„Die Bistümer und Landeskirchen werden ihre Baureferate auflösen, den kirchlichen Immobilienbestand bis auf wenige Leuchttürme verkaufen oder abreißen.“1 Birgit Hoyer stellt Thomas Ernes Studien zu einer postsäkularen Theorie des Kirchenbaus vor.
Mit dem aufgezeigtem Szenarium wäre nichts gewonnen. Und es ist auch nicht sein letztes Wort – wenngleich Thomas Erne 2017 weit vor Corona Kirche im Internet „ungeahnte Möglichkeiten der religiösen Kommunikation, eine neue Form von Kirche, eine ecclesia virtualis sui generis“(223) sieht damit auf einen wichtigen Bereich von Kirchenreform hinweist. Anthony Giddens Begriff der „Entbettung“ als „Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung“2 führt ihn zur Entdeckung: „Der Geist einer alle Grenzen der Sprache und Kulturen überwindenden Verständigung, der an Pfingsten (vgl. Apg. 2) in den ersten Christen brannte, findet im Internet seine postmoderne Erfüllung.“(223) Nicht nur mit der Einordnung der Kirche in die Digitalisierung des Lebens, sondern mit der gerade in Corona-Zeiten voranschreitenden Säkularisierung des Sakralen legt Erne eine Kriteriologie für die Reflexion der Situation und die Entwicklung von Perspektiven für Kirchen, Kirchengemeinden und -gebäude vor.
Pfingsten findet im Internet seine postmoderne Erfüllung.
Kirchen haben sich auf jeden Fall zu messen an der Einsicht von „Säkularisierung als einer göttlichen Tat“. Das Christentum selbst hat diesen Prozess der Säkularisierung gestartet mit der „Entsakralisierung der antiken Welt durch das frühe Christentum […]. Das Neue Testament greift die alttestamentliche Kritik an heiligen Orten und Gegenständen, Bild, Tempel und Kult auf und radikalisiert sie in der Verkündigung der anbrechenden Gottesherrschaft, die für Jesu Botschaft zentral ist. Die christlichen Gemeinden kennen keine sakralen Räume, keine heiligen Zeiten, keine Priester, keine heiligen Kulthandlungen, sondern nur das Sein im Geist, der ihnen Christus vergegenwärtigt, und zwar in der religiösen Kommunikation der Gemeinde. […] Heilig ist nichts in der Welt, auch und vor allem nicht heilige Orte und Tempel, sondern der Mensch, sofern der Geist Christi, der weht, wo und wann er will, in ihm gegenwärtig wird.“(99, 100)
Heilig ist nichts in der Welt.
Die Kirche nahm eine andere Entwicklung, in der Säkularisation nicht als Aufgabe von, sondern als Angriff auf Kirche gewertet wird. Und doch ist die Grundidee nicht gänzlich verloren. Der evangelische Theologe Thomas Erne führt das „Reformprogramm [an], das der katholische Theologe Norbert Greinacher 1968 für die katholische Kirche entwirft. Es geht um eine umfassende Strukturveränderung, die die Kirche ‚von Sakralisierung zur Säkularisierung‘ führen soll. Sakral ist die auf sich bezogene, hierarchische, zentralistische, sich abgrenzende Kirche. Diese muss säkularisiert werden zu einer solidarischen, basisdemokratischen, diakonischen, engagierten und weltzugewandten Kirche.“3 Kirchengebäude werden für Erne dadurch jedoch gerade nicht überflüssig. Entbettung braucht Rückbettung. „Die Cyber-Churches im Cyberspace erzeugen einen Bedarf an realen Kirchen und an engagiertem Religionsvollzug an konkreten Orten. Kirchen sind und waren immer auch virtuelle Räume, die etwas vergegenwärtigen, das ein immaterielles Versprechen ist. […] Die Kirche wird in Zukunft als ein Hybridraum der Transzendenz diesen virtuellen Raum umfassen. […] Es ist gerade die demonstrative Gelassenheit, mit der eine gebaute Kirche auf ihrem Fundament aufruht, die Kirchen in der medialen Zukunft anziehend macht.“(224, 225)
Entbettung braucht Rückbettung.
Hybride Räume der Transzendenz – den Titel seiner Publikation füllt Thomas Erne auf gut 200 Seiten mit zunächst allein analogen Überlegungen zur gerade in Zeiten der Pandemie zugespitzten und theologisch hochaktuellen Frage, wozu wir heute noch Kirchen brauchen. Einführend zitiert er den nicht-religiösen Dichter Wolf Wondratschek: „Mir gefällt das Unbewohnbare von Kirchen […] Nichts gleicht hier einer Kleinigkeit. Nichts hier hat, obwohl überdacht, eine Grenze. Das Unsichtbare, eingefasst in hohe Bögen, in Überwölbungen, Kuppeln, in Architektur, Architektur als Kunstwerk, als Ereignis.“(9) Diese räumliche und ästhetische Erfahrung der Entgrenzung des Selbst wie die christliche Aufgabe der Säkularisierung lassen Erne fragen: „Wo sind wir, wenn wir in Kirchen sind? Und wer sind wir dort? Wie weit in uns beginnt die Unendlichkeit?“(11) Ordnung und das Überschreiten der Ordnung, Kontinuität und Diskontinuität, Kunst und Religion verdichten und eröffnen Kirche als Hybridraum der Transzendenz, „sofern es in ihr Transzendenz im Plural gibt als Ereignis der Kunst und als Ereignis der Liturgie. Für diese Erfahrung hybrider Formen der Transzendenz brauchen wir heute noch Kirchen. Das ist die Leitthese dieses Buches.“(11)
„Kirchen erlauben ästhetische Entgrenzungserfahrungen, ohne dass die für die religiöse Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit spezifische Annahme geteilt werden muss, es handele sich um die Erfahrung einer ‚höheren, unendlichen Wirklichkeit‘.“(27) Niemand muss glauben, um einen Kirchenraum zu betreten. Kirchenräume geben damit Zeugnis der überfließenden Gnade eines christlichen Gottes, der keine Bedingung stellt, nicht einmal die des Glaubens. „Das bedeutet für die Besucher, Flaneure, Touristen, Kunstkenner und Sinnsuchenden, dass sie in Kirchen eine Weitung ihres Daseins in Bezug auf religiöse Vorstellungen erleben können, ohne dass diese Vorstellungen sie religiös zu etwas verpflichten.“(16)
Ohne Verpflichtung.
„Der Kirchenraum erhebt daher nicht nur faktisch kein Deutungsmonopol, weil es die Kirche nicht mehr durchsetzen kann, sondern stellt aus religiösen Gründen ‚a new area of negotiation of meaning and representation‘4 dar.“(27) „Von Homi K. Bhabha, Literaturwissenschaftler und Theoretiker des Postkolonialismus, stammt das Konzept eines intermediären Raumes, eines ‚Third Space‘, in dem die Differenzen, die in der sozialen Interaktion entstehen, nicht symbolisch integriert, sondern symbolisch suspendiert werden. Der dritte Raum ist ein Ort des Schwebens. Hier sind Fragen der Zugehörigkeit zu Ethnien, Milieus, Religionen und Klassen für eine bestimmte Zeit außer Kraft gesetzt. […] Solche Zwischenräume einer zeitlich begrenzten Suspension von Regeln und sozialen Ordnungen in Zonen des Übergangs nennt Homi K. Bhabha hybride Räume.“(18) Die Erfahrung der Grenz- und Selbstüberschreitung, der Selbst- und Weltausdeutung auf ein größeres Ganzes hin, ist Möglichkeit und Aufgabe der Kirchen und gleichzeitig nicht auf sie beschränkt. Natur, Sport, Kunst, Musik, analoge und virtuelle Räume können Orte sein, an denen das Dasein geweitet, „das Selbst ergriffen werden [kann] von etwas, was jenseits seiner Macht liegt, von der Liebe, […] von der Bedürftigkeit eines anderen Menschen.“(26)
Auf die Frage „Wozu brauchen wir heute noch Kirchen?“ gibt Erne drei Antworten:
1. „Die Kirche braucht nach wie vor viele Kirchen flächendeckend für ihre Gottesdienste (domus ecclesiae), auch wenn die Zahl der Gottesdienstbesucher sinkt. Kirchen sind Versammlungsräume einer Gemeinde, faszinierend und anziehend auch für eine breite Öffentlichkeit, weil und sofern in sie etwas eingeschrieben ist von der religiösen Kommunikation der Gemeinde.“(136)
2. „Die Gesellschaft braucht die Kirchen, weil viele Menschen sie brauchen. Kirchen sind als Bauwerk eine Heimat, ein Ort der Daseinsweitung für Besucher, die den Raum ästhetisch erleben. Kirchen werden gebraucht als ein domus hominis spiritualis et aesthetici. Ihnen wächst in der postmodernen Kultur eine wichtige Aufgabe zu. Sie sind ein öffentlicher Ort, wo Menschen mit dem Raum und seiner Aura eine Weitung und Überschreitung ihres Daseins verbinden, die sie nicht mehr, jedenfalls nicht mehr ausschließlich, religiös interpretieren.“(136)
3. „Kirche wie Gesellschaft brauchen Kirchen […], weil sich in ihnen beides, domus ecclesiae und hominis aesthetici, überlagern, wechselseitig vertiefen, aber auch abstoßen: Die weitende Atmosphäre des Kirchenraums mit der Gegenwart Gottes im Gottesdienst der christlichen Gemeinde. Das ist mit der These gemeint, dass Kirchen Hybridräume der Transzendenz sind und als solche auch verstanden und entwickelt werden sollten. Das kann konkret bedeuten, die Kirche wieder mit den alternativen Orten der Daseinsweitung zu vernetzen, beispielsweise das Kino in die Kirchen zu holen, oder das Gasthaus in den Vesperkirchen in Nürtingen, Nürnberg, Frankfurt a.M. oder Stuttgart, wo Armen und Obdachlosen in den Kirchen ein Dach über dem Kopf und ein verlässlich gedeckter Tisch geboten wird. Ich rede bewusst von Hybridbildung, nicht von funktionaler Ausdifferenzierung, sondern von Überlagerung, Überschneidung, Montage autonomer Formen der Transzendenz.“(137)
Diese Antworten bedeuten gerade kein Weiter so. Die radikale Strukturveränderung der Kirche „von Sakralisierung zur Säkularisierung“ wird nicht durch den Abriss von Kirchengebäuden und die Verlagerung in digitale Netze erreicht. Kirchengebäude werden gebraucht als sichtbare Zeichen der Zeit, die Gelassenheit demonstrieren in den aufgeregten, sich noch immer mehr beschleunigenden Kontexten postmodern-moderner Gesellschaften. Und sind gleichzeitig sichtbares Zeichen, keine Zeit zu verlieren, in ihnen die Transformation zu vollziehen von der sakralen, auf sich bezogenen, hierarchischen, zentralistischen, sich abgrenzenden Kirche zu einer säkularisierten, solidarischen, basisdemokratischen, diakonischen, engagierten und weltzugewandten Kirche.
Kirche: säkularisiert, solidarisch, basisdemokratisch, diakonisch, engagiert und weltzugewandt.
Kirchengebäude sind die manifestierte Mahnung für die Kirchen, Orte der Wandlung zu sein, „Umschlagplätze, an denen sich die sozial und ästhetisch ausgelegte und ausgelebte Sehnsucht nach Daseinsweitung mit der christlichen Entgrenzung der sozialen, ästhetischen, politischen Erfahrung von Selbsttranszendenz verbindet.“(138) Diese Mahnung ist Auftrag für die Bistümer und Pfarreien konkrete Zeichen zu setzen. „Wenn eine Kirche vernetzt werden soll mit gesellschaftlich relevanten Formen der Daseinsweitung, dann […] muss eine Kirchengemeinde etwas tun, indem sie beispielsweise ihre Kirche kunstvoll in Szene setzt wie St. Matthäus in Berlin oder die Augustiner-Kirche in Würzburg. Das Netz mit den Transzendenzbedürfnissen der Gegenwart muss eine Gemeinde knüpfen und sich diese Öffnung spirituell, liturgisch, sozial oder ästhetisch erarbeiten.“(139)
Netz mit den Transzendenzbedürfnissen der Gegenwart knüpfen.
Die Forderung der Gegenwart besteht nicht im Abriss von Gebäuden, sondern in einem Einreißen der auf sich bezogenen, hierarchischen, zentralistischen, sich abgrenzenden Kirche. Im konsequenten und offensiven Aufbau einer säkularen Kirche, solidarisch, basisdemokratisch, diakonisch, engagiert und weltzugewandt in Gebäuden demonstrativer Gelassenheit, nicht Untätigkeit – analog und digital. Kirchen als Zeichen der Zeit, Zeichen in der Zeit. Vereinzelte Zeichen zeigen nur die klaffende Wunde nicht erkannter Verantwortung.
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Text: Birgit Hoyer, Mitglied der Redaktion.
Bild: Evangelische Verlagsanstalt, Buchcover.
- Erne, Thomas, Hybride Räume der Transzendenz. Wozu wir heute noch Kirchen brauchen. Studien zu einer postsäkularen
Theorie des Kirchenbaus, Leipzig 2017, 223 ↩ - Giddens, Anthony, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1997, 33. ↩
- (101) Greinacher, Norbert: Strukturwandel der Kirche heute und morgen, in: G. Rombold (Hg.), Kirchen für die Zukunft bauen. Beiträge zum neuen Kirchenverständnis, Wien 1969, 27–45. ↩
- Rutherford, Jonathan: The Third Space. Interview with Homi Bhabha, in: Ders. (Hg.), Identity: Community, Culture, Difference, London 1990, 207–221, hier 211. ↩