Eine theologische Raumperspektive von Regula Grünenfelder. Der praktische Teil dazu folgt in einem späteren Beitrag.
Ausgangslage
Der deutschsprachige Kultur- und Landschaftsraum ist religiös vollständig beschriftet: Mit Kirchen, Pfarreizentren, Pfarrhäusern, Klöstern, Kapellen im Wald und in Krankenhäusern, Weg-, Berg- und Friedhofskreuzen. Das wird auch in Zukunft so bleiben, obwohl die kirchlichen[1] Symbolisierungen der transzendentalen Bezüge für wachsende Bevölkerungsgruppen unlesbar werden. Denn im Unterschied zu früheren religiösen Übergängen drängt im gegenwärtigen Strukturbruch keine Konkurrenz in den Raum. So findet aktuell, und vielleicht erstmals in der Religionsgeschichte, ein religiöser Übergang gewaltfrei statt.[2] Vor etwa 1500 Jahren übernahm das Christentum die Rolle als Leitreligion von anderen Religionen. Nun gibt es diese Rolle ab. Trotzdem bezeichnen die grossen Konfessionen den Lebensraum weiterhin und bleibend.[3] Darüber hinaus besitzen die Verantwortlichen und Kirchenmitglieder zusammen fast alle weiteren religiösen Ressourcen: inhaltlich, finanziell, personell, akademisch.
Selbstzurücknahme
In dieser Situation hängt es von der Selbstzurücknahme der Raum prägenden Konfessionen ab, ob sich die Darstellung des ‘gratis’ … Liebe, Care, Einheit, Fürsorgeabhängigkeit[4] … entwickeln kann über das Ende des Christentums als Leitreligion hinaus. Notwendig wäre es: Denn inner- wie ausserkirchlich werden transzendentale Obdachlosigkeit[5] und der Ausfall der Kirchen[6] mit Desorientierung, Bubble-Bildung, Entsolidarisierung, Vereinsamung etc. in Verbindung gebracht. Deswegen brauchen die Raum prägenden Konfessionen einen Sinn dafür, wie sie den Raum als Leitreligion verlassen und ihre neue Rolle finden, wie sie also zur Zukunft beitragen und Teil der Zukunft sein können.
transkirchliche Ekklesiologie
Diese Perspektive entstand im Engagement mit Geflüchteten und Klimastreikenden. Als transkirchliche Ekklesiologie wird sie u.a. im Verein Kloster-Leben für Kirchenentwicklung wirksam. Mit diesem Text möchte ich den kürzlich verstorbenen Theologen Hubertus Halbfas ehren, in der Hoffnung, dass sein Wunsch in Erfüllung geht. In seiner Enzyklopädie der kirchlichen Monumente bat er, «die Kirchenbauten auch in einer nachkirchlichen Zeit zu erhalten als Orte, die dazu herausfordern, den Alltag zu übersteigen, die Gemeinschaft zu suchen, die Feier zu achten und die Geschichte wie das eigene Leben zu bedenken.»[7]
Wertschätzend über sich selbst hinaus
In diesem Horizont erhält der Begriff der ‘vertikalen Ökumene’ eine Zukunftsdimension. Der Freiburger Alttestamentler und Altorientalist Othmar Keel hatte ihn eingeführt, um dem wertschätzenden Blick über sich selber hinaus Ausdruck zu geben.[8] Das Christentum sei in der Lage, den eigenen Anfängen mit Interesse zu begegnen und weder Judentum noch die gemeinsamen Mutterreligionen als dunkle Folie für die Selbstdarstellung zu missbrauchen. Aus Notwendigkeit: Denn die Auswirkungen christlicher Antijudaismen während Jahrhunderten bis zur Shoah stellen jegliche Theologie auf den Prüfstand der Erinnerung und der Mitmenschlichkeit. Am Ende der Zeit des Christentums als Leitreligion öffnet die vertikale Ökumene den Blick auf die Notwendigkeit und einzigartige Möglichkeit, an der gewaltfreien Entwicklung der Signaturen transzendentaler Bezüge mitzuwirken. Die noch niemand kennt.
Brache
Für die aktuelle Kirchensituation gibt es einen biblischen Begriff und interdisziplinär Erfahrungen: Brache. Sie bezeichnet in der Landwirtschaft ebenso wie in der Raumplanung einen zeitlichen Unterbruch der Bewirtschaftung eines Areals, auf dem noch allerlei steht und wächst, das nicht mehr, aber auch noch nicht der zielgerichteten Nutzung unterworfen ist. Die Brache ist ein Zwischenzustand, angebunden an die Vergangenheit und gleichzeitig zukunftsoffen. Mit Brachen umgehen ist eine Kulturtechnik in Frageform, ein waches Seinlassen und Beobachten.
Als Reservoir von Geschichte, Erfahrung und Wissen sind Brachen offen für zukünftige Nutzungen. Die Industriebrache ist eine der älteren Verwandten der Kirchenbrache. Nach einer Phase von Zerstörung, Verkauf, spontanen Umnutzungen etc. wurde die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Raumphänomen und konkreten Industriebrachen Standard. Entsprechend finden sich inzwischen nicht nur einzelne zukunftsfähige Lösungen. Unter Einbezug solcher Pionierleistungen hat sich ein interdisziplinäres Forschungs- und Praxisfeld etabliert.[9]
Kirchenentwicklung ist ungleichzeitig.
Strukturbrüche wie die industrielle Revolution und Umbrüche in der religiösen Landschaft sind keine Privatprobleme von Eigentümern, weder Patrons noch Kirchenstiftungen. Sie sind gesamtgesellschaftlich von allergrösster Bedeutung. Kirchenentwicklung ist ungleichzeitig. Die Kirchenbrachen in England, Frankreich und Italien sind schon so weit fortgeschritten, dass dort die Zeit wahrscheinlich abgelaufen ist: Die Brache ist zur Ruinenlandschaft geworden. Umgekehrt können sich in anderen Weltgegenden Kirchenmitglieder noch kaum Gehör verschaffen, auch wenn sie die Brache in unterschiedlichen Gestalten auf sich zukommen sehen. Im Strukturbruch finden die Kirchenmitglieder, Verantwortlichen und Forschenden der grossen Konfessionen ein neues Selbstverständnis. Sie brauchen eine theologische Idee, wie die Symbolisierung der transzendentalen Bezüge über sie selber hinaus zu verantworten ist.
Sich wie Gott selber zurücknehmen
Biblisch gesehen sind alle Zeichen auf freie Fahrt gestellt. Im Jahrhundert vor der Geburt Jesu und in der Zeit der jungen Kirche war die Frage nach der Zugehörigkeit zum Judentum auch ohne jüdische Herkunft virulent. Das religiöse Narrativ und die Praxis des Judentums übten eine grosse Anziehungskraft aus. Im Strukturbruch des Hellenismus fand die frühe Christusgemeinschaft auf dem Boden dieser innerjüdischen Diskussionen zu Theologien der Selbstzurücknahme. Der älteste Christushymnus besingt die kenosis, die Selbstzurücknahme Gottes in Jesus Christus: Weil Gott die Welt so sehr geliebt hat, hielt Gott nicht daran fest, Gott zu sein, sondern entäusserte sich selbst … Der Hymnus knüpft an jüdische Schöpfungstheologien an, welche die Gottheit beschreiben als eine, die sich nicht selber genügt und sich kreativ zurückzieht, damit ein Gegenüber erscheinen kann. In dieser Linie erzählt der Pfingstbericht die Geburtsgeschichte des Christentums (Apg 2): Die jüdische Jesusgemeinschaft berichtet an der geöffneten Pfingsttür ‘von den grossen Taten Gottes’, und die Menschen von allen Enden der Erde verstehen in ihren eigenen Sprachen und Dialekten. Wer im eigenen Dialekt versteht, verkörpert das Verstandene auf eigene Weise. Die Auseinandersetzung darüber, ob diese Überschreitung der eigenen Religionsgrenze tatsächlich religiös vertretbar ist, zieht sich durch das ganze Neue Testament. Sie wird immer wieder bekräftigt. Bis zur Vision des Petrus, der ein Leintuch vom Himmel her kommen sieht, auf dem kriecht und krabbelt, was jüdische Menschen nicht essen. Und Gottes Stimme sagt: «Iss!» (Apg 10).
eine grosszügig vertrauensvolle Überschreitung
kenosis bleibt dem Gegenüber zugewandt und interessiert sich für die Anderen. Die Überschreitung der Grenzen der eigenen Religion ist Teil der christlichen DNA. Heute ist sie Modell und tiefste Legitimation, mit den drängenden aktuellen Herausforderung kreativ umzugehen. Ohne die grosszügige, vertrauensvolle Geste jüdischer Menschen am Anfang gäbe es das Christentum nicht. Und am Ende des Christentums als Leitreligion braucht es wieder eine grosszügig-vertrauensvolle Überschreitung, damit die kirchlichen Institutionen eine Identität im bleibend christlich markierten Lebensraum entwickeln und transkirchlich zukünftigen Generationen Talente weitergeben können.
Die Türen von innen öffnen
Nur die Mitglieder, Verantwortlichen, Forschenden der grossen Konfessionen können die Kirchen öffnen, von innen öffnen, anknüpfen lassen an 1500 Jahre Kirchengeschichte und vertikal ökumenisch 30’000 Jahre religiöse Gestaltung des Lebensraums.
auf Augenhöhe
Notwendig sind jetzt Anfänge aus dem Begehren, das ‘gratis’ in der digitalen Transformation postpatriarchal[10] zu entwickeln. Solche Anfänge sind feministisch, weil sie auf Werkzeuge und Erfahrungen angewiesen sind, dem Notwendigen, das noch keinen Raum hat, Raum zu geben.[11] Beispielsweise auf Augenhöhe ‘ins Sprechen hören’[12], und die Beiträge dann auch miteinander auf Augenhöhe evaluieren.[13]
Thomas Erne sieht in der schöpferischen Arbeit an der Gestalt «die interessanteste religiöse Analogie: dass der kreative Prozess, in dem Neues beginnt, eine Ähnlichkeit hat mit dem Kommen des Neuen, des Gottesreiches … Hannah Arendt (via activa) würde sagen: Das einzigartige Wesen des Menschen enthüllt sich in dem Neuen, das er mit anderen beginnt.»[14] Das gilt auch für Institutionen.
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Text und Bild:
Regula Grünenfelder, Dr. theol., engagiert mit Geflüchteten in Herausforderungen der Beheimatung, als Seelsorgerin für Klimastreikende und in römisch-katholischen Transformationsprozessen. Externe wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Dogmatik (Prof. B. Hallensleben) der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg. (www.regulagruenenfelder.ch)
[1] ‘Kirche’ steht für mindestens dreierlei: Ursakrament Volk Gottes; religiöse Institutionen unterschiedlichster Art (in diesem Text geht es um die Raum prägenden grossen Konfessionen); Raum. Bis vor kurzem waren diese drei Dimensionen im deutschsprachigen Raum soweit deckungsgleich, dass inner-, zwischen- und ausserkirchlich ein einziges Wort genügte. Seither haben sich die drei Aspekte auseinander gelebt.
[2] Ludwig Hasler, Für ein Alter, das noch was vorhat. Mitwirken an der Zukunft, rüffer&rub 2019.
[3] Derweil wird der Wandel an Bauten anderer Gesellschaftsbereiche verhandelt, die im Raum demonstrieren, was machtvoll und heilig, wertvoll und verbindend ist, beispielsweise Konzernpaläste, Konzertsäle, Wellnesstempel, Sportstadien, Shoppingmalls, Naturparkzentren, Begegnungszonen. Zur spät- und turbo-kapitalistischen Einverleibung des Religiösen: Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt, Echter Verlag 2019.
[4] … voneinander, durcheinander, durch ein Ander und vom verletzlichen Lebensraum: Ina Praetorius, Im postpatriarchalen Durcheinander. Unterwegs mit Xanthippe, Christel Göttert Verlag 2020.
[5] Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der grossen Epik, Aisthesis Verlag 2009 (Ersterscheinung: 1918).
[6] Z.B. Joachim Wegner, in: zeit.de/gesellschaft/2019-10/carolin-emcke-interviewpodcast-alles-gesagt.
[7] Hubertus Halbfas, Die Zukunft unserer Kirchengebäude. Problemlage und Lösungswege, Patmos 2019.
[8] Ulrike Sals, in: Konstruktiv (49/2005), 3-5.
[9] Z.B. umnutzer.ch/pdf/industriebrachen.pdf.
[10] Erste Politik, z.B.: Luisa Muraro, Vom Glück, eine Frau zu sein, Christel Göttert Verlag 2019.
[11] Tanz der Interpretation, z.B. in: Elisabeth Schüssler Fiorenza, WeisheitsWege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation, Verlag Katholisches Bibelwerk 2005.
[12] Nelle Morton, The Journey is Home, Boston 1985.
[13] bell hooks, Teaching to Transgress. Education as a Practice of Freedom, Routledge 1986.
[14] Thomas Erne, Ein neuer Typus Kirche, in: Jürgen Willinghöfer (Hg.), Ein neuer Typus Kirche. Hybride öffentliche Räume, Jovis Verlag 2021.