Seit die Missbrauchsverbrechen im Raum der katholischen Kirche aufgedeckt wurden, hat sich der Vertrauensverlust in die (oft als abgrundtief gnadenlos erlebte) „Gnadenanstalt“ dramatisch beschleunigt. Max-Josef Schuster denkt über Evangelisierung im Horizont der kirchlichen Missbrauchsverbrechen nach.
Verbrechen des Missbrauchs und der Vertuschung sowie eine Unfähigkeit (oder Unwilligkeit) von Verantwortlichen, Verantwortung zu übernehmen, erschüttern die katholische Kirche in ihren Grundfesten. Ein Ende ist nicht in Sicht. Inzwischen treten engagierte Christen aus der Kirche aus, weil sie ihren Glauben gerade nicht verlieren, sondern durch ihren Austritt retten wollen. Gleichzeitig wird um eine angemessene Antwort auf diese Situation gerungen. Es braucht Reformen, sagen die einen, – es braucht eine neue Evangelisierung, sagen die anderen.
Ich möchte von einer geistlichen Perspektive berichten, die mich aus dem „entweder – oder“ herausgeführt hat. In meinen letzten Berufsjahren hat diese Perspektive mein pastorales Handeln geleitet. Und ich habe gespürt, dass sie heilsam war – für mich, und für die Menschen, mit denen ich unterwegs war: ehrlich, entlastend und befreiend.
Illusion von der Kirche als heiler Welt loslassen.
Für eine präzise Einschätzung der Lage aus der Sicht kirchlich missbrauchter Menschen gebe ich der Philosophin Doris Reisinger das Wort: „Wir haben ein massives Problem, und das ist die Illusion von der Kirche als heiler Welt. Es klingt absurd, aber auch in einer Zeit, in der das Wort Kirche fast schon synonym mit dem Wort Missbrauch ist, halten viele noch an Illusionen über die Kirche fest. Das sind Illusionen, die wir als Betroffene auch hatten.“1
Wenn Hauptamtliche ihre Illusionen über die Kirche als „heile Welt“ loslassen: was geschieht dann? Was kann in dieser heillosen kirchlichen Lage „Evangelisierung“ heißen? Ich habe mich an eine schmerzhafte geistliche Diagnose von Dietrich Bonhoeffer erinnert. Auch wenn die meisten Priester, Diakone und Hauptamtlichen keine Missbrauchs-Täter sind, gilt meines Erachtens das, was Dietrich Bonhoeffer über die Kirche in der Nazizeit geschrieben hat, übertragen (im Blick auf Verantwortliche in der Kirchenleitung) auch heute: „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein.“ Und er fährt fort: „Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und aus diesem Tun.“2
Evangelisierung: Beten und Tun des Gerechten.
Eine gewohnte, kraftlos gewordene Form der Evangelisierung muss also verstummen, weil meine Kirche nicht mehr fähig ist, den Menschen glaubwürdig Versöhnung und Erlösung zu predigen. Bonhoeffers Worte haben mir geholfen, meine Evangelisierungs-Praxis neu zu orientieren: in Richtung Beten und Tun des Gerechten. Diese Ausrichtung hat dazu geführt, dass sich in Begegnungen und Projekten etwas ereignet hat, was den Menschen dient.
Beten
Die Ausrichtung auf Gott im Gebet hat eine persönliche, systemische und liturgische Dimension. Die persönliche Fähigkeit zum Gebet wurzelt in der Taufe: alle Getauften sind ja priesterliche Menschen, die sich – ohne klerikale Vermittlung – direkt an Gott wenden können. Für systemische Anlässe der Evangelisierung (Seelsorge, Kasualien, Begleitung, Beratung …) habe ich von Klemens Schaupp3 die Methode des „Trialogs“ gelernt: zuerst mich selbst auf Gott auszurichten, und gleichzeitig davon auszugehen, dass mein Gegenüber längst auf ureigene, unverfügbare Weise mit Gott verbunden ist. Das schützt die Freiheit meines Gegenübers und bewahrt mich davor, durch Druck, Manipulation oder Kontrolle jemanden geistlich zu missbrauchen.
In der Liturgie besteht die Gefahr, dass Hauptamtliche das priesterliche Gebet der Getauften durch ihre liturgische Machtposition erschweren oder verhindern.4 In einer ländlichen anglikanischen Gemeinde habe ich es wohltuend anders erlebt: zu den Fürbitten ging die Diakonin hinter die letzte Kirchenbank und ermunterte von dort die Gläubigen, in einer Zeit der Stille persönlich zu beten. Alle knieten nieder und vertieften sich – auch durch ihre Haltung sichtbar – intensiv ins Gebet. Danach griff die Diakonin konkrete Anliegen verschiedener Menschen auf: für die neue Rektorin der Grundschule, für die Erstklässler*innen, für alle Menschen in einer Straße des Ortes, für die Opfer einer Terror-Attacke in London … Auch hier war eine intensive Gebets-Atmosphäre spürbar.
Tun des Gerechten
Das Zweite Vatikanische Konzil hat dem Missverständnis von Kirche als Selbstzweck mit lehramtlicher Autorität einen Riegel vorgeschoben, indem es ihren Auftrag neu definiert hat: „Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Aufbau der menschlichen Gemeinschaft.“5 Damit verbunden ist eine dogmatische Weichenstellung: „Das Konzil glaubt an die Berufung des Menschen und bekennt sich auch zu ihr. Sie ist sein Dogma.“6
Die notwendigen strukturellen und systemischen Reformen des „Synodalen Weges“ setzen diesen Auftrag des Konzils um. Gleichzeitig ist bei der Evangelisierung vor Ort immer wieder zu fragen, wo gerechtes Tun gefordert ist: als Parteinahme, Empowerment, Anwaltschaft … Ich habe beispielsweise ein neues Konzept der Kommunionvorbereitung entwickelt, das den knappen zeitlichen Ressourcen von Kindern und Eltern und ihren geistlichen Potenzialen besser gerecht wird.
Gerechtigkeit ist nicht nur ein zentraler biblisch-theologischer Begriff, sondern auch ein universal-menschlicher Wert. Er hängt zusammen mit den Menschenrechten und der Menschenwürde. Dazu noch einmal Doris Reisinger: „Wir alle tragen diese Würde in uns, und wir besitzen die aus ihr hervorgehenden unveräusserlichen Rechte. Sie zu achten und zu verteidigen, gelegen oder ungelegen, und auch gegen Widerstände und kalte Willkür, das wäre die Aufgabe der Kirche – gewesen. Es wird – egal, was aus der Kirche wird, – unsere Aufgabe bleiben. Die Würde jedes Menschen zu achten und zu verteidigen, daran werden wir alle uns messen lassen müssen.“7
Kirche sein lassen
„Egal, was aus der Kirche wird“: Hauptamtliche können – und brauchen – die Kirche nicht retten. Denn die Kirche ist ein Unternehmen Gottes. Wer dem Evangelium treu bleiben und die heillose kirchliche Lage ernst nehmen will, sollte sich bewusst machen: es geht nicht um die Kirche, sondern darum, zu beten und das Gerechte zu tun. Die Kirche können die Hauptamtlichen einfach sein lassen. Was für eine Entlastung! Und was für eine Umkehr zum Kern der christlichen Botschaft!
Es genügt, mit Leidenschaft, Freude und Hingabe Gott zu suchen und den Menschen zu dienen. Dann wird sich womöglich „Kirche“ ereignen. Oder auch nicht. Ganz so, wie Gott es will.
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Bild: Birgit Hoyer
- Doris Reisinger, Ich habe jegliches Vertrauen in die katholische Kirche verloren. Rede bei der Entgegennahme des Herbert-Haag-Preises 2022. ↩
- Dietrich Bonhoeffer, Gedanken zum Tauftag von D. W. R (Mai 1944), in: Ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 1951, 211-222; hier 221. ↩
- Klemens Schaupp, Gott im Leben entdecken. Einführung in die geistliche Begleitung, Kevelaer 2006, 17-24. ↩
- … beispielsweise bei den Fürbitten, wenn die Getauften durch eine Flut „von oben“ vorformulierter und vorgelesener Bitten „mundtot“ gemacht werden, oder wenn jede kleinste Stille mit Worten ausgestopft wird … ↩
- Pastorale Konstitution „Gaudium et Spes“ über die Kirche in der Welt von heute, Artikel 3, in: in: Karl Rahner / Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, Freiburg Basel Wien 1966, 450. ↩
- Elmar Klinger, Der Glaube des Konzils. Ein dogmatischer Fortschritt. In: E. Klinger / K. Wittstadt, Glaube im Prozeß. Christsein nach dem II. Vatikanum, Freiburg i. Br. 1984, 615-626; hier: 623. ↩
- Doris Reisinger, Ich habe jegliches Vertrauen in die katholische Kirche verloren (wie Anmerkung 1). ↩