2023 verließen in Deutschland ca. 2% ihrer Mitglieder die katholische Kirche. Für jede Institution, erst recht eine vertrauens- und glaubensbasierte, ist das existenzbedrohend. Die Frage ist, was sie daraus lernen kann. Von Rainer Bucher.
Für niemanden ist es leicht zu akzeptieren, dass man nichts mehr von ihm wissen will. Da unterscheiden sich Institutionen nicht allzusehr von Personen. Deshalb gleichen sich auch die Reaktionsmuster. Einige davon sind Versuchungen, die nahe liegen, denen man aber nicht nachgeben sollte. Denn Versuchungen sind Versprechen, die nicht gehalten werden. Hier versprechen sie, den Kränkungsschmerz zu lindern, den Austritte für die Kirche bedeuten.
Versuchungen
Drei solcher Versuchungen drohen: Resignation, Denunziation und Aktivismus. Die Resignation winkt mit Schmerzreduktion durch Kapitulation. Die religionssoziologischen Zahlen geben dazu einigen Grund. Denn die Kirchenaustrittszahlen und noch einige andere Parameter wie etwa die sinkende Taufquote signalisieren einen massiven, offenkundig unaufhaltsamen Akzeptanz- und Vertrauensverlust der katholischen Kirche. Resignation lindert den Schmerz, weil man dann überzeugt ist, dass sowieso nichts zu ändern ist und man einfach alles beim Alten belassen kann. Aber die Kirche darf und kann ihren Auftrag nicht einfach wegen aktuellen Nichterfolgs zurückgeben.
Denunziation
Die Denunziation verspricht Kränkungslinderung, indem man jene beschimpft, die austreten. Bekanntlich war das die Strategie der katholischen Kirche bis zum II. Vatikanum: Ausgetretene wurden als „Abtrünnige“, „Sünder“ etc. mit Heilsverlust bedroht und sozial geächtet. Solange die Kirche sozialmoralisches und transzendentes Drohpotential besaß, sicherte diese Strategie die eigene psychische wie institutionelle Stabilität.
Nach dem Zusammenbruch der „Pastoral der Angst“ funktioniert das aber nicht mehr. Und es widerspricht dem Inhalt der christlichen Botschaft: Gottes grenzenloser Heilswillen spricht eine andere Sprache. Die Kirche ist eben nicht der exklusive Kanal des Heils, sondern dessen Zeichen und Werkzeug, also der Ort, an dem die universale Liebe Gotte zu allen Menschen geglaubt, verkündet und, soweit es halt möglich ist, gelebt wird.
Aktivismus
Der Aktivismus schließlich verspricht Schmerzlinderung durch betäubende Selbstbeschäftigung. Man tut, was man immer tat, nur intensiver und mehr davon. Irgendwas muss es doch nutzen. Doch offenkundig stimmt das nicht. Man nimmt nicht wahr, was doch offenkundig ist: Bei der steigenden Zahl von Kirchenaustritten handelt es sich nicht um ein altes Problem, das mit alten Mitteln und einigem guten Willen gelöst werden kann, vielmehr um ein neues Problem, das eine völlig neue Herausforderung darstellt.
Die Herausforderung: etwas wirklich Neues.
Die steigenden Kirchenaustrittszahlen sagen der Kirche wirklich Neues über sich selbst und es ist überhaupt noch nicht gesagt, dass dieses Neue schon wirklich erkannt ist. Denn das ist mühsam und man muss aufmerksam sein, hinhören und demütig suchen. Das sind für die katholische Kirche nicht unbedingt charakteristische Eigenschaften. Sich zu ihnen zu bekehren ist also eine geistliche Herausforderung, die natürlich immer auch eine intellektuelle Herausforderung ist.
Das Neue aber ist epochal. Religionssoziologisch zeigen die Austrittszahlen etwa, dass sich das Nutzungsmuster von Kirche grundlegend gewandelt hat. Von einer praktisch unverlassbaren „Heilsanstalt“ wurde sie zu einer nur noch situativ und nach einem individuellen Kosten-Nutzenkalkül aufgesuchten Anbieterin von religiösen und sozialen Praktiken. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Auflösung des klassischen katholischen Konzepts von „Kirche“ von der „Nutzerseite“ her.
Die klassischen theologischen Antworten dazu führen erst einmal nur sehr bedingt weiter. Dogmatisch ist die Kirchenmitgliedschaft bekanntlich mehr als institutionelle Zugehörigkeit. Die Taufe ist theologisch die Eingliederung in eine „übernatürliche Heilsgemeinschaft“, aus der man gar nicht austreten kann. Die Ausgetretenen sind das dogmatisch also eigentlich gar nicht: ausgetreten. Sie sind Kirchenmitglieder, die einen spezifischen Akt des Ungehorsams gegenüber der kirchlichen Institution gesetzt haben, dafür kirchenrechtlich sanktioniert werden und (meistens, durchaus nicht immer) ihre praktische Partizipation am kirchlichen Leben einstellen.
Die klassischen Antworten führen nicht wirklich weiter.
Das Kirchenrecht setzt als Strafe für den (bürgerlichen) Kirchenaustritt eben dies an: die Aufkündigung der vollen Kirchengemeinschaft. Diese kirchenrechtliche Strategie hat zwar innerkirchlich Sinn, aber keine Bedeutung, außerkirchlich aber unter den Bedingungen einer liberalen Moderne weder Sinn noch Bedeutung. Das Kirchenrecht nimmt den bürgerlichen Kirchenaustritt ernst und bestraft ihn mit (innerkirchlichen, also unwirksamen) Sanktionen. Die Tauftheologie bestraft nicht und eröffnet eine bleibende Gemeinsamkeit jenseits der institutionellen Desintegration, aber gerade diese Gemeinschaft ist es, welche von den Ausgetretenen nicht mehr gewollt wird. Der dogmatische Zugang zum Phänomen des Kirchenaustritts begreift die Ausgetretenen unter einer Sinnperspektive, welche diese selbst ausdrücklich ablehnen, das Kirchenrecht aber bestraft mit dem, was die Ausgetretenen schon getan haben.
Diese Paradoxien erkennt man nur unter pastoraler Perspektive, wenn also Kirche handelnd versucht, mit Ausgetretenen in Kontakt zu kommen. Die pastorale Hilflosigkeit beider Ansätze markiert die prophetische Herausforderung des Kirchenaustritts. Es zeigt sich: So wie bisher geht es nicht weiter. Das ist eine klassisch prophetische Lage.
Die Prophetie der Kirchenaustritte.
Prophetie ist ein Wagnis. Sie reagiert auf die Sprach- und Hilflosigkeit des Glaubens vor einem neuen Phänomen mit neuen Schlussfolgerungen aus dem alten Glauben. Prophetie bringt die Botschaft angesichts neuer Realitäten neu, überraschend, umstritten und prekär zur Geltung. Sie stellt sich gegen die alten Institutionen des Glaubens, insofern diese nur alte Formeln weitergeben, die auf neue Fragen keine weiterführenden Antworten geben. Etwas als prophetische Herausforderung zu begreifen, heißt das Neue entdecken wollen und können, das in diesem „Etwas“ steckt und zwar sowohl in ihm selbst wie in ihm aus der Perspektive des Glaubens.
Das Neue der Kirchenaustrittszahlen, ihr prophetischer Gehalt, liegt aber im endgültigen Zurückgeworfensein der Kirche auf den Nachweis der existentiellen Wahrheit ihrer Botschaft. Denn wer austritt, traut der Kirche nicht mehr zu, diesen Nachweis erbringen zu können. Kirche wird also in den Austritten nach dem heute möglichen Leben in der säkularen Bedeutsamkeit des Glaubens und aus dem religiösen Sinn der menschlichen Existenz gefragt.
Zurückgeworfen auf den Nachweis der existentiellen Wahrheit der Botschaft.
Die prophetische Herausforderung der Kirchenaustritte liegt in der Frage nach der Fähigkeit im Raum der Kirche, dem Glauben säkulare Bedeutung zu verleihen und der menschlichen Existenz heute eine religiöse Perspektive zu eröffnen. Kirche, so dokumentieren die Kirchenaustritte, ist auf den Existenzgehalt ihrer Botschaft als alleinige Basis ihrer Existenz zurückgeworfen. Das ist für sie ziemlich neu und eine Herausforderung epochalen Ausmaßes. Zumal eine akute Vertrauenskrise der katholischen Kirche auf Grund des Missbrauchsskandals den geforderten Erweis extrem schwierig macht.[1] Denn wie soll man ihr überhaupt noch glauben?
So kommt man schwer schon zu den eigentlichen ebenfalls schweren Fragen: Kann man in der Kirche erfahren, was sich am Leben ändert, wenn man an diesen Gott glaubt? Kann man in dieser Kirche erfahren, was an unserem Leben auf diesen Gott verweist, was zu seiner Erfüllung auf diesen Gott und seinen weiten Horizont angewiesen ist? Kann man in unserer Kirche jenes bedingungslose Angenommensein, das jener Gott, den wir doch verkünden, uns schenkt und das alleine wirklich Veränderung, Umkehr ermöglicht, auch von uns als Geschenk erleben?
Kann man erfahren, was Kirche behauptet?
Alle jene, die der Kirche der Rücken kehren, stellen die Frage: Warum hat ihnen die Kirche keinen Himmel und keine neue Erde eröffnet? Warum hat die Kirche ihnen nicht das Geheimnis ihrer Existenz in Gott erschlossen? Warum hat die Kirche ihnen nicht den Weg in das Abenteuer einer Existenz mit diesem Gott zeigen können? Die Ausgetretenen fragen nach der Welt erschließenden Kraft unseres Glaubens und nach der Spiritualität unserer Existenz.
Kirchliche Relativierungen.
Ein Trost kann dabei sein, was die katholische Kirche eigentlich bisher recht weitgehend gemieden hat: sich selbst zu relativieren. Aber gerade ihr Glauben zwingt sie dazu. Denn nicht sein Glaube an Gott macht einen Menschen zu einem geliebten Kind Gottes, sondern Gott macht es. Gerade das sagt der christliche Glaube. Niemand muss an Gott glauben. Der Glaube ist nicht die Bedingung von Gottes Liebe, sondern das Bekenntnis zu ihr. Das ist die grundlegende Eigenschaft des Gottes Jesu: Er ist Gnade.
Die Gemeinsamkeit der Menschen vor Gott ist keine ihrer Leistungen, sondern ihrer Sündigkeit. Der letzte Grund unserer Gemeinsamkeit als Menschen vor Gott ist die Armseligkeit vor ihm. Noch die Besten, noch die Frömmsten, noch die religiös Eifrigsten können sich vor Gott nicht rühmen, brauchen seine Liebe, seine Gnade, seine Erlösung, gerade sie.
Der Glaube ist nicht die Bedingung der Liebe Gottes, sondern ihre Feier und ihre Annahme und das Leben aus ihr.
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Rainer Bucher, Bonn, bis September 2022 Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
[1] Vgl. dazu, M. Bär, Vertrauenskrise. Kirchenaustritt als Ort theologischer Erkenntnis, in: Dies./M. Blittersdorf/E. Migge/K. Rehberg-Schroth (Hrsg.), In Beziehung sein. (FS Hilberath), Ostfildern 2023, 335-349; H.-J. Sander, Nach der Geduld und jenseits von egal. Glaubwürdig katholisch glauben, wenn sich die eigene Kirche überflüssig macht, Ostfildern, 2024, 50-57.