Michael Domsgen beschreibt, was die Familie Gottes im Blick auf die Familien heutiger Menschen lernen kann.
Kirche und Familie gehören zusammen. Ja, sagen die einen bestätigend und verweisen darauf, wie wichtig die religiöse Sozialisation in den Familien ist und wie stark die Kirchen davon abhängig sind. Nein, sagen die anderen leicht genervt und erinnern daran, dass Jesus keine Familienreligion gegründet hat und letztlich die Einzelnen zur Nachfolge aufgerufen sind.
Vielfältige Bezüge
Beides stimmt und beides ist immer wieder neu aufeinander zu beziehen. Kirche und Familie gehören zusammen, weil Familie einen wichtigen Teil im Leben der Menschen darstellt und die Einzelnen nun mal nicht nur als Einzelne durch die Welt gehen. Gott sei Dank, möchte man hinzufügen, auch wenn man nicht vergessen darf, dass Familie bisweilen anstrengend und manchmal sogar eine schwere Bürde sein kann.
Kirche und Familie gehören aber auch zusammen, weil der Glaube sich auf unser Leben bezieht und in seinen Sprachspielen und Metaphern darauf Bezug nimmt. Das familiale Umfeld spielt da immer irgendwie eine Rolle. Familiale Rollenbezeichnungen und Beziehungen dienen als Beschreibungsmuster für die Gott-Mensch-Beziehung. Von Gott wird als Vater und Mutter gesprochen, und die an ihn glauben, werden Kinder Gottes genannt sowie in der Gemeinschaft der Glaubenden als Brüder und Schwestern angesprochen. Die Beziehungen innerhalb der Familie besitzen das Potenzial, um über sich hinauszuweisen und mit der Unsichtbarkeit Gottes sprachlich so umzugehen, dass ein Verstehen möglich ist.
Klare Hierarchien
Kirche und Familie gehören zusammen. Über lange Zeit war dabei die Hierarchie eindeutig geregelt. Die Bestimmer in diesem Verhältnis waren die Kirchen. Sie sagten, was zu tun und zu lassen ist, machten Vorgaben, an die sich die Menschen zu halten hatten. Diese Zeiten sind vorbei, ja, das Verhältnis scheint sich geradezu umgedreht zu haben. Zumindest in Westeuropa lassen sich den Familien nur noch schwer Vorgaben machen. Die Gründe dafür sind vielfältig und keineswegs schlicht als Ungehorsam abzutun. Selbst bei gutem Willen ist es für Familien alles andere als einfach, kirchlichen Erwartungen zu entsprechen. Das hängt nicht nur mit veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen, sondern auch mit veränderten Konstellationen in den Familien selbst, angefangen von Diskontinuitäten im Familienverlauf und neuen Beziehungskonstellationen bis hin zu veränderten Rollenverständnissen der einzelnen Familienmitglieder selbst. Familie ist nicht einfach nur da, sondern muss immer wieder neu aktiv hergestellt werden. Doing family heißt der Fachbegriff, mit dem dies begrifflich beschrieben wird. Hier etwas genauer hinzusehen lohnt sich.
Intergenerationale Transmission
Schauen wir zum Beispiel auf die intergenerationale Transmission, also auf Prozesse der Weitergabe grundlegender Orientierungen und Verhaltensweisen von einer Generation zur anderen. Lange Zeit mussten sich die Kirchen darüber keine Gedanken machen. Es galt mehr oder weniger als ausgemacht, dass die nachfolgende Generation sich in ihren Einstellungen im Großen und Ganzen an dem ausrichtet, was die vorhergehende Generation ihr mit auf den Weg gab. Das jedoch hat sich grundlegend geändert. Wir leben in einer Optionsgesellschaft. Menschen nehmen nicht nur unterschiedliche Optionen wahr, sondern machen auch von ihnen Gebrauch. Das verändert die Maßstäbe. Entscheidend ist nun nicht mehr, sich in etwas Vorgegebenes einzufügen, sondern sich innerhalb eines Möglichkeitsspektrums so zu verorten, dass die eigenen Bedürfnisse berücksichtigt und die eigenen Potenziale entfaltet werden können.
Transmission zum Identischen und zum Äquivalenten
Wie gehen die Familie damit um? Idealtypisch lassen sich zwei Modelle zur Weitergabe kulturellen Kapitals erkennen, die als Transmission zum Identischen und Transmission zum Äquivalenten bezeichnet werden können.[1] Bei ersterem können sich die Altvorderen für ihre Nachkommen keine andere Zukunft vorstellen als ihre eigene Vergangenheit. Der kulturelle und eben auch religiöse Transfer hat deshalb in der Mehrgenerationenfolge überwiegend eine Richtung, „nämlich von der älteren zur jüngeren“ (80f). Anders verhält es sich beim zweiten Modell. Zwar ist auch hier nicht alles offen. Die ältere Generation hat durchaus klare Vorstellungen vom Gelingen des Lebens. Allerdings agiert sie ergebnisoffen und hört dabei auch auf die jüngere Generation. Die Weitergabe des kulturellen Kapitals erfolgt nicht als one way process, sondern wechselseitig. Aushandlungs- und Verständigungsprozesse sind die Folge. Sie ermöglichen, dass das soziale Miteinander immer wieder neu hergestellt werden kann.
Für die jüngste Generation führt das Beharren auf einer Transmission zum Identischen zu weniger Spielräumen
Interessant ist nun zu sehen, wie und warum sich die Tradierungsmuster zwischen den Generationen verändert haben. So ist beispielsweise zu beobachten, wie zwischen der Großeltern- und Elterngeneration zum Identischen erzogen wurde, dann aber ein Wechsel zum Äquivalenten erfolgte. Hier ist es vor allem „die eigene biographische Erfahrung der Einengung von Handlungsfreiheit“, die „zu einer bewussten Abgrenzung vom Verhalten“ (88) der Großelterngeneration führt. Insgesamt zeigt sich, dass die Kosten einer Transmission zum Identischen sehr hoch sind. So werden „die Transmissionsprozesse bewusst gesteuert und ihre Resultate nachdrücklich eingefordert“ (92). Dazu gehört auch ein entsprechendes Umfeld, das bewusst hergestellt wird. Dem eigenen Transmissionsziel entgegenstehende Einflüsse müssen schließlich herausgehalten werden. Für die jüngste Generation führt das Beharren auf einer Transmission zum Identischen zu deutlich weniger Spielräumen. Zugleich ist sie in stärkerem Maße daraus angewiesen, dass für sie „biographisch alles ‚glatt‘ läuft“ (94). Allerdings gilt auch: Wenn ihr „biographische Instabilitäten und Diskontinuitäten erspart bleiben“, dann ist sie mit dem in der Familie „zur Verfügung gestellten Kapital bestens ausgestattet“ (94).
Idealisierter Familialismus widerspricht dem inklusiven Grundzug des Evangeliums
Könnte es sein, dass die Kirchen zu einseitig auf das Programm einer Transmission zum Identischen setzen und dabei zu wenig im Blick haben, dass dies innerhalb einer Optionsgesellschaft nur schwer anschlussfähig ist? Christliche Erziehung steht damit nämlich vor dem Problem, Freiräume von vornherein beschneiden zu müssen und Menschen auf ein bestimmtes Profil von Religiosität festzulegen. Das ist nicht nur im Horizont einer Optionsgesellschaft schwierig. Außerdem wird hier zu wenig berücksichtigt, dass viele Familien gar nicht wissen, warum und wenn ja, wie sie religiös erziehen sollten. Und könnte es sein, dass im Festhalten am Identischen Nebenfolgen bewusst in Kauf genommen werden, die nicht nur den Familien viel abverlangen, sondern in ihrer Spitze auch theologisch problematisch sind? Denn eine solche Zielrichtung hat einen Hang zum Familialismus. Sie idealisiert eine bestimmte Form von Familie. Die Folgen sind schon jetzt deutlich sichtbar, insofern es nur noch eine bestimmte, familiär eher traditionell ausgerichtete Klientel ist, die Zugang zur gegenwärtig vorherrschenden Gestalt von Kirche findet. Das aber widerspricht dem inklusiven Grundzug des Evangeliums.
Transmission zum Äquivalenten als Ausdruck des semper reformanda
Dass Kirche immer wieder zu erneuern ist, gehört zur ekklesiologischen DNA, ganz gleich welcher Konfession man nun angehört. Wie das ganz praktisch aussehen kann, ließe sich an Familien beobachten, die sich genau diesem Unterfangen stellen, indem sie einander unterschiedliche Positionen innerhalb einer immer wieder neu auszuhandelnden Grundperspektive zumuten. Es führt dazu, dass Menschen eigene Standpunkte entwickeln können und dennoch ihren Zusammenhalt nicht verlieren. Und es führt dazu, dass Traditionen über die Generationen hinweg wichtig bleiben, auch wenn sich deren konkrete Ausformung unterschiedlich darstellt. Die Familie Gottes könnte hier eine ganze Menge von den Familien heutiger Menschen lernen.
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Dr. Michael Domsgen ist Inhaber der Professur für Evangelische Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Leiter der Forschungsstelle Religiöse Kommunikations- und Lernprozesse.
Bild: Ahmed Gomaa auf Pixabay
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[1] Die Begriffe stammen von Daniel Bertaux, Isabelle Bertaux-Wiame, „Was du ererbt von deinen Vätern …“ Transmissionen und soziale Mobilität über fünf Generationen, in: Bios . Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 4 (1991), 1, 13-40. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Ergebnisse einer qualitativen Studie aus insgesamt 15 untersuchten Familien, die Anna Brake und Johanna Kunze vorgelegt haben. Vgl. dies., Der Transfer kulturellen Kapitals in der Mehrgenerationenfolge. Kontinuität und Wandel zwischen den Generationen, in: Steffanie Engler, Beate Krais (Hg.), Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen. Sozialstrukturelle Verschiebungen und Wandlungsprozesse des Habitus, Weinheim, München 2004, 71-95. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich darauf.