Einige Überlegungen anlässlich eines neueren Werks zur Frühgeschichte des Bistums Essen. Von Rainer Bucher.
I.
Klassisch ist die christliche Theologie in vier Teildiskursen greifbar: einem systematischen, einem historischen, einem exegetischen und einem praktisch-theologischen. Zwei dieser Teildiskurse, der exegetische und der systematische, beziehen sich selbst wieder auf sprachliche Phänomene: auf die Bibel und die Texte der Tradition. Sie haben daher erstaunlich wenige Probleme, ihren Status als Theologie zu behaupten. Sie beziehen sich auf die Versuche der frühen Kirche, bzw. der Kirche in ihrer Geschichte, dem Gott Jesu sprachliche Repräsentanz zu verleihen. Die Bibel und die Schriften der Tradition sind solche Versuche. Sie sind in ihrer synchronen wie diachronen Pluralität ein schönes Zeichen für den notwendigen Kampf um die ebenso notwendig unzulänglich bleibende sprachliche Repräsentanz Gottes.
Kirchengeschichte als Heilsgeschichte? Das scheitert an den Fakten.
Der historische und der praktisch-theologische Diskurs nun beziehen sich nicht selbst wieder primär auf sprachliche Phänomene. Die Kirchengeschichte hat sich noch bis in das Jedinsche Handbuch hinein als Heilsgeschichtsschreibung verstanden, hat Kirchengeschichtsschreibung begriffen als rekonstruktive Narration der Heilsgeschichte Gottes mit der Welt in der und durch die Kirche. Dieses Konzept hatte einen großen Vorteil: Es konnte Kirchengeschichtsschreibung als Theologie verstehen, aber eben auch einen Nachteil: Es scheiterte an den Fakten. Spätestens mit der historisch-kritischen Methode wurde sichtbar, dass die Kirchengeschichte, genauer müsste man sagen: dass die Kirchengeschichte(n) auch sehr viel Unheilsgeschichte enthalten.
Vergessen kann man daher auch jene Versuche der Kirchengeschichtsschreibung, die Identitätskonstitution durch historische Rekonstruktion, also Legitimation des Gewordenen durch das Gewesene betreiben. Solche Kirchengeschichtsschreibung will ihren theologischen Status durch sogenannte Kirchlichkeit erweisen, was ja noch nicht falsch wäre, verstünde sie nicht unter Kirchlichkeit schlicht die Apologetik der Institution Kirche, was immer sie auch getan hat. Kirchengeschichte als defensive Rechtfertigungserzählung ist nicht Theologie, sondern einfach nur Ideologie und zudem bestenfalls Halbwahrheit, wenn nicht gar Unwahrheit.
Kirchengeschichte und Pastoraltheologie? Ein wissenschaftlicher Gesprächsabbruch.
Die Pastoraltheologie hat nun mit der Kirchengeschichtsschreibung gemein, dass sie sich nicht zuerst auf sprachliche Phänomene, sondern auf komplexe Handlungszusammenhänge, nämlich jene der Kirche(n), bezieht. Im Unterschied zur Kirchengeschichtsschreibung allerdings bezieht sie sich nicht auf vergangene Handlungszusammenhänge, sondern auf gegenwärtige und zukünftige: Pastoraltheologie ist nicht rekonstruktiv, sondern analytisch und perspektivisch. Diese Methodendifferenz zur Kirchengeschichte hat nach dem Ende des Konzepts Kirchengeschichte als Heilsgeschichtsschreibung de facto zu einem wissenschaftlichen Gesprächsabbruch geführt.
Es ist müßig, hier mehr „Interdisziplinarität“ einzufordern. Das dreht nur einigermaßen hilflos die einschlägigen Defiziterfahrungen an Integration der theologischen Disziplinen ins Postulatorische und nimmt die Unvermeidlichkeit und analytische Repräsentanz dieser ja immer am (neu-)scholastischen Einheitsmodell gemessenen Defiziterfahrungen nicht ernst. Die Option für die methodische Eigenständigkeit der theologischen Disziplinen ist für deren Kreativität unhintergehbar und sie schließt die Option für deren unplanbare und experimentelle Weiterentwicklung ein. Es ist unter den wissenschaftspolitischen und wissenschaftstheoretischen Bedingungen der Gegenwart Gott sei Dank auch ausgeschlossen, dass es eine zentrale Disziplin der Theologie geben könne, sei es die (Christliche) Philosophie, sei es die Systematische Theologie, die den anderen Disziplinen ihre Themen und Methodiken einfachhin vorschreiben könnte.
Was bleibt? Abduktive Konfrontation zwischen neugierigen ExpertInnen.
Was aber bleibt, das ist die wechselseitige Irritation, die ergebnisoffene Konfrontation unterschiedlicher theologischer Diskursgruppen, die letztlich abduktive Konfrontation zwischen neugierigen ExpertInnen der jeweiligen Fächer, die ihre eigene Methodik so souverän vertreten, dass sie nicht die Abwertung anderer Disziplinen und ihrer spezifischen Methodiken brauchen, um sich selbst zu stabilisieren. Und die vor allem nicht schon wissen, was herauskommt, wenn man sich trifft. Wenn ich recht beobachte, ist eine jüngere Generation von TheologInnen genau dorthin unterwegs.
II.
Was das bringen könnte, dafür ist Franziskus Siepmanns Dissertationsschrift „Mythos Ruhrbistum. Identitätsfindung, Innovation und Erstarrung in der Diözese Essen von 1958-1970“ ein schönes Beispiel. 2014 bei Wilhelm Damberg in Bochum eingereicht, erschien sie 2017 im Druck, mit vielen Photos und überhaupt durchaus aufwändig ediert. Methodisch unzweifelhaft eine kirchenhistorische Arbeit, ist ihre pastoraltheologische Anschlussfähigkeit nicht nur im Zweitgutacher Mathias Sellmann repräsentiert, sondern auch in ihren konkreten Ergebnissen und übrigens auch explizit in den Schlussbemerkungen des „Fazits“.
Eine kirchenhistorische Arbeit mit pastoraltheologischer Anschlussfähigkeit.
Die Beschäftigung mit diesem Buch ist wie ein Blick in ein altes, sehr altes Photoalbum: Man erlebt die eigene Erinnerung als merkwürdig simultane Erfahrung von Nähe und Fremdheit, von Wehmut über Vergangenes, Gescheitertes, über verflossene Hoffnungen und dann doch auch als die klammheimliche Erleichterung, dass so manches vorbei und vergangen ist. Die Lektüre von Siepmanns Arbeit hält pastoraltheologisch relevante Lernerfahrungen bereit, die weit über das Bistum Essen und auch über die hier, wie dissertationsüblich, quellennahe und sehr detailliert ausgebreitete Pastoralgeschichte einer sehr eigenen, weil in einer sehr spezifischen Region neu gegründeten deutschen Diözese hinausgehen.
Natürlich lernt man auch viel über kirchliches Führungspersonal wie den „Ruhrbischof“ Hengsbach und seine durchaus ambivalenten Strategien, sich einerseits als „Kumpel Franz“, als Freund der Arbeiter, zu stilisieren und sich so „unglaublich gut zu verkaufen in einer Zeit, als dies für Bischöfe noch keineswegs üblich war“, so Siepmann in einem Interview. Hengsbach hat aber auch seinen Weihbischof Angerhausen, einen veritablen Unterzeichner des konziliaren Katakombenpaktes immer daran gehindert, eine andere, sozialpastorale Linie im Sinne der Befreiungstheologie, von der Hengsbach bekanntlich überhaupt nichts hielt, zu fahren.
Nach dem Konzil hat Hengsbach denn auch ausgerechnet die Familienpastoral, konkret die Optionen von „Humanae vitae“, zum zentralen pastoralen Thema erhoben, was übrigens in der pastoralen Praxis von den familienpastoralen Stellen aber dann doch praxisnah unterlaufen wurde. Man erfährt von Hengsbachs autoritärer Art jüngeren Klerikern gegenüber und lernt einen Bischof kennen, der sehr genau wusste, mit wem man zu reden hatte, um etwas zu erreichen, und derart machtbewusst war, dass Helmut Schmidt ihn den „wichtigsten Mann des Ruhrgebiets“ nannte.
Man erfährt viel, und das provoziert einige pastoraltheologische Lernerfahrungen.
Man erfährt auch, wie lange man annahm, über ein dichtes Netz von Pfarrkirchen der Entkirchlichung entgegenwirken zu können, und noch Kirchen baute, als die Kirchgänger schon lange schwanden. Man erfährt, wie man betriebliche „Kerngruppen“ bildete, aber langsam auch wieder eingehen ließ, wie ein sog. „Seefelder Experiment“ „großräumige Seelsorge, gemeinschaftliche Seelsorge, Teamarbeit der Seelsorge und Einbeziehung der Laienaktivität“ (409) damals schon wollte, aber eben nie konsequent umsetzte – und wie viel „Mythenbildung“ (606) in all dem steckte.
Wie wird man 2050 über unsere Gegenwart schreiben?
Das alles – und noch viel mehr – provoziert einige pastoraltheologische Lernerfahrungen: Wie so ganz anders die Situation letztlich damals schon war, als „Konservative“ wie „Progressive“ annahmen, und wie geradezu beängstigend zeitgebunden alle dachten und agierten. Wie schnell ganz andere gesellschaftliche Kontexte kirchlichen Handelns und ganz neue innerkirchliche Kommunikationsbedingungen galten, wie wenig sich irgendjemand auch nur vorstellen konnte, was dann tatsächlich kam; wie sehr schließlich alle Reformbemühungen letztlich auf die (leicht veränderte) Wiederherstellung eines als gefährdet bis verloren erfahrenen Zustands („Verlust der Arbeiterschaft“) zielten, wie sehr, kurz gesagt, eigene Sehnsüchte das pastorale Handeln und Planen und auch die pastoralen Reformanstrengungen formten und wie wenig gesehen wurde (gesehen werden konnte?), was wirklich war oder kam. Anders gesagt: Das Vergangenheitsverhältnis war latent nostalgisch, das Gegenwartsverhältnis offenkundig aktionistisch, das Zukunftsverhältnis tendenziell utopisch. Wie wird man 2050 über unsere Gegenwart schreiben?
Im April wird in Tübingen ein Symposium zum Thema „Was Kirchengeschichte und Praktische Theologie voneinander lernen können“ stattfinden – initiiert von jungen WissenschaftlerInnen beider Fächer. Bücher wie jenes von Franziskus Siepmann zeigen, wie notwendig und potentiell ertragreich solch ein Gespräch sein kann. Wenn es gerade nicht „interdisziplinär“ kanalisiert wird, sondern frei, offen und experimentell verläuft.
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Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
Photo: Cover Fanziskus Siepmann, Mythos Ruhrbistum. Identitätsfindung, Innovation und Erstarrung in der Diözese Essen von 1958-1970, Essen 2017