Der Pastoraltheologe Ottmar Fuchs hinterfragt die theologischen Konsequenzen des Kirchenaustritts und plädiert für ein Verständnis von Kirche am Übergang und für eine transitorische Seelsorge.
Aktuell treten viele aus der römisch-katholischen Kirche aus. Dies führt zu reflexartigen Reaktionen von Seiten der Kirchenleitungen, aber auch der Medien. Kirchenaustritte sind ein interessantes Faktum für die öffentlichen Medien. Sie gelten als Sensoren für den Einfluss- und Machtverlust von Kirchen in der Gesellschaft. Ohne zu leugnen, dass dies zuerst einmal bedauernswerte Erfahrungen in den Kirchen sind, beginnt in einem theologisch konstruktiven und freiheitsanerkennenden Umgang mit Kirchenaustritten bereits die immer wieder versprochene „Umkehr“ der Kirchen. Es geht um die praktische Umgestaltung des vielfachen Austritts in einen kreativen Kontrollverlust: orientiert nicht primär an der Selbsterhaltung der Kirchen, sondern an der Sorge mit den und um die beteiligten „Seelen“.
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Austritt: gibt es das überhaupt?
Ich beziehe mich hier mit Absicht auch auf vorkonziliare Vorstellungen, die interessanterweise mehr Unterbrechung allzu plakativer Innen-außen-Regulierungen zulassen, als man vielleicht erwarten würde. Die vorkonziliare Dogmatik changiert zwischen zwei Positionen, wobei die erstere die grundlegendere ist, die sich offensichtlich in der neueren Dogmatik durchgesetzt hat. Dabei geht es um die grundlegende Einsicht, dass mit dem unauslöschlichen Merkmal, das mit der Taufe gegeben ist, zugleich die Mitgliedschaft in dem gegeben ist, in dem die Taufe geschieht: in Christus, und dass dieser sakramentale Christusbezug zugleich die (Mit-)Gliedschaft in der Kirche begründet. Wie also die Gabe des Sakramentes der Taufe unwiderrufbar ist, so ist dann auch die Mitgliedschaft in der Kirche unwiderrufbar.
Die Rechtfertigungsgnade, die mit dem Sakrament der Taufe gegeben ist, wird niemals zurückgenommen.
Denn die Rechtfertigungsgnade, die mit dem Sakrament der Taufe gegeben ist, wird niemals zurückgenommen: sie ist das Symbolgeschehen dafür, dass Gott seine Liebe niemals zurücknimmt. Dies gilt für die ältere Dogmatik in jedem Fall für alle Getauften als Sünder und Sünderinnen. Keine Sünde kann die Getauften von der Liebe Gottes trennen. Schwerer tut sich die Kirche mit denen, die nicht mehr oder nicht richtig glauben. Danach führt der Abfall vom Glauben auch zur Trennung vom Leib der Kirche.1 Doch findet man in der Tradition die gegenteilige Position, dass Menschen, die vom Glauben abfallen bzw. häretisch glauben, ebenfalls den Taufcharakter nicht verlieren: „Da der Taufcharakter, der die Eingliederung in die Kirche bewirkt, unzerstörbar ist, kann der Getaufte trotz des Aufhörens der Kirchengliedschaft nicht so vollständig aus der Kirche ausscheiden, dass jede Verbindung mit der Kirche gelöst wird.“ Ihre Kirchenzugehörigkeit wird verstärkt durch den juristischen Anspruch der Kirche auf alle Getauften: „Die Kirche beansprucht darum auch über die Getauften, die von ihr getrennt sind, Jurisdiktion.“ (Vgl. 375)
So knirscht die zwiespältige Aussage: „Aus der Einheit des mystischen Leibes Christi folgt, dass jeder gültig Getaufte, auch der außerhalb der katholischen Kirche Getaufte, Mitglied der von Christus gegründeten einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche wird, falls er sich nicht gleichzeitig freiwillig einer häretischen oder schismatischen Gemeinschaft anschließt. Jeder Getaufte untersteht der Jurisdiktionsgewalt der Kirche.“ Der innere Widerspruch dieses Satzes fällt ins Auge: denn wenn jeder getaufte Mensch zur Kirche gehört, kann nicht gleichzeitig ein Getaufter in einer anderen kirchlichen Gemeinschaft davon ausgeschlossen sein. (426) Übrigens analog zur Gültigkeit der Bischofsweihe: „Jeder gültig geweihte Bischof, auch der häretische, schismatische, simonistische oder exkommunizierte, kann das Weihesakrament gültig spenden …“ (546) Hier tangiert der Glaubensabfall die Wirksamkeit des Sakramentes nicht. Es war eben durch Jahrhunderte hindurch ein kontroverstheologisches Anliegen, den Andersgläubigen innerhalb des Christentums möglichst wenig an Heil zu gönnen und ihre Sünde schlimmer anzusehen als das schlimmste „normale“ Verbrechen. Machtanalytisch ist das durchaus einsichtig.
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Universaler Heilswille Gottes
Die alte Lehre, dass die Sakramente ex opere operato, also Kraft der vollzogenen sakramentalen Handlung wirken, und dass die subjektive Disposition nicht Ursache der Gnade, sondern dass Gott die Ursache allein ist, vereindeutigt die Selbstwirksamkeit der Gnade Gottes, ihre Unabhängigkeit von dem, was Menschen sind und tun. Anders formuliert, Menschen müssen nichts dafür tun, um von Gott geliebt zu werden. (Vgl. 394-396) Aufgrund des allgemeinen Heilswillens Gottes für alle Menschen gibt von daher Gott allen schuldlos Ungläubigen „hinreichende Gnade zur Erlangung des ewigen Heiles.“ (290) Allerdings geht diese Formulierung faktisch ins Leere: Denn „schuldig“ Nichtgläubige gibt es in der Regel nicht, weil sie meist vom Christentum nichts erfahren haben bzw. es nicht so kennen, dass sie sich dafür entscheiden könnten.
Der Gnadenradius Gottes in der Menschheitsgeschichte ist unendlich weiter als der Gnadenradius der Kirche.
So gibt es die Heilsmöglichkeit auch ohne aktuelle Zugehörigkeit zur Kirche. ( Vgl. 377) Einmal gilt: Nicht erst die Taufe, sondern bereits der Wunsch nach der Taufe, etwas allgemeiner formuliert, der Wunsch nach Heil überhaupt, konstituiert die Möglichkeit des Heils. Zum anderen: Gott kann die Gnade auch ohne das Verlangen danach und ohne die Begierdetaufe schenken. (Vgl. 408 f)
Der Gnadenradius Gottes in der Menschheitsgeschichte ist also unendlich weiter als der Gnadenradius der Kirche. (Vgl. 291)
Auf dem Hintergrund dieser jahrhundertelang entstandenen und diskutierten sakramentalen Grundlagen für die Kirchenzugehörigkeit gibt es „eigentlich“ überhaupt keine Austrittsmöglichkeit, was aber spätestens seit dem II. Vatikanum nicht als herrschaftlich-juristischer Zugriff zu interpretieren ist, sondern als Zusicherung, dass jeder getaufte Mensch die bleibende Garantie hat, von Gott geliebt zu sein. Dies gilt selbstverständlich auch für alle Menschen aufgrund ihrer Geburt allein, aber mit der Taufe wird dies erlebbar und im Symbol endgültig als zugesprochen erfahren.2
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Universales Heil vom Kreuz her
Der Grund dafür liegt in der universalen Heilsbedeutsamkeit des Kreuzes. Solche Universalität liegt weniger in der praecrucialen Verkündigung Jesu, die oft die ausgrenzt, die ihm nicht nachfolgen (vgl. Mt. 25,1-13). Erst vom Kreuz her wird die entscheidende neue Qualität der Reich-Gottes-Botschaft offenbar, nämlich dass die Liebe des Gottessohnes stärker ist als die radikalste menschliche Absage: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34). Die Verweigerung des eschatologischen Heilshandelns Gottes macht den Heilsentschluss Gottes für alle Menschen nicht rückgängig. Ganz im Gegenteil: „Das eschatologische Handeln Gottes erweist sich vielmehr gerade im Tode seines Repräsentanten als wirksames Geschehen, in dem Gott den Tod seines eschatologischen Boten zum Akt der Sühne werden ließ.“3 Der Aspekt der Sühne unterstreicht zugleich, dass es bis ins Jüngste Gericht keine billige Vergebung gibt, allerdings in und nicht außerhalb der göttlichen Liebe.4 So brauchen wir eine Seelsorge, die Michel Certeaus Diktum „nicht ohne die anderen/Anderen“ programmatisch in den Blick nimmt.
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Dies bedeutet im Einzelnen:
a) Entgegen dem allgemeinen Bewusstsein in Deutschland, dass man mit dem Austritt aus der katholischen Kirche tatsächlich austritt (im theologischen Sinn), ist ein anderes Bewusstsein zu betreiben, dass der Austritt einfach nur ein Verwaltungsakt ist, ohne jegliche sakramententheologische Bedeutung..
b) Mit der Taufe gibt es die prinzipielle ökumenische interkonfessionelle Lizenz, allen Kirchen zugehörig zu sein, die die Taufe als Basis haben. Man sollte deshalb, wenn Menschen die katholische Kirche nicht mehr als Repräsentanz der Frohen Botschaft erfahren haben und erfahren, darin die Chance sehen und ergreifen lassen, in eine andere Kirche einzutreten, in der diesbezüglich mehr Möglichkeiten gegeben sind.
Es weitet sich der Anteil der unsichtbaren Kirche derer, die soziologisch aus den Kirchen austreten und gleichwohl sich als christlich Getaufte verstehen.
c) Auch Menschen, die ausgetreten bleiben und auf keine andere Kirche zukommen, gehören weiterhin zur sakramententheologisch basierten Kirche, nicht als Zugriff, sondern als Gnade des unerschöpflichen Geliebtseins von Gott her. Viele von ihnen behalten oder transformieren den überbrachten Glauben und leben weiterhin aus seinen Motiven und Hoffnungen heraus.5 So ist Carolin Kebekus nach Medienberichten zwar aus der Kirche ausgetreten, fühle sich aber weiterhin als katholisch getaufte Christin. Es weitet sich also der Anteil der unsichtbaren Kirche derer, die soziologisch aus den Kirchen austreten und gleichwohl sich als christlich Getaufte verstehen. Kirchenbezogene Dekonversion muss keine glaubensbezogene Entkehrung sein. Die Herkunftskirche darf sich in den selbstlosen Dienst stellen, Transferhilfen für andere Kirchen oder überhaupt anderswohin zu leisten. Die gleiche seelsorgerliche Mühe, die mit Recht Kircheneintritte begleitet, wäre bei den „Austritten“ aufzuwenden.
Nicht wegstoßende Sanktionen sind hier fällig, sondern eine entsprechende wegbegleitende Seelsorge wird nötig.
d) Von daher ist es nicht zulässig, die bleibende Zugehörigkeit nur über Strafsanktionen zu realisieren. Die alte jurisdiktionelle Beanspruchung wird vielmehr durch freiheitschützende Seelsorge zu ersetzen sein. Nicht wegstoßende Sanktionen sind hier fällig, sondern eine entsprechende wegbegleitende Seelsorge wird nötig. Mit der bleibenden sakramententheologischen Zugehörigkeit zur Kirche können zudem die Zulassung zu den anderen Sakramenten (und den Sakramentalien, wie etwa zur Beerdigung) und die entsprechende Seelsorge nicht beschnitten werden, soweit dies jedenfalls gewünscht wird.
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Pastorale Verantwortung für eine transitorische Seelsorge
Es ist eine lange Tradition: Seelsorge ist immer auch so etwas wie eine Verbindung zwischen innen und außen, denn gerade die Seelsorge hat an der Universalität christlicher Diakonie Anteil und kommt immer auch mit Menschen in Kontakt, die entweder – wie auch immer – „fernstehend“ sind (wie etwa in der Kasualpastoral) oder aber auch mit Menschen, die aus anderen Religionen und Kulturen kommen.6 Viele Seelsorgsräume befinden sich längst in der Überbrückung zwischen (kirchen- bzw. glaubensbezogen) innen und außen: die Tourismusseelsorge, die Gefängnisseelsorge, die Krankenhausseelsorge, die Telefonseelsorge, die Notfallseelsorge, die Betriebsseelsorge und vieles andere mehr. Es gibt also längst eine interreligiöse und ökumenische Praxis der christlichen Seelsorge. Ob professionell oder als allgemeine Tätigkeit zwischen den Menschen ist sie per se ebenso transitorisch wie inklusiv, und begreift sich aus ihrer eigenen inhaltlichen nicht-identitären Identität heraus als Brücke zwischen „Innen“ und „Außen“, wo immer diese Bezeichnungen zum Erlebnis werden.
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Autor: Ottmar Fuchs war Professor für Praktische Theologie in Bamberg und Tübingen.
Beitragsbild: Pixabay
- Ich zitiere im Folgenden den „Klassiker“ vorkonziliarer Dogmatik: Ludwig Ott, Grundriss der katholischen Dogmatik, Freiburg i. B. 4/1959, hier 369. ↩
- Vgl. Ottmar Fuchs, Die Liturgie als Basis der Pastoral, erscheint in: Benedikt Kranemann, Stephan Winter (Hg.), Im Aufbruch. Liturgie und Liturgiewissenschaft vor neuen Herausforderungen, Münster 2022. ↩
- Helmut Merklein, Studien zu Jesus und Paulus II., Tübingen 1998, 185. ↩
- Vgl. Ottmar Fuchs, „Weinen und Zerknirscht-sein“: in oder fern der Liebe?, erscheint in: Jahrbuch für Biblische Theologie 36 (2021) Die Hölle. ↩
- Vgl. Alan Jamieson, A Churchless Faith, London 2002; Johannes Först, Joachim Kügler (Hg.) Die unbekannte Mehrheit, Münster 2006. ↩
- Vgl. Doris Nauer, Seelsorgekonzepte im Widerstreit, Stuttgart 2001, für unseren Zusammenhang vor allem die diakonische, die politisch-befreiende, die emanzipatorische und die interkulturelle Seelsorge, ebd. 262ff, 302ff, 313ff, 329ff. ↩