Eine protestantische Binsenweisheit lautet: Kirchenräume sind nicht heilig. Debatten über die Umnutzung von Kirchengebäuden haben jedoch gezeigt, dass Verständigungsbedarf über die Bedeutung des Kirchenraums besteht. Sonja Keller blickt aus protestantischer Perspektive auf Kirchen als Ermöglichungsräume.
Ein gesteigertes Interesse an Kirchenbauten lässt sich für den Protestantismus im deutschsprachigen Raum seit rund 30 Jahren beobachten. Ein zentraler Grund dafür ist im Nachdenken über den Umgang mit kirchlich nicht mehr benötigten Bauten zu suchen. Da es für sich genommen keine überzähligen Kirchengebäude gibt, ist die normative Beschreibung und Bestimmung von sogenannt „überflüssigen“ Kirchen das Ergebnis von komplexen Bewertungs- und Aushandlungsprozessen, die im Hinblick auf Strukturreformen geführt werden. An dieser Stelle soll allerdings nicht eine Verlustgeschichte nacherzählt werden, wie sie bezüglich des Rückgangs oder Rückzugs der Kirche aus dem öffentlichen Raum immer wieder beschworen wird. Die kirchliche Auseinandersetzung mit Räumen und insbesondere Kirchenbauten wird stattdessen als perspektivreiches Forum für die theologische und kirchliche Selbstverständigung beschrieben.
Protestantische Binsenweisheit: Kirchenräume sind „nicht-heilig“.
Dass Kirchenbauten und ihre allfällige veränderte Nutzung überhaupt so viele kirchliche Ressourcen und öffentliche Aufmerksamkeit zu bündeln vermögen, ist keineswegs selbstverständlich. Als protestantische Binsenweisheit lässt sich die Bestimmung der Kirchenräume als „nicht-heilig“ beschreiben, wie sie insbesondere durch die Schriften Martin Luthers grundgelegt wird. Der immer wieder bemühte Bezug auf die reformatorische Theologie verkennt allerdings leicht, dass Kirchenbauten kein zentrales Thema dieses theologischen Aufbruchs waren. Die wirkmächtige theologische Bestimmung der Kirchenbauten als profane Räume darf nicht mit ihrer Geringschätzung verwechselt werden. So betont etwa der einflussreiche Nachfolger Huldrych Zwinglis Heinrich Bullinger die Bedeutung der profanen Kirchengebäude als Räume, in denen öffentlich Gottesdienst gefeiert werden kann.[1]
Für die Entwicklung eines zeitgenössischen protestantischen Kirchenraumverständnisses erweist sich allerdings die Absenz des Themas als mindestens genauso folgenreich wie der reformatorische Bruch mit der Sakralität des Kirchenraumes.
Im Anschluss an die reformatorische Theologie wurde kein konstruktives Kirchenraumverständnis entwickelt.
Ein zentraler Grund für die evangelisch-theologische und kirchliche Unterbestimmung von Kirchengebäuden und der existenziellen Kategorie Raum geht darauf zurück, dass im Anschluss an die reformatorische Theologie kein konstruktives und positives Kirchenraumverständnis weiterentwickelt wurde. Der systematische Theologe Matthias Wüthrich stellt dazu fest, dass es die reformatorische Theologie unterlassen hat, „die Erfahrung des Wortes Gottes im Gottesdienst mit der räumlichen Erfahrung des Kirchenraumes theologisch zu verbinden“[2]. Dieses Defizit hat die theologische Bestimmung der Kirchengebäude nachhaltig erschwert. Verschärft wurde diese theologische Sprachlosigkeit durch das neuzeitliche Weltverständnis, das es empfindlich verkompliziert hat, Gott und Raum zusammenzudenken.[3]
Positiv formuliert könnte man auch von einer Deutungsoffenheit von Kirchengebäuden sprechen.
Dieses theologische Reflexionsdefizit holt die Auseinandersetzung mit Kirchengebäuden immer wieder ein, sofern der Status oder die Bedeutung solcher Bauten für Glaube und Kirche weiterhin ungeklärt sind. Positiv formuliert könnte man an dieser Stelle auch von der Deutungsoffenheit der Kirchengebäude sprechen, deren Potenzial sich in der Wahrnehmung vieler Menschen gerade nicht in ihrer Funktion als kirchliche Räume der Verkündigung erschöpft. Sie werden dagegen höchst vielfältig wahrgenommen und fungieren ganz selbstverständlich als Räume der Religion in der Öffentlichkeit, als Kunstdenkmäler, als nichtkommerzielle Freiräume oder als Räume der Stille.
Dieser empirisch fassbare Bedeutungsüberschuss der Kirchengebäude in der öffentlichen Wahrnehmung sorgt für die beträchtliche gesellschaftliche Akzeptanz der Kirchenbauten.[4] Wie Gemeinden mit einer Vielzahl nicht mehr benötigter Kirchenbauten umgehen, sorgt wiederum – gerade auch aufgrund des vielseitigen Interesses an solchen Prozessen – für gemeindeübergreifende Aufmerksamkeit.[5]
Die Umnutzung von Kirchen macht den Rückgang der Kirchlichkeit in der Gesellschaft augenfällig.
Diese zuweilen überaus emotional geführte Debatte lässt allerdings vielfach ausser Acht, dass durch Umnutzungen, Verkauf oder Abriss eine Redimensionierung sichtbarer Kirche gestaltet wird, die relativ jung ist. Es wird dabei ein beachtlicher Gebäudebestand verkleinert, der von 1850 bis in die 1960er Jahre markant gewachsen ist. Das Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert sowie der Wiederaufbau nach dem Krieg haben zwei gewaltige Kirchenbaubooms ausgelöst. Auch wenn die Umnutzung von Kirchengebäuden die Verkleinerung eines relativ jungen Gebäudebestandes betrifft, bleibt die Erfahrung für viele bitter.
Die Umnutzung und die Aufgabe von Kirchen machen den Rückgang der Kirchlichkeit in der Gesellschaft augenfällig, auch weil Kürzungen von Stellen in verschiedenen kirchlichen Diensten für lange Zeit nicht sichtbar sind. Verkompliziert und mit Bedeutung überfrachtet wird die Umnutzung von Kirchen durch übergeordnete Fragen, die sich in die Diskussionslage einnisten. So taucht etwa die Frage nach der Zukunft der Institution Kirche in fast jeder Umnutzungsdebatte auf. Entsprechend bildet die komplexe, ungleichzeitige und vielgestaltige Weiterentwicklung von Kirche oftmals den Horizont der Debatte über die Umnutzung. Die Zukunft und Entwicklungsfähigkeit der Kirche hängt allerdings gewiss nicht alleine vom Umgang mit Kirchengebäuden ab.
Es fehlen Geschichten und Visionen von der Zukunft der Kirche.
Das komplexe protestantische und öffentliche Verständnis von Kirchengebäuden verbietet einfache Lösungen und fordert Verständigungsprozesse regelrecht ein. Der Institutionscharakter einer sich programmatisch als Volkskirche verstehenden Kirche kann dabei nicht ausgeblendet werden. Es bestehen vielfältige öffentliche Erwartungen an einen verantwortungsvollen kirchlichen Umgang mit Räumen. Weiterführend kann dabei eine Umkehrung der viel beschworenen Frage sein, was mit Kirchengebäuden geschehen soll. Ganz andere Perspektiven geraten in den Blick, wenn stattdessen verstärkt von der kirchlichen Arbeit ausgehend gefragt wird, welche Räume Kirche braucht, um öffentlich stattfinden zu können.
Es fehlen gegenwärtig grosse Geschichten und Visionen von der Zukunft der Kirche. In der Kirchentheorie gewinnt derzeit die Beschäftigung mit der Pluralisierung der Gemeindeformen an Bedeutung. Die Begriffe „Gemeinde auf Zeit“ oder „Kirche bei Gelegenheit“ bezeichnen durchaus disparate Entwicklungen und nehmen Formen religiöser Praxis und Kirchlichkeit auf, die etwa biographisch bedingt und diskontinuierlich sind.[6]
Sporadische Formen der Teilnahme werden eindeutig positiv bewertet.
In unterschiedlichen Kontexten haben sich hinsichtlich spezifischer Themen, Orte und Gemeinschaften Formen gemeindlichen und kirchlichen Lebens entwickelt. Der qualitative Unterschied besteht darin, dass die Normativität einer kontinuierlichen kirchlichen „Normalbiographie“ in Frage gestellt wird. Sporadische Formen der Teilnahme werden eindeutig positiv bewertet. Räume sind für diese Dynamisierung von besonderer Bedeutung, sofern sie Erfahrungen der Vergemeinschaftung oder der Andacht ermöglichen.
Kirche als Kulturträger und Radwegkirchen
Exemplarisch seien dafür zwei Phänomene kurz genannt, die auch als Ergebnisse der vertieften kirchlichen Beschäftigung mit der Nutzung von Kirchengebäuden gelesen werden können: Dass Kirchengebäude auch ohne das programmatische Label „Kulturkirche“, das eine explizite Verbindung von Kunst und Kultur in der Kirche beschreibt, Träger von Kultur sind, wird vielerorts vermehrt in den Blick genommen. Die Erfahrung eines Raumes sowie akustischer, darstellender oder bildender Künste ist nicht auf Kirchenräume angewiesen, doch wo ein solches Erleben in Kirchenräume eingespeist wird, wird auch religiöse Erfahrungen ermöglicht. Die Fokussierung auf die vielfach immensen kulturellen Potenziale, die Kirchen als ausseralltägliche Bauwerke mit sich bringen, – in denen Tradition und Glaube dargestellt werden – wird in dieser Form der intensivierten Nutzung von Kirchen erfahrbar. Besonders produktiv ist dabei die kirchliche und gemeindliche Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern Gemeinden ganz selbstverständlich Träger von Kultur sind. Die Umnutzungsdebatte hat die kirchliche und theologische Selbstverständigung darüber markant intensiviert.
Als Ausdruck einer (Wieder-)Entdeckung des Kirchenraumes und seiner Affinität zu sporadischen und nicht-parochialen Formen der Beteiligung, sollen die sorgsam kuratierten Radwegekirchen erwähnt werden. Radwegekirchen sind Kirchen, die an Radwegen stehen, geöffnet sind und durch die aufmerksame Gestaltung des Raumes einen öffentlichen Ort der Andacht und Einkehr bieten.[7] Als Minimalanforderungen sieht das Netzwerk der Radwegekirchen der EKD vor, dass diese in der Nähe eines Radwanderwegs liegen, sie von Ostern bis zum Reformationstag frei zugänglich sind, dass sie als Radwegekirchen gekennzeichnet und als geistliche Räume gestaltet sind (Link zu den Leitlinien). Radwegekirchen bieten sich damit den Touristen und weiteren Nutzerinnen als frei zugängliche Orte der Stille und Andacht an. Sie ermöglichen zwanglos Ruhe und Kontemplation.
Kirchen als Ermöglichungsorte von Vergemeinschaftung, religiöser Kommunikation und Andacht
Die Umnutzungsdebatte hat gezeigt, dass ein Verständigungsbedarf über die Funktion und Bedeutung der Kirchengebäude besteht. Religiöse Erfahrung und auch die Erfahrung von Gemeinde sind nicht an Kirchengebäude gebunden, doch diese stellen durch eine konzentrierte und reflektierte Nutzung einen grossen Reichtum zur Beherbergung religiöser Kommunikation dar. Eine potenzial- und nutzungsorientierte Arbeit mit weniger Kirchengebäuden könnte dazu beitragen diese nicht als Selbstzwecke, sondern als Ermöglichungsorte von Vergemeinschaftung, religiöser Kommunikation und Andacht zu profilieren.
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[1] Vgl. Heinrich Bullinger: Schriften, Bd. 3, Zürich 2006, 314f.
[2] Matthias D. Wüthrich: Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch Raum zu denken. Göttingen 2015, 101.
[3] Vgl. Matthias D. Wüthrich: Raum Gottes, 241.
[4] Eine in dieser Hinsicht wichtige Studie erarbeitete Anna Körs. Vgl. Anna Körs: Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen. Eine raumsoziologische Studie zur Besucherperspektive, Wiesbaden 2012.
[5] Sonja Keller: Kirchengebäude in urbanen Gebieten. Wahrnehmung – Deutung – Umnutzung in praktisch-theologischer Perspektive, Berlin 2016, 24. 93ff.
[6] Vgl. Peter Bubmann/Kristian Fechtner/Birgit Weyel: ‚Gemeinde auf Zeit’. Empirische Wahrnehmung punktuell-situativer Formen evangelischer Kirche und ihre sozialitätstheoretische Reflexion, in: Birgit Weyel/Peter Bubmann: Kirchentheorie. Praktisch-theologische Perspektiven auf die Kirche, Leipzig 2014, 134f. Uta Pohl-Patalong: Kirche bei neuen Gelegenheiten, in: Ralph Kunz / Thomas Schlag: Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen 2014, 196ff.
[7] Vgl. Christian Grethlein: Gott fährt Fahrrad. Praktisch-theologische Perspektiven des Radfahrens, in: PrTh (2/2016), 109f.
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Sonja Keller ist Juniorprofessorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg. In ihrer Dissertation (vgl. Anmerkung 5) hat sie zur Bedeutung des Kirchenraums und zu Kirchenumnutzungen im deutschsprachigen Raum geforscht.
Bild: rograb / pixelio.de