Fasching und Karneval haben eine lange kirchliche Tradition. Der Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards (Bonn) analysiert das Verhältnis von Kirche und Karneval in der rheinischen Version von Köln. Bunt, divers und religiös konnotiert.
Mer losse d’r Dom en Kölle,
denn do jehöt hä hin.
Wat sull dä dann woanders,
dat hät doch keine Senn.
So lautet einer der beliebtesten Kölner Karnevalsschlager der Gruppe „Bläck Fööss“ aus dem Jahr 1973. Wohl wie in keiner anderen deutschen Stadt sind Karneval und Kirche miteinander verflochten. Das gilt übrigens nicht nur für die römisch-katholische Kirche, sondern auch für die evangelische und – eine Besonderheit – sogar für die Synagogengemeinde. Dies hat einerseits etwas zu tun mit der rheinischen Lebensart des laissez faire, die sich im sog. „Kölschen Grundgesetz“ artikuliert, deren erster Paragraph (in Übersetzung) lautet: „Es ist, wie es ist“, und deren elfter und letzter: „Da lachst du dich tot“. Andererseits hat dies auch etwas zu tun mit der besonderen Religiosität im Rheinland, bei der man mit Gott und den Heiligen auf Du und Du steht. Das Wohlgeordnete und das Närrische liegen hier nicht so weit auseinander, wie strenge Kirchenleute und Obrigkeiten sich dies gewünscht hätten, die das närrische Treiben je auf ihre Weise einzudämmen suchten. Ein kirchliches Mittel zur Reglementierung war die Verlegung des 40stündigen Gebets auf die Karnevalstage, entweder in Klosterschulen, um die Jugend vom Straßenkarneval fernzuhalten, oder in Frauenklöstern, um Sühne für die Ausschweifungen der Feiernden zu leisten.
Bestehende Ordnung auf den Kopf gestellt – „Verkehrte Welt“ und Prozessionen
De facto gehört aber der Karneval zur Kirche aus unterschiedlichen Gründen. Zum einen hat er seine Wurzeln in den mittelalterlichen Bräuchen der „Verkehrten Welt“, in denen die bestehende Ordnung in klösterlichen Gemeinschaften für kurze Zeit auf den Kopf gestellt wurde, um sie am Aschermittwoch um so mehr wieder zu festigen. Zum anderen führt die spektakulärste Ausdrucksform des rheinischen Karnevals, der Karnevalszug, Traditionen der kirchlichen Prozessionen fort, in Köln auch durch die personelle Besetzung, etwa die „Heiligen Mädchen und Knechte“. Die 11 „Mädchen“ verkörpern die elftausend Jungfrauen, die mit den Heiligen Drei Königen die Stadtpatrone repräsentieren. Nicht von ungefähr bildet das närrische Regiment nicht ein Prinzenpaar wie an den meisten Orten sonst, sondern das „Närrische Dreigestirn“, bestehend aus Prinz, Jungfrau und Bauer.
Beim ersten Maskenzug im Jahr 1823 wurde ein Narrenkönig aus dem Jesuitenkolleg gewählt. In einem Bericht heißt es: „Wenn er, was zwei bis dreimal während der Karnevalstage geschah, ausfuhr, um in irgendeiner Kirche die Heilige Messe zu hören oder seine Andacht zu verrichten, so begleitete ihn sein vom P. Rektor aus dem musterhaftesten Konviktoren gebildeter Hofstaat in einem zweiten Wagen.“ 1
„Nubbelverbrennung“ als Liturgieparodie
Neben den Umzügen – außer dem großen Rosenmontagszug gibt es die Schul- und Viertelszüge – spielt der Sitzungskarneval eine große Rolle. Dieser wird nicht nur von den zahlreichen Karnevalsgesellschaften getragen, sondern auch von den Pfarreien. Viele der Akteure – seien es Redner oder Musikgruppen, entstammen dem Pfarrkarneval. Einiges von den Ritualen der Karnevalssitzungen ist der kirchlichen Liturgie abgeschaut, insbesondere die „Nubbelverbrennung“ am Dienstagabend. Es handelt sich um ein drastisches Exkulpationsritual in Form einer Liturgieparodie. Die kirchliche Verwurzelung des Karnevals hat freilich nicht verhindert, dass das Brauchtum in der Zeit des Nationalsozialismus aufs Übelste für die antisemitische Propaganda vereinnahmt wurde. Nur wenige haben sich dem allgemeinen Trend widersetzt.
Eine neue Stufe der Verzahnung von Kirche und Karneval wurde in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und dessen Reform der Liturgie erreicht. Mit der Einführung der Landessprachen in die Liturgie begann man im Rheinland, Messen in Mundart zu feiern. Kinder durften in Karnevalskostümen zum Gottesdienst kommen, in den Hochburgen auch die Mitglieder der Karnevalsgesellschaften mit ihren Garden und Honoratioren. Auch hier gibt es fließende Übergänge, in diesem Fall ausgehend vom Schützenwesen.
Saison eröffnet mit ökumenischem Gottesdienst im Kölner Dom
Die Karnevalszeit beginnt schon am 11.11. des Vorjahres. Der Termin ist nicht nur wegen der närrischen Zahl relevant, sondern der 11. November war auch ein wichtiger Tag im Kirchenjahr, der Beginn des Weihnachtsfastens, vom dem noch die Martinsgans und die Heischebräuche zeugen. Die eigentliche Saison beginnt nach den Weihnachtstagen im neuen Jahr. Aufgrund des frühen Ostertermins eröffnete man sie 2024 bereits am 3. Januar mit einem ökumenischen Gottesdienst im Kölner Dom. Die Wort-Gottes-Feier wurde vom Dom- und Stadtdechanten und vom Stadtsuperintendenten geleitet, die im Liederheft auch ein Grußwort voranstellten. Am Ende finden sich weitere Grußworte der Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, des Präsidenten des Festkomitees, des designierten Kölner Dreigestirns 2024 und des designierten Kölner Kinderdreigestirns 2024.
Segnung der Karnevalskerze
Eine Besonderheit ist die Segnung der Karnevalskerze am Ende des Gottesdienstes. Dazu heißt es im Liedheft: „Sie gehört zum Domgottesdienst für Kölner Karnevalisten wie das Alaaf zum Fastelovend: Die bunte Karnevalskerze. Traditionell wird sie während des Gottesdienstes entzündet, um für Schutz und Beistand in der kommenden Session zu bitten. Das bunte Konfettikreuz steht für die Verbundenheit der Kirche und des Karnevals, denn in den Feierlichkeiten vor der Fastenzeit liegen die Wurzeln unserer jecken Tradition… Nach der Segnung durch den Stadtdechanten Msgr. Robert Kleine wird die Kerze von Festkomitee-Präsident Christoph Kuckelkorn und dem designierten Kölner Kinderdreigestirn 2024 entzündet.“2
unter der Orgel kommt ein Jeck hinter einer Klappe zum Vorschein
Ein zweiter Höhepunkt der Verflechtung von Kirche und Karneval findet am Karnevalssonntag statt. Auf der Homepage des Erzbistums heißt es: „Besonders der Kölner Dom wird zur Karnevalshochburg, wenn dort um 10 Uhr ein Pontifikalamt gefeiert und im Anschluss ein besonderer Registerzug der Schwalbennest-Orgel gezogen wird. Sobald ‚Loss Jon‘ der Orgel gezogen ist, wird automatisch ‚Mer losse dr Dom in Kölle‘ gespielt und unter der Orgel kommt ein Jeck hinter einer Klappe zum Vorschein. Als 1998 die Orgel gebaut wurde, erdachten sich die Orgelbauer diese kölsche Besonderheit. Die Figur ähnelt dem damaligen Dompropst Bernard Henrichs. Nur zweimal im Jahr wird das Register gezogen: Beim Karnevalisten-Gottesdienst im Januar und am Karnevalssonntag.“ 3
Karnevalsgottesdienst gestreamt
Selbstverständlich konzentriert sich das karnevalistische Treiben nicht allein auf den Dom, sondern spielt sich mit unterschiedlicher Intensität in fast allen Kirchen ab. Die größte Innenstadtkirche nach dem Dom ist St. Agnes. Dort war zu lesen: „Es ist wieder Karneval! Und wir feiern in der Kölner Kirche St. Agnes am Montag, den 5. Februar um 18:11 Uhr einen stillen, fröhlichen, ausgelassenen Gottesdienst. Mit Kasalla, Stefan Brings, Stefan Knittler, den Kölner Ratsbläsern, Ebasa Pallada am Alphorn und vielen anderen! Freu dich auf eine Predigt vom Hänneschen aus dem Kölsch Hänneschentheater! Und wieder wollen wir den Gottesdienst in die ganze Welt streamen. Selbst wenn du in Freiburg, Tokio oder Hamburg wohnst und nicht kommen kannst und dich die Wehmut packt: Du kannst dabei sein! Wir werden den Gottesdienst wieder streamen. Und wir freuen uns wie jeck, wenn du uns mit einer Spende dabei hilfst. Alle Infos, auch wie du live dabei sein kannst unter www.agnesalaaf.de.“ 4
Diesen Gottesdienst gibt es seit 2021, als die Session coronabedingt ausfallen musste. Auch jetzt wird er live auf verschiedenen Kanälen übertragen, zumal längst nicht alle Interessierten Einlass finden. Zwar handelt es sich zweifellos um einen „närrischen“ Gottesdienst – selbst die Figur der hl. Agnes wird mit Pappnase und Mottoschal ausstaffiert –, aber es werden auch ernste Töne angeschlagen. So wurde der von den Nazis ermordeten Mitarbeiterin des Hänneschen-Theaters Fanny Meyer gedacht, deren Vita im Einsingheft abgedruckt steht. 5
Schneller Übergang von Weihnachten zum Karneval in Köln
Aufschlussreich ist ein Blick in die Kirchenzeitung des Erzbistums Köln. Hier sieht man den schnellen Übergang von Weihnachten zum Karneval. Ist die Nr. 1 vom 5.1.2024 noch vom Fest Epiphanie bestimmt, finden sich in der folgenden Nr. 2 vom 12.1.2024 mehrere Artikel zur Karnevalssession, so ein Bericht über den Ökumenischen Gottesdienst mit Karnevalisten im Kölner Dom: „Eine fast endlose Prozession aus Standarten, bunten Uniformen und handbestickten Kappen zog am Mittwochabend der vergangenen Woche zu einem festlichen Marsch aus der Wagner-Oper ‚Tannhäuser‘ in den Kölner Dom ein.“ (S. 7) Auch in Bonn fand ein ökumenischer Gottesdienst zum Sessionsauftakt in der Münsterbasilika statt: „Neben der Segnung einer Standarte gehörte auch das Entzünden der Kerze des Prinzenpaares zu den besonderen Momenten während des Gottesdienstes in der voll besetzten Basilika, an dem auch viele andere Tollitäten teilnahmen. Die Kerze wird bis zum Ende der Session am Schrein der Stadtpatrone brennen und soll als Bitte um den Segen für alle Karnevalisten verstanden werden“ (S. 41).
Kurioses
Daneben gibt es auch Kurioses. Unter der Überschrift „Kostümprobe für die himmlischen Geister“ wird gezeigt, wie einem Pfarrer Engelsflügel für die Fußgruppe beim Karnevalszug in Leverkusen-Schlebusch angepasst werden (S. 38). Wie stark der Einfluss des Karnevals bis in die Ästhetik der Liturgie hinein wirken kann, zeigt folgende Nachricht: „Feine Nadelstiche gesetzt. Blaue Funken stiften Casel in Vereinsfarben Blau-Weiß“ 6 Es heißt dort: „In zierlicher Nadelmalerei bildet sie den Sachsenturm, das Domizil des Traditionskorps der Blauen Funken, auf der Shantung-Seide ab… Als Regimentspfarrer wird Kolb dieses Gewand immer tragen, wenn die Karnevalisten zu Regimentsgottesdiensten zusammenkommen, zu Taufen und zu Beerdigungen.“
„Löblich ist das tolle Treiben, wenn es kurz ist und begrenzt“
Die Nr. 6 der Kölner Kirchenzeitung zum Karnevalssonntag vom 9.2.20247befasst sich verständlicherweise stark mit karnevalistischen Themen. Das Titelbild zeigt eine Fußgruppe vom Straßenkarneval, auf der Rückseite ist ein Foto von der Hänneschen-Predigt in St. Agnes abgedruckt. Der aus dem Oberbergischen stammende Diakon und Karnevalist Willibert Pauels berichtet von einem Auftritt in Waldbröl, nach dessen Ende alle Autobesitzer einen Zettel am Scheibenwischer vorfanden mit der Botschaft: „Karneval ist der direkte Weg in die Hölle.“ Dass Pauels diesen freikirchlichen Rigorismus nicht teilt, ist verständlich. Er pariert mit einigen Zitaten, darunter einem von Goethe zum rheinischen Karneval: „Löblich ist das tolle Treiben, wenn es kurz ist und begrenzt“ (S. 3). Unter dem Titel „Alles dreht sich um St. Anna. Erstes Dreigestirn hat die Dorfkirche nicht nur im Orden verewigt“ wird über die Karnevalsaktionen des 300-Seelenortes Hermerath im Pfarrverband Neunkirchen-Seelscheid berichtet, u.a. wie die Karnevalisten sich für ihre Dorfkirche engagieren: „Schließlich ist die Kirche der Mittelpunkt des Dorfes“ (S. 39). Hier und an anderer Stelle werden Mundartmessen angekündigt unter Beteiligung des Dreigestirns bzw. des Prinzenpaars.
Auch die Kölner Protestanten feiern Karnevalsgottesdienste.
In Köln sind Karnevalsgottesdienste allerdings kein katholisches Monopol mit gelegentlichen ökumenischen Einsprengseln. Auch die Kölner Protestanten feiern Karnevalsgottesdienste. Auf der Homepage der Lutherkirche schreibt Hans Mörtter: „Gerade im sogenannten katholischen Köln sage ich: Der Karneval ist ursprünglich protestantisch! Im Mittelalter war es das Aufbegehren der Armen gegenüber den Mächtigen und Reichen, die lächerlich gemacht wurden. Das halten wir aufrecht! So sagen wir also auch deutlich unsere Meinung – kritisch und teilweise böse-frech. Grundsätzlich sind wir dabei fröhlich, herrlich bunt und raderdoll.‘“ 8
Es war schon von der Besonderheit des jüdischen Karnevals in Köln die Rede, dessen Wurzeln in die Zeit vor der Shoah zurückreichen. Die Kölner Kirchenzeitung berichtet in einem ganzseitigen Artikel „Weil es zum Leben und Überleben gehört. Juden im Kölner Karneval – gestern und heute“ über eine Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum der Stadt, die Wirken und Ausschluss jüdischer Närrinnen und Narren zeigt. 1922 wurde der jüdische Verein „Kleiner Kölner Klub“ gegründet. Der 2017 gegründete Verein „Kölsche Kippa Köpp“ versteht sich als dessen Nachfolger. Er ist auch offen für nichtjüdische Jecken, vorausgesetzt, sie teilen die offenen, toleranten und demokratischen Werte des Vereins. Karnevalsveranstaltungen finden in der Synagoge statt, der Präsident wird beim Rosenmontagszug auf einem Wagen mit der Oberbürgermeisterin mitfahren. 9
Das Pfund, mit dem Köln wuchern kann, ist der Dom, der der ganzen Stadtbevölkerung gehört
Das äußerst bunte Bild, das sich aus den befragten Quellen des rheinischen, insbesondere des Kölner Karnevals ergibt, könnte den Eindruck erwecken, als sei dort die Welt noch in Ordnung, sofern man darunter eine homogene Gesellschaft mit einem allgemein geteilten Wertesystem versteht. Dass hier manches (noch) möglich ist, was andernorts längst der Vergangenheit angehört, mag der rheinischen Unbekümmertheit geschuldet sein, mit der so manches unter den Teppich gekehrt wird (s. unter Kölsches Grundgesetz). Dennoch ist die Außenstehenden oft kurios bis fragwürdig erscheinende Symbiose von Karneval und Kirche ein hohes Gut, da sie Toleranz und Respekt auf allen Seiten fördert. Wie lange dies in den Zeiten massenhafter Kirchenaustritte noch aufrecht zu erhalten ist, wird sich zeigen. Das Pfund, mit dem Köln wuchern kann, ist der Dom, der der ganzen Stadtbevölkerung gehört, Christen, Juden, Muslimen und allen anderen. Dass dessen Fertigstellung nach 500 Jahren Baustopp im Wesentlichen ausgerechnet den Preußen zu verdanken ist, die vorgeblich Zielscheibe spezifischer Kölner Karnevalsbräuche („Stippeföttche“) sind, ist eine Ironie der Geschichte und passt hervorragend zum Narrativ des Kölschen Karnevals.
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Albert Gerhards, Prof. Dr. theol. (* 1951), 1984 Prof. für Liturgiewissenschaft an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Bochum, 1989-2017 an der Universität Bonn. Seit 1989 Mitglied des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen. Seit 2020 Sprecher der DFG-Forschungsgruppe „Sakralraumtransformation“.
Beitragsbild: Das Kölner Dreigestirn (Wikimedia)
- Michael Euler-Schmidt, Kölner Maskenzüge 1823-1914, Köln 1991, 26. ↩
- https://www.domradio.de/system/files/document/KK_Liederheft_Domgottesdienst_Doppelseiten.pdf ↩
- https://www.erzbistum-koeln.de/presse_und_medien/magazin/Karneval-Ursprung-Bedeutung-und-Brauchtum-des-Karnevals/ ↩
- https://www.katholisch-in-koeln.de/gottesdienste-und-veranstaltungen/Karneval/fastelovend/index.html ↩
- https://www.katholisch-in-koeln.de/export/sites/katholisch-in-koeln/.galleries/dokumente/Einsingheft-St.-Agnes-final-2024_.pdf ↩
- Kirchenzeitung Köln 26.1.2024, Nr.4, 43. ↩
- https://kirchenzeitung-koeln.de/1965 ↩
- https://lutherkirche-koeln.de/karnevalsgottesdienst/#content ↩
- Kirchenzeitung Köln, 26.1.2024, Nr.4, 48. ↩