Die Verhältnisse zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft sind dynamisch. Daniel Kosch reflektiert Impulse des Konzils zur Orientierung in diesem weiten Feld.
Das Verhältnis zwischen Kirchen, Religionsgemeinschaften und dem Staat sorgt im deutschsprachigen Raum seit einiger Zeit für Diskussionen, Suchprozesse und Spannungen. Debattiert wird das Thema nicht nur auf der politischen bzw. gesamtgesellschaftlichen Ebene, sondern auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche. In der Schweiz kreist die innerkatholische Diskussion um das sogenannte «duale System», also das Mit- und Nebeneinander von kanonisch-rechtlichen und staatskirchenrechtlichen Strukturen. In Deutschland hat zuerst der «Entweltlichungs»-Diskurs von Papst Benedikt XVI. und dann der Kontrast zwischen dem «Fall Limburg» und dem Plädoyer von Papst Franziskus für eine «arme Kirche der Armen» für Gesprächsstoff gesorgt, im Fürstentum Liechtenstein wird seit der Ernennung des umstrittenen Churer Bischofs Wolfgang Haas zum Oberhaupt des neu gegründeten Erzbistums um eine Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften gerungen, in Luxemburg wurde das Verhältnis von Staat und Kirche erst kürzlich innert kürzester Zeit radikal umgebaut und in Österreich sorgte ein Islamgesetz für Diskussionsstoff.
Das Verhältnis zwischen Kirchen, Religionsgemeinschaften und dem Staat sorgt im deutschsprachigen Raum seit einiger Zeit für Diskussionen, Suchprozesse und Spannungen.
Schon dieser stichwortartige Überblick zeigt, dass das Verhältnis von Staat und Kirche und folglich auch die diesbezüglichen Debatten stark «pfadabhängig», das heisst von historischen Entwicklungen und spezifischen Erfahrungen mit dem Thema geprägt sind. Gleichzeitig ist zu beachten, dass es problematisch wäre, die Debatte um das Verhältnis von Staat und Kirche allzu sehr auf die historische Prägung und den eigenen «Sonderfall» zu fokussieren. Denn mindestens so entscheidend für die Zukunft des Verhältnisses von Staat und Kirche sowie Religionsgemeinschaften sind die gesellschaftlichen und religionssoziologischen Umbrüche im gesamten westeuropäischen Raum, die gemeinhin mit den Schlagworten De-Konfessionalisierung, De-Institutionalisierung, wachsende Kirchendistanz, Individualisierung und zunehmende Marktförmigkeit des Religiösen charakterisiert werden. Hinzu kommt eine weltweit neu aufflammende Diskussion um das Verhältnis von Religion und Politik, die stärker von der Angst vor gefährlichen Folgen stark ausgeprägter Formen von Religiosität geprägt ist als von der Erfahrung, dass Religion eine lebensdienliche Ressource für Individuen, Gemeinschaften, den Staat und das friedliche Zusammenleben in der Welt von heute ist.
Diesen für das Verhältnis von Religion, religiösen Institutionen, Staat und Gesellschaft sehr bedeutsamen Umbrüchen gilt es nicht nur im Blick auf die aktuelle Kirche-Staat-Problematik Rechnung zu tragen, sondern auch im Blick auf die Re-Lektüre der Konzilstexte mit Blick auf die Frage, welche Impulse von ihnen für die aktuellen Diskussionen ausgehen. Denn das Zweite Vatikanische Konzil fand in einem Kontext statt, der sich gerade in Bezug auf die Stellung der Kirchen in der Gesellschaft markant von unserer heutigen Situation unterscheidet. Zudem hatte das Konzil nicht nur das christliche Europa im Blick, sondern die ganze Welt.
… das Zweite Vatikanische Konzil fand in einem Kontext statt, der sich gerade in Bezug auf die Stellung der Kirchen in der Gesellschaft markant von unserer heutigen Situation unterscheidet.
Schon aus diesen Gründen wäre es illusorisch, vom Konzil fertige Antworten oder gar Rezepte für die heute anstehenden Fragen rund um das Verhältnis von Kirchen, Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft zu erwarten. Ein solcher «Konzilsfundamentalismus», der einzelne Aussagen des Konzils als direkte Antwort auf heutige Fragen liest, stünde darüber hinaus im Widerspruch zu dessen klarer Forderung, die bleibenden Fragen der Menschen «in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise» zu beantworten (GS 4). Diese Forderung wird auch dort, wo es ausdrücklich um «politische Gemeinschaft und Kirche» geht, ausdrücklich erhoben: bei deren Zusammenwirken «sind jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen» (GS 72). Dies ist auch der Grund dafür, dass ich nicht von «Antworten» des Konzils auf die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat spreche, sondern lediglich von «Impulsen», die von diesem Konzil ausgehen.
1 Historische Rahmenbedingungen
Bevor ich jedoch auf diese Impulse des Konzils zu sprechen komme, ist es unerlässlich, einen Blick auf die weltpolitische und religiöse Lage zur Zeit des Konzils zu werfen.
Nur 15 bis 20 Jahre nach Weltkriegs-Ende
Papst Johannes XXIII. Kündigte das Konzil nur 13 Jahre nach Abschluss des Zweiten Weltkriegs an. Sein Abschluss im Jahr 1965 war nur 20 Jahre vom Kriegsende entfernt war. Mit dem Faschismus, dem Nationalsozialismus und den über das Kriegsende hinaus bestehenden kommunistischen Regimes waren die Welt und die Kirche mit verschiedenen Formen eines anti-kirchlichen und religionsfeindlichen Totalitarismus und eines nicht-religiösen Fanatismus konfrontiert. Wo Priester, die sich im Widerstand engagierten, in nationalsozialistischen Konzentrationslagern hingerichtet wurden, Bischöfe, die nicht mit dem kommunistischen Regime kollaborierten, in sibirischen Arbeitslagern verschwanden, und schon der Besitz einer Bibel politisch verdächtig war, waren Forderungen nach Religionsfreiheit (DH) und nach uneingeschränkter Ausübung des bischöflichen Amtes (CD 19f.) von erheblicher Brisanz und Dringlichkeit. Die Konzilsväter wussten sehr genau und teils aus eigener Erfahrung, dass der Staat für die Menschen und die Christen nicht nur Freund und Helfer sein kann, sondern auch Gegner und Unterdrücker. Sie waren sich der Tatsache bewusst, dass es Konstellationen gibt, in denen Staatsnähe und die Umarmungsversuche der Mächtigen für die Kirchen und ihr Zeugnis gefährlich sind und in denen Distanz oder gar der Mut erforderlich sein kann, «dem Rad in die Speichen zu fallen» (Dietrich Bonhoeffer).
Autoritäre Regimes in «katholischen Staaten»
Neben atheistischen gab es autoritäre Regimes in zutiefst katholischen Staaten, man denke nur an die Diktatur von General Franco in Spanien. Auch solche Regimes neigten dazu, auf den Kurs der Kirche Einfluss zu nehmen, etwa bei Bischofsernennungen. In diesem Kontext war es geradezu subversiv, «totalitäre und diktatorische Formen» des Regierens als «unmenschlich» zu verurteilen (GS 75), dafür zu plädieren, dass «die Bestimmung der Regierungsform und die Auswahl der Regierenden dem freien Willen der Staatsbürger überlassen bleiben» soll (GS 74). Und die Forderung an die Kirche, auf «Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden» zu verzichten, wenn durch diese die «Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist» (GS 76), war sehr selbstkritisch. Denn damit distanzierte sich das Konzil von einer Tradition, in der die Kirche wenig Bedenken hatte, sich mit politischen Regimes zu arrangieren, solange kirchliche und staatliche Autorität gemeinsam ein Bollwerk gegen die bösen «-ismen» bildete, sei es nun Kommunismus, Atheismus, Relativismus, Materialismus oder Individualismus.
Entkolonialisierungs- und Demokratisierungsprozesse
Zugleich fiel das Konzil auch in eine Zeit politischer Umbrüche hin zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Erwähnt seien lediglich der Prozess der Entkolonialisierung (z.B. Algerienkrieg bis 1962), in dem die Länder Afrikas und Asiens sich in z.T. schweren Kämpfen aus der Abhängigkeit von den europäischen Staaten lösten, und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, für die insbesondere Martin Luther King stand. Wenn das Konzil in diesem Kontext vom «Verlangen nach mehr Anteil an der Gestaltung des Lebens der politischen Gemeinschaft», von der Wahrung der «Rechte der Minderheiten» und davon spricht, «dass alle Bürger, nicht nur einige privilegierte, wirklich in den Genuss ihrer persönlichen Rechte gelangen können» (GS 73), ist dies eine klare Parteinahme für Partizipation, Menschenrechte und Demokratie. Der Diskriminierung und kolonialistischen Ausbeutung wird eine klare Absage erteilt. Auch das waren für die Kirche keineswegs Selbstverständlichkeiten. Die Kolonialisierung war oft mit Zwangschristianisierung einhergegangen, Theologie und Kirche hatten Sklaverei und Rassendiskriminierung gerechtfertigt und sowohl Menschenrechte als auch Demokratie galten lange als Gefahren.
Noch starke Stellung der Kirchen in den christlichen Ländern des Westens
Was die Stellung der Kirche bzw. der Kirchen in den traditionell christlichen Ländern des Westens betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass ihre Dominanz im Bereich von Religion und Weltanschauung zur Zeit des Konzils noch unangefochten war – die Zahl der Konfessionslosen und der Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften war verschwindend klein. Erst mit 1968 brach der Widerstand gegen die traditionellen Autoritätssysteme auf. Das religiöse Establishment kam ebenso unter Beschuss wie das politische oder universitäre: freie Liebe statt prüder Sexualmoral, antiautoritäre Erziehung statt schulischer Disziplin, basisdemokratisches Sit-In statt professoraler Vorlesung, Beatles statt Bach, lange Haare statt militärischem Kurzhaarschnitt …
Dieser gesellschaftliche Aufbruch war zweifellos einer der Hauptgründe für die rasch einsetzende innerkirchliche Polarisierung, die zu einem bis heute anhaltenden Streit um das Konzil führte. Denn bei dieser Polarisierung geht es nicht zuletzt um die Frage, ob die Kirche die Menschen und die Gesellschaft auf diesem Weg zu mehr individueller Freiheit und Selbstbestimmung begleiten soll – oder ob sie ihre Wahrheit verteidigen und Tendenzen, die mit Berufung auf das Konzil über das Konzil hinausgehen wollen, eine klare Absage erteilen soll. Diese Debatte war und ist weit mehr als ein innerkirchlicher Konflikt – denn sie hat weitreichende Auswirkungen auf das Verhältnis der Kirche zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Wie soll sie sich in familienpolitischen Debatten positionieren? Wie in der Frage von Geburtenkontrolle oder Abtreibung? Wie beurteilt sie die Emanzipationsbewegung der Frauen? Wie sind Befreiungsbewegungen theologisch einzuordnen, die für mehr Freiheit und Gerechtigkeit und gegen Armut und Ausbeutung kämpfen?
Dieser gesellschaftliche Aufbruch war zweifellos einer der Hauptgründe für die rasch einsetzende innerkirchliche Polarisierung, die zu einem bis heute anhaltenden Streit um das Konzil führte.
Wie gesagt: Diese Fragen brachen erst kurz nach dem Konzil in ihrer ganzen Schärfe auf. Dem Konzil gelang es noch, Kompromissformeln zu finden oder Gegensätze zuzudecken, indem neben die Formulierungen der Konzilsmehrheit auch Sätze oder Nebensätze aufgenommen werden, welche die Konzilsminderheit zufrieden stellten.
2 Fundamentale Perspektivenwechsel
Nun könnte man versucht sein, aus dem Kompromiss-Charakter der Konzilsdokumente abzuleiten, man könne mit dem Konzil «alles beweisen». Die teils heftige Debatte um das Verhältnis von Kirche und Staat in der Schweiz, aber auch die Kontroverse um die Rede von Papst Benedikt XVI. in Freiburg 2011, die eine «Entweltlichung» der Kirche forderte, könnten dieser Behauptung Auftrieb verleihen. Denn in beiden Diskussionen berufen sich jeweils Befürworter wie Gegner unter anderem auf das Konzil und untermauern ihre Ansichten mit entsprechenden Konzilsaussagen. Ich vermute, das sei auch im Fürstentum Liechtenstein so.
Dieses Phänomen unterschiedlicher Interpretationen des Konzils (wie auch der Bibel) ist m.E. ernst zu nehmen. Ich nehme es für mich immer zum Anlass, sorgfältig zu prüfen, ob meine eigene Position genug auf Differenzierungen achtet oder ob sie blinde Flecken aufweist und verdrängt, was nicht passt. Aber zugleich bin ich überzeugt, dass das Zweite Vatikanische Konzil auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft einige fundamentale Perspektivenwechsel vorgenommen hat, die auch fünfzig Jahre später noch wegweisend sind. Auch wenn die Konzilstexte – bildlich gesprochen – ein buntes und uneinheitliches Gewebe darstellen, gibt es doch so etwas wie einen «roten Faden» und ein «Webmuster», die dem Gewebe einen Charakter geben.
2.1 Religionsfreiheit
Als erste Errungenschaft des Konzils ist das klare Bekenntnis zur Religionsfreiheit zu erwähnen. Um die entsprechende Erklärung «Dignitatis humanae» wurde heftig gerungen und sie war der letzte Text, den das Konzil verabschiedete. Kein Staat, keine Institution hat das Recht, dem Menschen seine religiöse Freiheit abzuerkennen indem sie «Zwang in religiösen Dingen» ausübt (DH 4). Auch die Kirche muss diese Freiheit respektieren, die in der Würde der menschlichen Person verwurzelt ist. Dabei ist dem Konzil bewusst, dass die Religionsfreiheit als Grund- und Menschenrecht nicht ohne die anderen Grund- und Menschenrechte zu haben ist.
Das Recht des Menschen auf Freiheit, auch und gerade in Fragen der Religion und des Gewissens, wird erstmals in einem Dokument des kirchlichen Lehramtes höher gewichtet als der Wahrheitsanspruch der Kirche.
Das Recht des Menschen auf Freiheit, auch und gerade in Fragen der Religion und des Gewissens, wird erstmals in einem Dokument des kirchlichen Lehramtes höher gewichtet als der Wahrheitsanspruch der Kirche. Und der Staat, von dem die Kirche traditioneller Weise erwartete, dass er für die Wahrheit des kirchlichen Glaubens und der kirchlichen Lehre einträte, wird damit zu religiöser Neutralität verpflichtet. Er muss die religiöse Freiheit aller schützen, darf niemand aufgrund seines Glaubens oder seiner Religionszugehörigkeit diskriminieren oder privilegieren. Das vorkonziliäre Ideal des «katholischen Staates» wird abgelöst durch eine Verhältnisbestimmung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, das auf der Religionsfreiheit basiert. Eine der zentralen Passagen im Dekret über die Religionsfreiheit lautet:
„Es geschieht also ein Unrecht gegen die menschliche Person und gegen die Ordnung selbst, in die die Menschen von Gott hineingestellt sind, wenn jemand die freie Verwirklichung der Religion in der Gesellschaft verweigert wird, vorausgesetzt, dass die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt. … Demnach muss die staatliche Gewalt … das religiöse Leben der Bürger nur anerkennen und begünstigen, sie würde aber, wie hier betont werden muss, ihre Grenzen überschreiten, wenn sie so weit ginge, religiöse Akte zu bestimmen oder zu verhindern.“ (DH 3)
Ganz auf dieser Linie heisst es dann auch, «dass dementsprechend niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden darf» (DH 10). Auch für das Verhältnis von Kirche und Staat wird nicht etwa staatlicher Schutz, sondern «die Freiheit der Kirche» als «das grundlegende Prinzip» genannt, nicht ohne zu betonen:
„So steht also die Freiheit der Kirche im Einklang mit jener religiösen Freiheit, die für alle Menschen und Gemeinschaften als ein Recht anzuerkennen und in der juristischen Ordnung zu verankern ist.“ (DH 13)
Alle, «Christen wie die übrigen Menschen», haben «das bürgerliche Recht, dass sie nach ihrem Gewissen leben dürfen und darin nicht gehindert werden» (DH 13).
2.2 Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Mit der uneingeschränkten Forderung nach Religionsfreiheit macht sich die katholische Kirche eine Grundauffassung des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates auf der Basis der Grundrechte zu eigen. Das ist nicht nur mit Blick auf das Verhältnis von Kirche und Staat von grösster Bedeutung, sondern auch mit Blick auf das Staatsverständnis selbst. Das Konzil begrüsst das weltweite «Bestreben, eine neue politisch-rechtliche Ordnung zu schaffen, in der die Rechte der menschlichen Person im öffentlichen Leben besser geschützt sind», so dass «die Bürger einzeln oder im Verbund am Leben und an der Leitung des Staates tätigen Anteil nehmen können». Schutz von «Minderheiten», «Achtung vor Menschen anderer Meinung oder Religion», «Bestimmung der Regierungsform und die Auswahl der Regierenden (gemäss) dem freien Willen der Staatsbürger» und Freiheit von «Diskriminierung», Gewaltenteilung durch «sinnvolle Aufteilung der Ämter und Institutionen», wirksamer und nach allen Seiten hin unabhängiger «Schutz der Rechte» – all das sind Prinzipien, die nach Auffassung des Konzils der «Förderung des Gemeinwohls» dienen (vgl. GS 73-75). Als «unmenschlich» wird hingegen beurteilt, «wenn eine Regierung auf totalitäre oder diktatorische Formen verfällt, die die Rechte der Person und der gesellschaftlichen Gruppe verletzen» (GS 75).
Eine zweite Errungenschaft des Konzils, die für das Verhältnis von Kirche und Staat von Bedeutung ist, ist das Bekenntnis zum freien und demokratischen Rechtsstaat. Diesen begrüsst das Konzil nicht etwa aus eigennützigen Interessen, sondern «um des Gemeinwohls willen» (GS 74).
Eine zweite Errungenschaft des Konzils, die für das Verhältnis von Kirche und Staat von Bedeutung ist, ist das Bekenntnis zum freien und demokratischen Rechtsstaat.
„In vollem Einklang mit der menschlichen Natur steht die Entwicklung von rechtlichen und politischen Strukturen, die ohne jede Diskriminierung allen Staatsbürgern immer mehr die tatsächliche Möglichkeit gibt, frei und aktiv teilzuhaben an der rechtlichen Gemeinschaft, an der Leitung des politischen Geschehens … und an der Wahl der Regierenden. Alle Staatsbürger aber sollen daran denken, von Recht und Pflicht der freien Wahl Gebrauch zu machen zur Förderung des Gemeinwohls.“ (GS 75)
2.3 Kirche in der Welt von heute
Als dritte Errungenschaft des Konzils ist seine Zuwendung zur Welt von heute zu erwähnen. Genau so einmalig wie die Erklärung über die Religionsfreiheit ist in der Kirchen- und Konzilsgeschichte die Verabschiedung der schon mehrfach zitierten pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute «Gaudium et spes». Auch dieser Text hat eine lange und konfliktreiche Entstehungsgeschichte. Der entscheidende Perspektivenwechsel, den das Konzil vornimmt, ist die Öffnung zur Welt: Gott spricht nicht nur durch Schrift, Tradition und Lehre der Kirche zur Welt, sondern auch durch die «Zeichen der Zeit». Die Kirche kann daher nur dann zur Gotteswahrheit gelangen, wenn sie in den Dialog mit der Welt tritt und auch fragt, was sie in der jeweiligen Zeit von der Welt lernen kann, in der sie lebt und wirkt. Das von Papst Johannes. XXIII. dafür verwendete Stichwort lautet «aggiornamento», zu Deutsch: «Heutig-Werden», das konziliäre Stichwort sind die «Zeichen der Zeit» (GS 4). Die Kirche versteht sich nicht mehr als «vollkommene Gesellschaft», die sich selbst genügt, über alles verfügt, und monologisch die Wahrheit verkündet. Vielmehr geht es um einen «gegenseitigen Dialog» (GS 40). Hatte das kirchliche Lehramt gegenüber den vielfältigen Entwicklungen seit der Aufklärung und der französischen Revolution während langer Zeit eine abwehrende Haltung eingenommen und diese primär als Bedrohungen interpretiert, denen gegenüber es die wahre Lehre zu verteidigen gelte, ist die Haltung des Konzils primär von Dialog- und Lernbereitschaft geprägt. Zitiert sei für diesen Perspektivenwechsel eine berühmte Passage in der Eröffnungsrede von Papst Johannes XXIII.:
„In der täglichen Ausübung unseres Hirtenamtes verletzt es uns, wenn wir manchmal Vorhaltungen von Leuten anhören müssen, die zwar voll Eifer, aber nicht gerade mit einem sehr grossen Sinn für Differenzierung und Takt begabt sind. In der jüngsten Vergangenheit nehmen sie nur Missstände und Fehentwicklungen zur Kenntnis. Sie sagen, dass unsere Zeit sich im Vergleich zur Vergangenheit nur zum Schlechteren hin entwickle. Sie tun so, also ob sie nichts aus der Geschichte gelernt hätten, die doch eine Lehrmeisterin des Lebens ist. … Wir müssen diesen Unglückspropheten widersprechen, die immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstehen würde. … Sie (die Kirche) muss auf die Gegenwart achten, auf die neuen Lebensverhältnisse und -formen, wie sie durch die moderne Welt geschaffen wurden. Diese haben neue Wege für das Apostolat der Katholiken eröffnet. …“
Diese Zuwendung zur Welt von heute ist für das Thema Kirche – Staat – Gesellschaft vor allem aus zwei Gründen von Bedeutung:
1. Kriterium: Die Berücksichtigung der konkreten Situation
Bereits erwähnt habe ich, dass die kirchliche Lehre damit einen «Zeitindex» bekommt und auch «verortet» wird: Es gilt «jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen» (GS 76). Es gibt also nicht eine, sondern viele richtige Antworten auf die Frage, wie das Verhältnis von Kirche und Staat gut geregelt werden kann. Diese Antworten sind immer ortsabhängig, zeitgebunden und folglich dem Wandel unterworfen, ohne dass dies ihrer Qualität oder ihrer «Evangeliumsgemässheit» Abbruch täte. Im Gegenteil: Der Schlüsseltext von «Gaudium et spes» zum Thema lautet:
„Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort zu geben. Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen.“ (GS 4)
Die Suche nach Antworten auf die Fragen nach der Botschaft und der Aufgabe der Kirche in der Welt von heute darf sich also nicht auf römische Dokumente beschränken, sondern erfordert, in die Welt einzudringen, in der wir leben, sie zu erfassen und zu verstehen. Nur wenn die Kirche das tut, wenn sie sich ganz radikal auf die Frage einlässt, was denn im Licht des Evangeliums ihr Auftrag hier und jetzt ist, wird sie auch auf die Frage nach einem angemessenen Verhältnis von Staat, Kirche und Gesellschaft gute, das heisst lebensdienliche Antworten finden.
2. Kriterium: Die Sendung der Kirche in die Welt
Der zweite Grund, weshalb diese Zuwendung zur «Welt von heute» für das Verhältnis von Staat, Kirche und Gesellschaft von Bedeutung ist, besteht im Perspektivenwechsel, den das Konzil damit vollzieht: Es geht nicht mehr davon aus, dass die Welt, der Staat oder die Gesellschaft primär der Kirche zu dienen haben, sondern sieht es genau umgekehrt: Die Kirche soll der Welt dienen. Die Schlüsselaussage dazu lautet:
„Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heisst Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ (LG 1)
Für die Frage nach dem Kirche-Staat-Verhältnis heisst das: Es kann bei der Suche nach einer angemessenen Regelung auch aus kirchlicher Sicht nicht darum gehen, eine für die kirchliche Institution besonders günstige Lösung anzustreben. Denn der Kirche darf es bei dieser Frage nicht primär um sich selbst gehen. Aus kirchlicher Sicht muss die Frage lauten: Wie müssen die Beziehungen zwischen Kirche und Staat beschaffen sein, damit die Kirche ihren Dienst an der Welt und an der Gesellschaft bestmöglich wahrnehmen kann? Unter welchen Voraussetzungen kann sie den bestmöglichen Beitrag zum Gemeinwohl leisten?
Etwas zugespitzt gesagt: Die Zuwendung zur Welt verlangt, dass die Kirche nicht mehr nach einem Verhältnis zum Staat strebt, das sie als Institution privilegiert, wie sie dies in der Geschichte sehr oft getan hat, sondern dass sie nach einem Verhältnis zum Staat strebt, das ihren Weltdienst, ihr Dasein für andere privilegiert. Mit einer Formulierung, die Papst Franziskus für dieses Prinzip oft gebraucht, gesagt: Die Kirche soll bei der Frage nach dem Verhältnis zum Staat nicht um sich selbst kreisen, sondern sich de-zentrieren, auf Jesus Christus hin, auf ihre Sendung zu den Menschen hin, besonders zu den Armen und Bedrängten (GS 1). Das Konzil selbst sagt es so:
„Das Irdische und das, was am konkreten Menschen diese Welt übersteigt, sind miteinander eng verbunden, und die Kirche selbst bedient sich des Zeitlichen, soweit es ihre eigene Sendung erfordert. Doch setzt sie ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, dass durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordern.
Immer und überall aber nimmt sie das Recht in Anspruch, in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen. Sie wendet dabei alle, aber auch nur jene Mittel an, welche dem Evangelium und dem Wohl aller je nach den verschiedenen Zeiten und Verhältnissen entsprechen.
In der Treue zum Evangelium, gebunden an ihre Sendung in der Welt und entsprechend ihrem Auftrag, alles Wahre, Gute und Schöne in der menschlichen Gemeinschaft zu fördern und zu überhöhen, festigt die Kirche zur Ehre Gottes den Frieden unter den Menschen.“ (GS 76)
An diesem dichten Text gäbe es viel zu entdecken. Zudem bündelt er vieles, was bereits gesagt wurde: Den Hinweis auf die «veränderten Lebensverhältnisse», die Tatsache, dass «die Grundrechte der menschlichen Person» und «das Heil der Seelen» im selben Atemzug genannt werden, der Vorrang der Treue zum Evangelium und der Sendung in der Welt vor den institutionellen Interessen, die Verknüpfung der Ehre Gottes mit dem Frieden unter den Menschen.
Wenn ich von diesem Text aus auf unsere helvetischen Diskussionen um das Verhältnis von Kirche und Staat schaue, allein schon darauf, wie oft es dabei um die Verteilung von Macht und Geld, von klerikaler Autorität und kirchgemeindlicher oder kantonalkirchlicher Autonomie geht, muss ich gestehen dass ich mich dafür schäme, wie weit wir hinter dem Anspruch des Konzils zurückbleiben. Dass das im Fürstentum Liechtenstein ganz anders ist, kann ich nicht beurteilen, sondern nur hoffen.
2.4 Kirche als Volk Gottes
Als vierte Errungenschaft des Konzils möchte ich den Wandel im Kirchenbild erwähnen. «Kirche und Staat» war während der Kirchengeschichte über weite Strecken ein Synonym für «Papst und Kaiser», «Bischöfe und Fürsten», «klerikale und weltliche Macht», «politische und geistliche Obrigkeit». Wer hat den Vorrang? Wer entscheidet worüber? Wie wird für Machtteilung und das Auseinanderhalten Sphäre irdischer und göttlicher Macht gesorgt? Dieses «monarchische» bzw. «hierarchische» Erbe klingt auch im Dekret des Konzils über die Hirtenaufgabe der Bischöfe noch nach. Dort heisst es sehr prägnant:
„Bei der Ausübung ihres apostolischen Amtes, …. erfreuen sich die Bischöfe der … vollen und uneingeschränkten Freiheit und Unabhängigkeit von jeglicher weltlicher Macht. Deshalb ist es nicht erlaubt, die Ausübung ihres kirchlichen Amtes direkt oder indirekt zu behindern oder ihnen zu verbieten, mit dem Apostolischen Stuhl und anderen kirchlichen Obrigkeiten frei zu verkehren.“ (CD 19)
„Daher erklärt die Heilige Ökumenische Synode, dass es wesentliches, eigenständiges und an sich ausschliessliches Recht der zuständigen kirchlichen Obrigkeiten ist, Bischöfe zu ernennen. … Daher … äussert das Heilige Konzil den Wunsch, dass in Zukunft staatlichen Obrigkeiten keine Rechte oder Privilegien mehr eingeräumt werden, Bischöfe zu wählen, zu ernennen, vorzuschlagen oder zu benennen. Die staatlichen Obrigkeiten aber … werden freundlichst gebeten, sie mögen auf die genannten Rechte oder Privilegien, die sie gegenwärtig durch Vertrag oder Gewohnheit geniessen, nach Rücksprache mit dem Apostolischen Stuhl freiwillig verzichten.“ (CD 20)
Es ist unüberhörbar, dass da die Versammlung der Bischöfe ihre eigene Unabhängigkeit verteidigt, zweifellos mitgeprägt von der Situation etlicher Bischöfe in repressiven Regimes hinter dem eisernen Vorhang und andernorts. Leider erhalten die Priester, Ordensfrauen und Laien, die ebenso unerschrocken für ihren Glauben einstanden, keine vergleichbare konziliäre Rückendeckung. Ungenannt bleibt angesichts des kirchenamtlichen Ausschliesslichkeitsanspruchs auch die partizipative Dimension von Bischofswahlrechten. Und leider fehlen in den Konzilsdokumenten auch klare Worte gegenüber innerkirchlicher Repression und Beschneidung der Glaubensfreiheit, die für die von kirchlichen Sanktionen betroffenen ähnlich bedrohlich sein können wie staatliche Eingriffe in die Religionsfreiheit.
Es ist unüberhörbar, dass da die Versammlung der Bischöfe ihre eigene Unabhängigkeit verteidigt, zweifellos mitgeprägt von der Situation etlicher Bischöfe in repressiven Regimes hinter dem eisernen Vorhang und andernorts.
Aber all dies sei nur am Rand vermerkt, denn der Grundton des Kirchenbildes des Konzils ist ein ganz anderer. Im für das Kirchenverständnis zentralen Dokument, der Kirchenkonstitution «Lumen gentium» ist zuerst über viele Seiten vom «Volk Gottes» die Rede (2. Kapitel), bevor das Kapitel über die hierarchische Verfassung der Kirche folgt (3. Kapitel). Und diesem schliesst sich ein Kapitel über die Laien an, in dem die «wahre Gleichheit in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi» (LG 32) der Unterscheidung zwischen geweihten Amtsträgen und Laien ausdrücklich vorgeordnet wird. Wenn also im Verhältnis zwischen Kirche und Staat von der «Freiheit der Kirche» die Rede ist, geht es um die Freiheit des Volkes Gottes, nicht nur um die Freiheit der Institution oder die Freiheit ihrer amtlichen Repräsentanten.
Wenn also im Verhältnis zwischen Kirche und Staat von der «Freiheit der Kirche» die Rede ist, geht es um die Freiheit des Volkes Gottes, nicht nur um die Freiheit der Institution oder die Freiheit ihrer amtlichen Repräsentanten.
Hinzu kommt als weiterer wichtiger Aspekt, dass der grossen Mehrheit in diesem Volk Gottes, den Laien, vom Konzil einerseits in ihrem kirchlichen Wirken, erst recht aber hinsichtlich ihres Einsatzes in der Welt und folglich auch im Bereich der Politik und der Gestaltung von Staat und Gesellschaft nicht nur eine hohe Kompetenz und Verantwortung, sondern auch eine Autonomie zugestanden wird. Mehrfach betont das Konzil auch, dass es in diesen Fragen eine legitime Vielfalt gibt. Zudem anerkennt das Konzil, dass die «irdische Gesellschaft … von eigenen Prinzipien geleitet wird» (LG 36).
3 Politische Gemeinschaft und Kirche
Nachdem ausführlich von jenen Perspektivenwechseln und Weichenstellungen des Konzils die Rede war, die mit Blick auf seine Bedeutung für das Thema «Kirche – Staat – Gesellschaft» zu berücksichtigen sind, ist auf jenen Abschnitt in der Pastoralkonstitution (GS 76) einzugehen, in dem es explizit um das Thema «Politische Gemeinschaft und Kirche» geht. Vieles wurde schon erwähnt, so dass ich mich auf wenige Bemerkungen zu den einzelnen Abschnitten beschränke.
„Sehr wichtig ist besonders in einer pluralistischen Gesellschaft, dass man das Verhältnis zwischen der politischen Gemeinschaft und der Kirche richtig sieht, so dass zwischen dem, was die Christen als Einzelne oder im Verbund im eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden, und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihren Hirten tun, klar unterschieden wird.“
Bemerkenswert ist in diesem Abschnitt, dass anerkannt wird, dass die heutige Gesellschaft pluralistisch ist – und dass es der Kirche demzufolge nicht darum gehen kann, einem «katholischen Staat» das Wort zu reden. Die Unterscheidung zwischen dem, was die Christen als «Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden» tun und dem, was sie «im Namen der Kirche zusammen mit ihren Hirten tun» ist aus zwei Gründen aufschlussreich. Erstens, weil sie die Autonomie des politischen Handelns und die Gewissensfreiheit des einzelnen respektiert. Und zweitens, weil deutlich wird: Die Kirche handelt in ihrem Verhältnis zum Staat auch dann, wenn sie kirchenamtlich «im eigenen Namen» handelt, immer durch ihre Mitglieder, und zwar nicht nur durch die «Hirten», sondern auch durch Laien.
Im folgenden Abschnitt ist zu beachten, dass das Handeln der Kirche aus pastoraler Perspektive gesehen wird. Ihre Aufgabe ist es, «Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person» zu sein.
„Die Kirche, die in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden darf noch auch an irgendein politisches System gebunden ist, ist zugleich Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person.“
Diese pastorale Optik, also der Blick auf die Wahrnehmung des Auftrags der Kirche in der Welt von heute, steht auch im Fokus, wenn die wechselseitige Autonomie von Staat und Kirche und ihr Zusammenwirken thematisiert werden: Es geht dem Staat und der Kirche um die gleichen Menschen. Und wenn sie ihren Auftrag ernst nehmen, geht es beiden um «das Wohl aller». Auf dieses Wohl, das eine zeitliche und eine ewige Dimension hat, die zwar unterschieden, aber auch in ihrem Zusammenhang gesehen werden müssen, soll auch das Zusammenwirken ausgerichtet sein. Dies ist aus kirchlicher Sicht die Basis für die Verständigung mit dem Staat, sei es in Form konkordatärer Regelungen oder einer entsprechenden staatskirchenrechtlichen Gesetzgebung. Ihren Beitrag «zum Wohl aller» sieht die Kirche im Einsatz für Gerechtigkeit und Liebe, aber auch für die politische Freiheit der Bürger und ihre Verantwortlichkeit.
„Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom. Beide aber dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen. Diesen Dienst können beide zum Wohl aller um so wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen; dabei sind jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen. Der Mensch ist ja nicht auf die zeitliche Ordnung beschränkt, sondern inmitten der menschlichen Geschichte vollzieht er ungeschmälert seine ewige Berufung. Die Kirche aber, in der Liebe des Erlösers begründet, trägt dazu bei, dass sich innerhalb der Grenzen einer Nation und im Verhältnis zwischen den Völkern Gerechtigkeit und Liebe entfalten. Indem sie nämlich die Wahrheit des Evangeliums verkündet und alle Bereiche menschlichen Handelns durch ihre Lehre und das Zeugnis der Christen erhellt, achtet und fördert sie auch die politische Freiheit der Bürger und ihre Verantwortlichkeit.“
Was die Mittel betrifft, deren sich die Kirche für die Wahrnehmung ihres Auftrags bedient, so betont das Konzil die Differenz zu den «Hilfsmitteln der irdischen Gesellschaft». Trotzdem fordert die Kirche nicht mehr primär Kirchenrechte für sich ein, sondern identifiziert sich mit Menschenrechten. Ihre Hoffnung setzt sie nicht auf Sonderrechte, die ihr von der staatlichen Autorität entgegengebracht werden. Nicht auf Privilegien kommt es an – entscheidend ist die «Lauterkeit ihres Zeugnisses» und die Berücksichtigung «veränderter Lebensverhältnisse». Was die «Lauterkeit des Zeugnisses» betrifft, ist insbesondere daran zu denken, dass die Kirche nur dann glaubwürdig fürs Gemeinwohl, für Solidarität und uneigennütziges Handeln eintreten kann, wenn sie ihrerseits nicht auf den eigenen Vorteil, die Wahrung von Vorrechten und auf materiellen Wohlstand ihrer amtlichen Vertreter bedacht ist. Das Konzil sagt es so:
„Wenn die Apostel und ihre Nachfolger mit ihren Mitarbeitern gesandt sind, den Menschen Christus als Erlöser der Welt zu verkünden, so stützen sie sich in ihrem Apostolat auf die Macht Gottes, der oft genug die Kraft des Evangeliums offenbar macht in der Schwäche der Zeugen. Wer sich dem Dienst am Wort Gottes weiht, muss sich der dem Evangelium eigenen Wege und Hilfsmittel bedienen, die weitgehend verschieden sind von den Hilfsmitteln der irdischen Gesellschaft.
Das Irdische und das, was am konkreten Menschen diese Welt übersteigt, sind miteinander eng verbunden, und die Kirche selbst bedient sich des Zeitlichen, soweit es ihre eigene Sendung erfordert. Doch setzt sie ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, dass durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordern. Immer und überall aber nimmt sie das Recht in Anspruch, in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen. Sie wendet dabei alle, aber auch nur jene Mittel an, welche dem Evangelium und dem Wohl aller je nach den verschiedenen Zeiten und Verhältnissen entsprechen.“
Der letzte Abschnitt fokussiert nochmals auf die zentralen Kriterien für ein dem Auftrag der Kirche entsprechendes Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Er lautet:
„In der Treue zum Evangelium, gebunden an ihre Sendung in der Welt und entsprechend ihrem Auftrag, alles Wahre, Gute und Schöne in der meschlichen Gemeinschaft zu fördern und zu überhöhen, festigt die Kirche zur Ehre Gottes den Frieden unter den Menschen.“
4 Zusammenfassende Thesen
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich die Impulse, welche vom Zweiten Vatikanischen Konzil für heutige Überlegungen zum Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft gibt, thesenartig bündeln:
- Seit der «Erklärung über die Religionsfreiheit» steht aus Sicht der katholischen Kirche jede Diskussion zum Verhältnis zwischen dem Staat und den Kirchen und Religionsgemeinschaften unter dem Vorzeichen der Religionsfreiheit. Dasselbe gilt für alle Staaten, welche die Allgemeine Erklärung über die Menschenrechte der UNO von 1948 unterzeichnet haben. Daraus folgt, dass es für entsprechende Diskussionen zwischen Kirche und Staat eine gemeinsame Basis gibt. Und weil die Menschenrechte unteilbar sind, folgt daraus auch, dass die katholische Kirche vom Staat keine Rechte und keine staatlichen Leistungen für sich erwarten kann, die dieser Staat nicht auch anderen Religionsgemeinschaften gewähren würde, sofern sie die gleichen Voraussetzungen erfüllen. Nicht nur aus staatsrechtlichen Gründen, sondern aus eigener Überzeugung muss die katholische Kirche für ein staatliches Religionsrecht eintreten, welches Prinzip der Gleichbehandlung respektiert.
Dieses Prinzip gilt sowohl bezüglich der Einräumung besonderer Rechte (z.B. Steuerrecht, staatliche Unterstützung des Unterhalts religiöser Gebäude) als auch bezüglich besonderer Auflagen (z.B. staatliche Zulassungsregelungen für religiöse Betreuungspersonen aus dem Ausland).
- Das Verhältnis von Kirche und Staat ist für das Zweite Vatikanische Konzil ein primär «pastorales Thema». Das Hauptanliegen der Kirche ist demzufolge das irdische und das überzeitliche Wohl der Menschen und der Gemeinschaft. Die Beziehung zwischen Kirche und Staat soll so ausgestaltet werden, dass die Kirche ihren Auftrag bestmöglich wahrnehmen kann. Diese Auftrags- und Gemeinwohl-Orientierung erfordert beides: Einerseits die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche, damit sie wirklich die Logik des Evangeliums zur Geltung bringen kann und nicht anderen Gesetzmässigkeiten wie z.B. einer bestimmten Staatsräson oder einem politisch-ideologischen System unterworfen ist. Anderseits erfordert diese Auftrags- und Gemeinwohl-Orientierung auch Zusammenarbeit mit dem Staat, wo sie den Menschen und der Gesellschaft zu Gute kommt.
Diese Ausrichtung des Verhältnisses von Kirche und Staat auf die Sendung der Kirche, auf die Erfüllung ihres Auftrags, sich Freude und Hoffnung, aber auch Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art zu eigen zu machen, wird vom Konzil selbst einer Ausrichtung auf institutionellen Machterhalt, staatliche Privilegien und Besitzstandswahrung gegenüber gestellt. Die Leitfrage aus kirchlicher Sicht lautet also: Was dient den Menschen? Was dient der Lauterkeit des Zeugnisses der Kirche?
- Wer das Zweite Vatikanische Konzil auf seine Bedeutung für das Verhältnis von Kirche und Staat befragt, muss dabei auch dem Staats- und Kirchenverständnis des Konzils Rechnung tragen. Das Konzil verpflichtet die Kirche, sich für einen Staat einzusetzen, der die Menschenrechte und namentlich das Recht auf Religionsfreiheit respektiert und der seine Bürger an den politischen Entscheidungen beteiligt. Und es versteht die Kirche als Volk Gottes, dessen Mitglieder alle zur eigenständigen Mitverantwortung für das Wohl der Kirche und für das Wohl der Gesellschaft und des Staates berufen sind.
Wer auf dieser doppelten Basis des konziliären Staatsverständnisses und Kirchenbildes nach dem Verhältnis von Kirche und Staat fragt, kann das Thema nicht allein auf der Ebene der kirchlichen Hierarchie und der staatlichen Obrigkeit ansiedeln. Das demokratische Staatsvolk und das zur Mitverantwortung gerufene Kirchenvolk müssen ins Zentrum der Lösungssuche gestellt und an ihr auch beteiligt werden. Dies gilt insbesondere dort, wo nach wie vor «volkskirchliche» Verhältnisse bestehen, Kirchenvolk und Staatsvolk sich also in erheblichem Ausmass überschneiden.
- Das Zweite Vatikanische Konzil weiss darum, dass das Verhältnis von Kirche und Staat zeit- und kulturbedingt ist, sich veränderten Verhältnissen anpassen muss und zu jenen Themen gehört, bei denen es berechtigte Meinungsverschiedenheiten geben kann, die es zu anerkennen gilt.
Wer auf dieser Basis nach Lösungen sucht, muss und darf damit rechnen, dass es nicht nur eine «richtige» Lösung gibt, sondern verschiedene Modelle, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Zudem wird er auch der jeweiligen politischen und kirchlichen Kultur Rechnung tragen. Gefordert ist aber auch Sensibilität für gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen in der Religionslandschaft.
5 Fazit und Ausblick
Mit den vier Leitlinien «Religionsfreiheit», «Orientierung am pastoralen Auftrag der Kirche in der Welt von heute und an der Glaubwürdigkeit ihres Zeugnisses», «Berücksichtigung des Staats- und des Kirchenverständnisses» und «Berücksichtigung der Zeitumstände und der legitimen Vielfalt von Meinungen» gibt das Konzil einen auch heute noch brauchbaren Kompass für die Diskussion der Frage nach dem Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft aus Sicht der katholischen Kirche.
Zudem erweist sich die theologisch-pastorale Auffassung des Konzils als kompatibel mit den Grundlagen eines auf der Basis der Menschenrechte beruhenden Staatsverständnisses und offen für den Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften zu dieser Frage auf der Basis der Anerkennung der Religionsfreiheit und der Verabschiedung der Forderung nach katholischen Sonderregelungen.
Im Hinblick auf die ganz konkreten Fragen mag das auf den ersten Blick enttäuschend wenig sein. Dennoch könnte es sich als lohnend erweisen, jedes konkrete Modell, jeden einzelnen Lösungsvorschlag auf die Verträglichkeit mit den genannten Kriterien hin zu prüfen:
- Trägt die Regelung der Beziehungen von Staat und Kirche der Religionsfreiheit und dem Prinzip der Gleichbehandlung Rechnung?
- Dient die Regelung der glaubwürdigen Wahrnehmung des pastoralen Auftrags der Kirche, sich solidarisch mit den Armen und Bedrängten aller Art für das Gemeinwohl sowie für das Wohl und Heil der Menschen einzusetzen und so das Evangelium in der Welt von heute zu bezeugen?
- Berücksichtigt die Regelung das Staatsverständnis und das Kirchenbild des Konzils angemessen und sind die Mitglieder der Kirche und die Staatsbürger angemessen an der Lösungssuche beteiligt?
- Trägt die vorgesehene Regelung den konkreten Rahmenbedingungen, der politischen Kultur und dem Wandel der Gesellschaft sowie der Religionslandschaft angemessen Rechnung?
Ich bin überzeugt, dass eine Lösungssuche, die sich an diesem Kompass orientiert, der Botschaft des Konzils entspricht und auch 50 Jahre nach dessen Abschluss noch zu guten, lebensdienlichen Lösungen beiträgt.
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Zu guter Letzt eine Anekdote aus den Konzilserinnerungen von Kardinal Léon Joseph Suenens. Dieser hatte über den Sekretär des Papstes, Loris Capovilla, eine Notiz von Johannes XXIII. bekommen, die sich auf eine Fotografie bezog, auf welcher der Kardinal vor dem Papst kniet und ihm den Ring küsst. Der Papst schrieb: «Non placet mihi» und tadelte ihn, dass er sich hingekniet habe. Der Sekretär lud ihn ein, doch in das Büro des Papstes hineinzuschauen.
Da erklärte ihm der bereits sterbenskranke Papst, er sei dabei, die für das Konzil vorbereiteten Dokumente über die Beziehungen Kirche-Staat zu lesen. Der Kardinal erklärte ihm spontan, dass das kein Thema sei, welches ein Konzil behandelt solle, weil die Situationen von Land zu Land sehr verschieden seien. «Allora, va bene», sagte der Papst und zerriss die Druckfahnen vor seinen Augen mit einem erleichterten Seufzer und einem Lächeln. (Léon Joseph Cardinal Suenens: Souvenirs et espérances. Paris: Fayard, 1991, 95)
(Daniel Kosch, Zürich; Bild: Schach by Christiane Heuser / pixelio.de)
Von Daniel Kosch ist hier ein Kurzkommentar zur Rede von Papst Franziskus am 17. Oktober 2015 anlässlich des 50. Jahrestages der Errichtung der Bischofssynode zu lesen.