Hannes Langbein mit einem Plädoyer für neue kirchliche Bündnisse mit Kunst- und Kulturschaffenden – gerade in Zeiten der Krise.
Es gibt Zeiten, in denen man sich neu entdeckt. Krisen gehören in der Regel dazu. Eigene Schwächen treten besonders deutlich ans Licht, ungeahnte Stärken auch. Krisen stärken, wenn es gut läuft, den Gemeinschaftssinn, alte Gräben werden plötzlich unsichtbar. Für einen Moment wird gemeinsam angepackt. Hinzu kommt, dass der Ausnahmezustand der Krise das Experiment begünstigt. Selten kann so ausgiebig experimentiert werden wie in Krisenzeiten, wenn die akuten Bedingungen schnelle und kreative Lösungen notwendig machen.
Der Ausnahmezustand der Krise begünstigt das Experiment.
Gilt das auch für die aktuelle Corona-Krise? – Es will so scheinen. Jedenfalls wenn wir auf das Verhältnis von Kunst und Kirche schauen. Denn Not macht erfinderisch, und Künstler*innen gehören zu denjenigen Berufsgruppen, die in der Krise besonders in Not geraten sind: Musiker*innen, Schauspieler*innen, Performer*innen und andere freischaffende Künstler*innen haben seit dem großen Lockdown das Gros ihrer Auftrittsmöglichkeiten und damit auch ihre Lebensgrundlage verloren. Theater, Opern, Literatur- und Konzerthäuser mussten – teils bis auf den heutigen Tag – schließen. Auch die Kirchen, die jedoch – dem hohen Gut der Religionsfreiheit sei Dank – nach wenigen Wochen wieder öffnen konnten. Seither gehören sie zu den wenigen „Aufführungsorten“, die für Künstler*innen offenstehen könnten.
Kirche als einer von wenigen „Aufführungsorten“
Man muss sich das noch einmal auf der Zunge zergehen lassen. Denn die Kirchen gehören tatsächlich zu den bundesweit größten „Kulturanbietern“, die das Land hat: Über 40 000 „Spielstätten“ deutschlandweit, mindestens eine Veranstaltung pro Woche, landauf landab. Schon vor über zehn Jahren stellte die Enquete-Kommission des Bundestages „Kultur in Deutschland“ (2007) in ihrem Abschlussbericht fest, dass die Kirchen nach Bund und Ländern numerisch zu den größten Kulturträgerinnen des Landes gehören: Mit ihrem flächendeckenden Netzwerk von Chören, Posaunenarbeit, kultureller Kinder- und Jugendbildung, usw. gehören sie zu den größten Arbeitgeberinnen im Kulturbereich. Der Deutsche Kulturrat, Spitzenverband der deutschen Kulturverbände, sprach gar von einer „unbekannten kulturpolitischen Macht der Kirchen“, die ihren diesbezüglichen kulturpolitischen Einfluss gleichwohl noch deutlicher geltend machen könnten.
Die Kirchen haben kulturpolitische Macht.
Jetzt wäre die Gelegenheit. Denn allein mit ihren Gottesdiensten organisieren die Kirchen mindestens einmal pro Woche zwischen 20.000 und 30.000 Veranstaltungen, die nicht zuletzt von Musik, Lesungen und – wenn man einen ästhetischen Blick auf die Liturgie richtet – von Performances leben. Jeder Gottesdienst ist in gewisser Hinsicht ein synästhetisches Gesamtkunstwerk, das auf die Mitwirkung von Künstlerinnen und Künstlern angewiesen ist – mehr denn je in einer Zeit, in der das gemeinsame Singen in Gottesdiensten verboten ist und damit einer der wichtigsten ästhetischen Glanzpunkte der Gottesdienste in den Hintergrund treten muss. Mehr denn je sind die Kirchen auf eine möglichst ansprechende, tröstliche und heilsame ästhetische Gestaltung ihrer Gottesdienste angewiesen. Und wer könnte das besser als Künstler*innen, die genau das gelernt haben und die aktuell nach Auftrittsmöglichkeiten suchen: Musikalische Zwischenspiele, Gesangssolist*innen, die ungesungene Lieder für die Gemeinde intonieren, Schauspieler*innen, die uns die biblischen Texte näherbringen…
Gottesdienst ist als synästhetisches Gesamtkunstwerk – noch besser mit Künstler*innen
So könnten sich mitten in der Krise neue Allianzen auftun: Kirchen könnten das machen, was sie immer machen: Gottesdienste feiern. Und dazu Künstler*innen zu Musiken, Lesungen und szenischen Performances einladen. Mit Gewinn für die Qualität der Gottesdienste. Und Gewinn für die Künstler*innen. Man lernt sich gegenseitig kennen. Wer weiß welche neuen Allianzen sich da ergeben? Wer weiß, welche Kontakte da bleiben, wenn ein Team von Künstler*innen und Liturg*innen einmal einen Gottesdienst gemeinsam vorbereitet hat? Wer weiß, wie sich das eigene Selbstverständnis auf beiden Seiten verschiebt, wenn man sich erst einmal als Partner*in auf Augenhöhe wahrgenommen hat?
Allianzen mit Gewinn für beide Seiten
Natürlich müsste auch das Geld stimmen. Denn gerade darin liegt ja die aktuelle Notsituation von Künstlerinnen und Künstlern. Die Gemeinden müssten für jede gemeinsame Aktion ein Honorar einplanen. Das ist nicht selbstverständlich und allzu oft nicht einfach. Doch es lohnt sich, Partner*innen zu suchen oder ein Stück des eigenen Etats für diese Aufgaben zu widmen. Oder es gibt eine Kollekte am Ausgang nur für die am Gottesdienst beteiligten Künstler und Künstlerinnen – nicht im Sinne von Almosen, sondern als kleinen Beitrag zum Auskommen von unverschuldet in Not Geratenen. Natürlich können Gemeinden mit ihren begrenzten Möglichkeiten keine Wunder vollbringen. Aber ein Zeichen der Anerkennung, eine Möglichkeit, die eigene Arbeit zu zeigen und eine kleine Finanzhilfe sind doch möglich – wenn es nur jede zehnte Gemeinde so machen würde, 2000-3000mal pro Woche…
Was das für Folgen haben kann, beobachten wir in unserer eigenen Arbeit in der St. Matthäus-Kirche im Berliner Kulturforum. Gerade haben wir unseren traditionellen „Mein Psalm“-Kunstgottesdienst gefeiert: Mit dem Lyriker Steffen Popp und dem Posaunisten Vladimir Veres. Steffen Popp dichtete Psalm 114 neu, Vladimir Veres improvisierte dazu. Bischof Stäblein hielt die Predigt. Am Ende stand ein Gottesdienst mit ungewohnten Klängen und Sprachbildern: „Schäumender Flussquerschnitt“ und „panisches Haufenbilden“ der Wellen beim Auszug aus Ägypten, das Rote Meer als „kräftiger Pudding, der seine Muskeln zeigt“… – Solch kräftige Sprachbilder kann Psalm 114 hervorbringen: „Schar der zerstiebenden Zeichen / das ist die Feuerschrift, die aus den Dornen spricht / … Berge, Fluss, Meer sind in ihr aufgehoben, öffnen Zeilen“.
Die Künstlerin schafft einen neuen Kirchenraum, in dem die Gemeinde gemeinsamer ist als zuvor.
Übrigens: Den Corona-tauglichen Raum verdanken wir auch einer Künstlerin: Leiko Ikemura. Die in Berlin lebende japanische Künstlerin richtete ihre Rauminstallation „In Praise of Light“ („Lob des Lichts“) so ein, dass ein ganz neuer Kirchenraum, eine veränderte Sitzordnung entstand: Plötzlich sitzt die Gottesdienstgemeinde auf Abstand gemeinsamer denn je: im Oval anstatt in hintereinander gestaffelten Kirchenbänken. In ihrer Mitte: Leiko Ikemuras Skulptur „Memento mori“. Die Tote mitten unter den Lebenden – im Altar ein nach oben ziehendes Licht- und Farbgestöber. So nah können sich Leben und Tod kommen. Neue – im Grunde alte – Allianzen in Zeiten der Krise.
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Hannes Langbein ist Direktor der Stiftung St. Matthäus, Kulturstiftung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) und Kunstbeauftragter der EKBO.
Bilder: „Mein Psalm“-Gottesdienst, St. Matthäus, Rechte bei Leo Seidel