntnisse und eröffnet neue Perspektiven. Über die Tat des Täters und ihre Wirkung auf das Opfer hinausgehend, werden hier weitere traumaförderliche Faktoren beschrieben, die dann ein ebensolches Milieu konstituieren. Dabei ist zunächst an den mangelnden Schutz durch den Täter und andere Bezugspersonen zu denken. Von gleicher Relevanz ist das Verleugnen und Verschweigen des Traumas in der Familie, in Gesellschaft, Schule, Internat, im Sportverein, in Gemeinde und Kirche – dies oft über Generationen hinweg.
mangelnder Schutz durch andere
Unter dem Aspekt des mangelnden Schutzes durch andere kommt in unserem Zusammenhang gerade Eltern, weiteren Familienmitgliedern, Lehrpersonen, wie auch Gemeindmitgliedern und Seelsorgenden, nicht zuletzt kirchlich Verantwortlichen, die im Verleugnungssystem des Missbrauchs mitagierten, eine häufig übersehene Relevanz für die Entstehung des Traumas und des traumatischen Milieus zu. Aus der Perspektive des Opfers haben sie sich ihm als schützende Dritte entzogen und wurden so trotz ihrer realen Anwesenheit zum abwesenden Dritten. Eine für die Opfer fatale Beziehungskonstellation.
Verlust des Selbst
Alle genannten Faktoren, und nicht allein die Tat, führen beim Opfer zu der tiefen Verletzung, die als „Verlust des Selbst“4 bezeichnet wird, ein Verlust, der wiederum durch den „Verlust des Anderen“, beispielsweise als Schutz gebende Drittperson, induziert ist. In dieser Beziehungsdynamik werden Grenzen und Differenzen von Geschlecht und Generation überschritten oder außer Kraft gesetzt. Hierdurch wird im intersubjektiven Verhältnis die Integrität der Person, das Recht auf Autonomie, sowie der Wunsch nach Selbstbestimmung und Grenzsetzung existentiell verletzt. Das dynamische Verhältnis von Nähe und Distanz, die Erfahrung von Differenz, Getrenntheit und Alterität sowie die für Entwicklung in Beziehung existentiell erforderliche Symbolisierungsfähigkeit werden hier eliminiert.
Dem Übel radikal begegnen
Ich erwähne diese Erkenntnisse der Traumatheorie, weil sie den Weg für einen wichtigen Perspektivenwechsel anbahnen. Eine Aufarbeitung der Missbrauchskrise innerhalb der Kirche allein auf der Ebene des Täter-Opfer-Schemas ist weiterhin dringend erforderlich und greift zugleich zu kurz. Will man das Übel wirklich radikal angehen, so kommt man nicht umhin, auf allen Ebenen kirchlichen Handelns die eigene, oft unbewusste Verstrickung in traumaförderliche Milieus in den Blick zu nehmen. Billiger und einfacher ist eine Befreiung aus dem Missbrauchsstrudel wohl nicht zu haben. Hier sind Alle gefragt, auch die Theologie. Es gibt noch viel zu tun.
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Dr. Wolfgang Reuter war bis 2018 Professor für Pastoralpsychologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar und ist heute Privatdozent für Pastoralpsychologie daselbst. Er ist Seelsorger für Menschen mit psychischer Erkrankung am LVR-Klinikum in Düsseldorf und Psychoanalytiker in eigener Praxis. Kontakt: dr.wolfgangreuter@t-online.de
Bild: Sebastian Voortman, StockSnap
Vom Autor bisher auf feinschwarz.net erschienen:
Brief-Geheimnis. Das Schreiben des Papstes an das Volk Gottes zwischen den Zeilen gelesen
- Forschungsprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz» (= MHG-Studie), Veröffentlichung des Berichts: Mannheim, Heidelberg, Giessen am 24. September 2018. ↩
- Siehe hierzu das Themenheft in: Münchner Theologische Zeitschrift 62 (2011/1). Darin insbesondere: Thea Bauriedl, Sexueller Missbrauch von Kindern. Eine durch die Generationen weitergegebene Traumatisierung, ebd. 15–21, die hier auch die Frage aufwirft, ob die Täter immer „nur Männer“ seien (18-19). ↩
- Werner Bohleber, Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse, in: Psyche 54 (2000/Heft 9) 797-839. Mathias Hirsch, Psychoanalytische Traumatologie, Stuttgart 2004. Wolfgang Reuter, Relationale Seelsorge. Psychoanalytische, kulturtheoretische und theologische Grundlegung, Stuttgart 2012, 140-143. ↩
- Joachim Küchenhoff, Verlust des Selbst, Verlust des Anderen – die doppelte Zerstörung von Nähe und Ferne im Trauma, in: Psyche 58 (2004/Heft 9) 811-835. ↩