Heute jährt sich zum 100. Mal die erstmalige Publikation des weltweit gültigen römisch-katholischen Kirchenrechts. Daniel Kosch stellt eine Einführung ins Kirchenrecht von Sabine Demel vor und umreisst Leistungen, Grenzen und Herausforderungen der kirchlichen Rechtsentwicklung.
Am 29. Juni 1917, also am Hochfest der «Apostelfürsten» Peter und Paul, wurde dem Papst das erste Exemplar des «Codex Iuris Canonici», abgekürzt CIC, überreicht. Erstmals verfügte die römisch-katholische Kirche damit über ein systematisches Gesetzbuch, das in abstrakter Sprache die wichtigsten kirchenrechtlichen Bestimmungen formulierte. Mit dem Erlass dieses Gesetzesbuches, das die bisherigen Sammlungen kirchlicher Rechtssammlungen ablöste und fortan als einzige Quelle des kirchlichen Rechts gilt, orientierte sich die Kirche an der Form der Gesetzgebung, wie sie in modernen Rechtsstaaten üblich ist.
Orientierung des kirchlichen Rechts an Standards moderner Rechtsstaaten
Allerdings hatte der CIC von 1917 keine sehr lange Lebensdauer. Bereits 1959, also nach rund vierzig Jahren, kündigte Papst Johannes XXIII. gleichzeitig mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch dessen Revision an. Diese sollte dem «aggiornamento», der Anpassung des Kirchenrechts an die Zeichen der Zeit dienen und als «Krönung des Konzils» dessen Beschlüsse kirchenrechtlich umsetzen.
Aggiornamento – mit Verzögerung
Nach Abschluss des Konzils (1962-1965) dauerte es jedoch nochmals fast zwanzig Jahre, bis Papst Johannes Paul II. im Jahr 1983 den «neuen CIC», das bis heute gültige Gesetzbuch der katholischen Kirche in Kraft setzen konnte. Dabei kamen drei neue Tendenzen zum Zug: Die Aufwertung des Bischofsamts, die stärkere Berücksichtigung der Tatsache, dass die Kirche «Volk Gottes» und nicht nur «Klerikerkirche» ist, sowie ein grösserer Respekt vor der Eigenverantwortung der Einzelperson. Allerdings ist dem CIC von 1983 der relativ grosse Abstand zur Zeit des «Aufbruchs» anzumerken – manche Öffnung, die das Konzil angestossen hatte, wird bereits zurückgenommen. So wird etwa die «Würde der Laien» stärker in Form von deren «Pflichten» zur Treue gegenüber der Hierarchie als in Form ihrer Ermächtigung zur Mitgestaltung der Kirche dekliniert.
Dem CIC von 1983 ist der relativ grosse Abstand zur Zeit des «Aufbruchs» anzumerken. Manche Öffnung, die das Konzil angestossen hatte, wird bereits zurückgenommen.
Aus Anlass des «runden Geburtstags» des CIC von 1917 hat Sabine Demel, Professorin für Kirchenrecht an der Universität Regensburg, ein spannendes und gut lesbares Buch herausgegeben. Es trägt den Titel «Das Recht fliesse wie Wasser» und fragt: «Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?». Es blickt nicht nur auf die Geschichte des Kirchenrechts zurück und erläutert dessen Eigenart. Vielmehr befasst es sich – in konstruktiver und zugleich kritischer Art – mit zentralen Fragen eines heutigen Rechtsverständnisses: Wie ist das Verhältnis zwischen Kirchenrecht und Gewissen? Wie ist die Beziehung zwischen meinem Glauben und dem Recht der Kirche zu verstehen? Wie steht es um Machtkontrolle und Beteiligung? Was ist zu den Dauerbrennern «Laien, Wiederheirat nach ziviler Scheidung und Eucharistiegemeinschaft» aus rechtlicher Sicht zu sagen?
«Wie funktioniert und wem nützt das Kirchenrecht?»
Bei der Lektüre des Buches habe ich mir allerdings die Frage gestellt, ob das zugrundeliegende Verständnis des Kirchenrechts nicht etwas zu «theologielastig» ist und z.B. soziologische Gesetzmässigkeiten und den institutionellen Charakter von Recht tendenziell unterbelichtet. Das Grundprinzip «ubi societas ibi ius» besagt ja auch, dass Recht sich nicht verstehen lässt ohne die societas, der es sich verdankt und für die es bestimmt ist.
Wieviel Theologie braucht das Kirchenrecht?
Vieles, was rechtlich geregelt wird und werden muss, lässt sich nur in beschränktem Ausmass theologisch verankern und begründen. Zu denken ist z.B. an die Ausgestaltung der Ämter bzw. Funktionen in der Kirchenleitung (z.B. jene des Generalvikars, des Offizials, aber auch der diversen Räte), das Vermögensverwaltungsrecht, oder kirchliches Prozessrecht. Vieles muss nicht nur und manchmal nicht einmal primär theologischen Ansprüchen genügen, sondern nach organisationslogischen Konzepten stimmig und praktikabel sein.
Die Bedeutung aussertheologischer Quellen des Rechts
Rechtsgeschichtlich liesse sich zeigen, dass die entsprechende Gesetzgebung aussertheologische Quellen hat. Diese Erkenntnis eröffnet auch bezüglich künftiger Rechtsentwicklungen die Perspektive für eine Rezeption von Konzepten, die sich dem heutigen, von Grundrechten und Demokratie geprägten Rechtsverständnis verdanken und nicht primär der Theologie. Zu dieser kritischen Rückfrage ist jedoch festzuhalten, dass die entsprechenden Rechtsgebiete im Buch von Sabine Demel nicht in den Blick kommen und im CIC zwar breiten Raum einnehmen, aber nicht von fundamentaler Bedeutung sind.
«Kirchenrecht als Schutzmantel der Freiheit»
Das Schlusskapitel des Buches trägt die Überschrift: «Kirchenrecht als Schutzmantel der Freiheit». Diese bringt das gut biblisch fundierte Kernanliegen von Sabine Demel zur Sprache: Recht soll die Schwachen schützen, Machtmissbrauch verhindern, der Freiheit dienen und Eigenverantwortung fördern. Dass das geltende Kirchenrecht diese Ziele nur teilweise erreicht, ja in manchen Punkten klar verfehlt, wird dabei in erfrischender Klarheit und Nüchternheit aufgezeigt. Wer sich für das Kirchenrecht und sein weiterhin notwendiges aggiornamento, also seine Reform unter Beachtung der Zeichen der Zeit interessiert, wird das Buch mit Gewinn lesen.
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Daniel Kosch, Dr. theol., ist Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz.
Sabine Demel:
Das Recht fliesse wie Wasser.
Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?,
Regensburg 2017
(170 Seiten).