Das Amt in der Kirche befindet sich derzeit – im Kontext der Missbrauchsverbrechen an Kindern – in einer wohl nie dagewesenen Krise. Die biblischen Grundlagen und die Vielfalt des Amtes in den Anfängen der Kirche erläutert Walter Kirchschläger.
1 „Amt“ ist Dienst. Der deutsche Begriff leitet sich unter anderem vom gotischen andbahti – Dienst ab. Die Aussage gilt über das Etymologische hinaus. Der Dienstcharakter durchzieht die gesamte Bibel:
„Amt“ ist Gottes-Dienst. Der Genetiv ist in verschiedene Richtungen zu interpretieren: Dienst von Gott, für Gott, an Gott…; Dienst, Indienstnahme aber auch nach der Art unseres Gottes. Wo Dienste oder Dienststrukturen dem nicht entsprechen, liegt theologische Un-Gerechtigkeit vor. Das heisst notwendigerweise: Ein solcher Missstand muss überwunden, also beseitigt werden.
Wo Dienste oder Dienststrukturen dem nicht entsprechen, liegt theologische Un-Gerechtigkeit vor.
Amt ist zugleich Gottes-Dienst: Dies gilt für einen Abraham, einen Mose ebenso wie für die grossen Schriftpropheten, für David und Salomo, für Deborah und Judit und andere Grosse der Jüdischen Bibel, die „Knechte“ und „Mägde“ Gottes genannt werden. Auch Paulus charakterisiert sich als „Knecht“, „ausgesondert für das Evangelium Gottes“ (Röm 1,1). Wegleitend ist im christlichen Zusammenhang die Grundhaltung Jesu. In seiner Entäusserung und seinem Gehorsam wird er selbst zum Knecht, sodass ihn Gott in einzigartiger Weise erhöht und ihn neu benennt: Kyrios – Jesus – Christus (vgl. Phil 2,6-11), dies als Vorbild für alle Glaubenden (vgl. Phil 2,5). Die Jesusgeschichten der Evangelien illustrieren eindrücklich diese seine Grundhaltung des Dienstes. Für die Jüngerinnen und Jünger erklärt er sie als unverzichtbar. Wenn er zu ihnen über die Herrscher und deren Machtausübung über andere spricht, sagt er: „Nicht ist [Indikativ!] es so unter euch“ (Mk 10,43). Die Fusswaschung spricht zwar für sich selbst, der vierte Evangelist doppelt ausdrücklich nach: „Wenn nun ich, der Rabbi und Kyrios, euch die Füsse gewaschen habe, so müsst auch ihr einander die Füsse waschen“ (Joh 13,14). Zu keiner biblischen Zeit führt etwas am notwendigen Dien-Mut für das so genannte „Amt“ vorbei.
Die Jesusgeschichten der Evangelien illustrieren eindrücklich diese seine Grundhaltung des Dienstes.
2 Dienste dienen der Glaubensgemeinschaft (und nicht umgekehrt). Sie fördern das Gelingen von Leben im Volk Israel, sodann in der Jesusgemeinschaft und in den Kirchen der neutestamentlichen Zeit. Dafür wird ein Auftrag als Initialimpuls erteilt, der in Gott selbst und in der Kraft von Gottes Geist zu verorten ist. Diese Überzeugung kann in der biblischen Darstellung unterschiedlich ausgestaltet sein (vgl. z. B. Ex 3,13-15; 1 Kor 12,28).
3 Das Prinzip von Strukturen [des Dienstes] im Gottesvolk, später in der Jesusbewegung, lässt sich kontinuierlich belegen. Die konkrete Gestaltung erfolgt gemäss dem konkreten Lebensumfeld. Zahl und Gestaltung der Dienste ist weder orts- noch zeitübergreifend verbindlich festgelegt, sondern ergibt sich aus der jeweiligen Notwendigkeit des Volkes Gottes. Die neutestamentliche Epoche kennt verschiedene Strukturformen der Kirchen, auch nebeneinander und teilweise zeitgleich-überlappend. Zu denken wäre an die paulinischen und nachpaulinischen Kirchen, an die andere Struktur der Kirche in Jerusalem (vgl. Apg) oder an die johanneischen Kirchen.
Nicht eine naheliegende Veränderung ist zu begründen, sondern das Verharren im bisher praktizierten (Struktur-)Modell.
Die von Johannes XXIII. angestossene Aufmerksamkeit des letzten Grossen Konzils für die Wahrnehmung der „Zeichen der Zeit“ und der deshalb notwendigen Verheutigung (aggiornamento) kann auch für diesen Bereich als allgemeines methodisches Prinzip gelten (siehe dazu das Dokument über die Kirche in der Welt von heute, Art. 4). Die Vielfalt der Dienste ist daher nicht nur veränderbar, sondern sie ist zu verändern. Dabei ist von einer normativen Variabilität auszugehen, das heisst: Nicht eine naheliegende Veränderung ist zu begründen, sondern das Verharren im bisher praktizierten (Struktur-)Modell.
4 Die (variable) Institutionalisierung von Diensten geschieht mit Blick auf die Erfordernisse des Lebens der Glaubensgemeinschaft vor Ort. Für entsprechende Klärungen kann ein Dreischritt als exemplarisch gelten (siehe dazu z. B. Jes 6,8-9; Apg 6,1-6):
- Wahrnehmung/Feststellung eines Handlungs- oder Regelungsbedarfes,
- Feststellung von vorhandenen (Personal-)Ressourcen/Charismen vor Ort und entsprechende Auswahl,
- Beauftragung/Sendung.
Auch die Benennung von Diensten kann variieren und dabei inkulturiert werden. In den paulinischen Kirchen ist in diesem Zusammenhang von einer Steuerungsinstanz (Hafenstadt Korinth), von Vorstehenden (Verwaltungsstadt Thessalonich) oder von Aufsehern (Garnisonsstadt Philippi) die Rede. Im biblischen Kanon der Dienste sind zahlreiche Entwicklungen und Veränderungen erkennbar. Zu denken ist an die jüdische Zuordnung der Schriften Jos, Ri, 1 und 2 Sam und 1 und 2 Kön zu den Prophetenschriften nebi‘im, verfasst also von Propheten[1] , oder an die Entwicklung der verantwortlichen Kircheninstanzen in Jerusalem von den „Aposteln und Ältesten“ unter Leitung des Petrus (z.B. Apg 15,4) zu den „Ältesten“ unter der Leitung des Herrenbruders Jakobus (vgl. Apg 21,18-19) zwischen ca. 40 bis 60 n. Chr.
Im biblischen Kanon der Dienste sind zahlreiche Entwicklungen und Veränderungen erkennbar.
Dienste können sich auch einfach erledigen und somit verschwinden – so die Institution der Richter in der Frühzeit Israels ebenso wie der Zwölferkreis in der ersten nachösterlichen Kirchengeneration. Zwar wird der Zwölferkreis nach dem Tod des Judas nochmals ergänzt (vgl. Apg 1,15-26), nicht mehr aber nach der Hinrichtung des Jakobus um 42-44 n. Chr. (vgl. Apg 12,1-2).
5 Beauftragung zum Dienst erfolgt aufgrund von Berufung und persönlicher Eignung, insbesondere aufgrund der erkennbaren Ausstattung mit Gnadengaben (Charismen). Sie wird ausgesprochen durch die Menschen in den Ortskirchen oder durch entsprechende Verantwortliche, und zwar ohne Ansehen von Geschlecht und Lebensstand. Die diesbezüglich anderslautende lehramtliche Argumentation ist in sich nicht bündig und stimmt mit dem biblischen Befund nicht überein: Verantwortliche Dienste werden in der jüdischen, später in der christlichen Glaubensgemeinschaft von Frauen und Männern ausgeübt. In der Bibel ist die Tätigkeit von Prophetinnen, von Mitarbeiterinnen in der Verkündigung, von Frauen in Leitungsfunktionen bezeugt.
Beuaftragung zum Dienst erfolgt (…) ohne Ansehen von Geschlecht und Lebensstand.
Die kürzlich erfolgte Äusserung von Kardinal Luis F. Ladaria, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, zu diesem Thema[2] folgt erneut der Methode eines Wiederholens bereits vorliegender lehramtlicher Aussagen ohne Berücksichtigung vorgebrachter theologischer Argumente und ohne eine Auseinandersetzung mit diesen auf wissenschaftlicher und theologischer Augenhöhe. Diese Methode ist im Wahrheitsfindungsprozess der Kirche nicht dienlich, da sie keinen theologischen Erkenntnisfortschritt mit sich bringt. So wurde z.B. der ständig wiederkehrende Hinweis auf die männliche Zusammensetzung des Zwölferkreises bereits vor 40 Jahren (und seither immer wieder) mit Hinweis auf die darin enthaltene prophetische Zeichenhandlung zurückgewiesen. Gerade in diesen Zeichenhandlungen Jesu, deren Botschaft über das unmittelbar Wahrnehmbare entscheidend hinausweist, ist bibeltheologisch der Sitz im Leben für ein sakramentales Verständnis des Wirkens Jesu anzusetzen.
Schon vor mehr als zehn Jahren hat der damalige Erzbischof von Brüssel-Mechelen, Kardinal Godfried Danneels, dazu Fragen aufgeworfen: „Trägt man genügend Sorge zur biblischen Fundamentierung lehramtlicher Erklärungen?“ – und des weiteren: „…wie steht es mit der exegetischen Stichhaltigkeit bei den angeführten Argumentationen?“[3] Auch Rede- und Diskussionsverbote sind heute keine probaten Mittel mehr, um einer in Frage gestellten Auffassung zum Durchbruch zu verhelfen. Schon vor mehr als zwanzig Jahren hat Bischof Kurt Koch darauf hingewiesen, dass „das kirchliche Lehr- und Leitungsamt […] ohnehin bleibend auf die Theologie angewiesen“ ist.[4] Helmut Krätzl (emeritierter Weihbischof in Wien) hat das mehrfach und ausführlich begründet.[5]
gelebte Proexistenz in der Ausübung des Dienstes
6 Die Kontinuität in der Dienststruktur (die so genannte „Apostolische Sukzession“) besteht nicht in der Detailübereinstimmung einer gleichbleibenden Ordnung der Dienste, sondern in der immer neuen, also kontinuierlichen Wahrnehmung, Förderung und Entwicklung grundlegender Merkmale der Dienste in der Kirche in Übereinstimmung mit dem biblischen Gesamtbefund. Dazu gehören (unter anderem) die qualifizierte Weitergabe der Ermächtigung, die Verbindlichkeit von Übertragung und Übernahme eines Dienstes, sowie die gelebte Proexistenz in der Ausübung des Dienstes. Es braucht also Einsatzbereitschaft im Sinne von Joh 15,13, in der Folge davon Solidarität, Wahrnehmung der Glaubensgemeinschaft als Leib Christi in Verbindung mit einer zugestandenen Subsidiarität, Treue in der eigenen Berufung und gegenüber dem übertragenen, bzw. im übernommenen Dienst, all das in einer Transparenz auf Gott hin.
Es ist kein Zufall, dass in diesem Zusammenhang also von grundlegenden Eckpunkten eines Profils Jesu von Nazaret die Rede ist. Gerade in diesem Bereich kann Dienst in der Kirche unablässig an Intensität und Wirkung gewinnen.
Christian Weisner[6] spricht von einer „Wendezeit“ für die Kirche. Darin ist ihm zuzustimmen, sie ist 50 Jahre nach dem Konzil auch überfällig. Vor allem ist zu hoffen, dass dieser Erneuerungsprozess auch in Strukturfragen tatkräftig fortgesetzt wird – z. B. mit einer Besinnung auf das biblische Fundament.[7]
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Dr. theol. Walter Kirchschläger war von 1982 bis 2012 Professor für die Exegese des Neuen Testaments an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Er ist Gründungsrektor und Ehrensenator der Universität Luzern.
Beitragsbild: Daniel McCullough / unsplash.com
Die Ausführungen dieses Beitrags beruhen auf dem Eingangsstatement des Verfassers anlässlich des Podiumsgesprächs zum Thema „Back tot he Roots. Amtsverständnisse auf der Basis des Alten Testaments“ im Rahmen des 101. Deutschen Katholikentages in Münster (9. bis 13. Mai 2018). Weitere Teilnehmende unter der Moderation von Prof. Dr. Heinz-Günther Schöttler (Regensburg) waren Prof. Dr. Johanna Rahner (Tübingen) und Rabbinerin Natalia Verzhbovska (Köln/Oberhausen/Unna).
[1] Auch Mose wird als Prophet bezeichnet (vgl. Dtn 18,15), im NT aufgegriffen in Lk 7,16.
[2] Vgl. Luis F. Ladaria, Zu einigen Zweifeln über den definitiven Charakter der Lehre von Ordinatio sacerdotalis, in: L’Osservatore Romano vom 29. Mai 2018.
[3] Godfried Danneels, Vierzig Jahre Vaticanum II, in: Schweizerische Kirchenzeitung 174 (2006) 46-2, Zitate 46-47.
[4] Kurt Koch, Professorales und episkopales Leitungsamt, in: Schweizerische Kirchenzeitung 164 (1996) 125-126, Zitat 125.
[5] Helmut Krätzl, Neue Freude an der Kirche, Innsbruck 2001, 171.175, sowie ders., Das Konzil – ein Sprung vorwärts, Innsbruck 2012, 139-151.
[6] Christian Weisner, Wendezeit für die römische Kirche. Der schwierige Weg von der Klerikerkirche zu einer Kirche des Gottesvolkes, in: ET Studies 9 (2018) 3-26.
[7] Vgl. dazu Walter Kirchschläger, Pluralität und inkulturierte Kreativität. Biblische Parameter zur Struktur von Kirche, Rektoratsrede 1997, in: Schweizerische Kirchenzeitung 165 (1997) 778-786; ders., Ortskirchen im Neuen Testament. Bestandsaufnahme und Folgerungen für morgen, in: Walter Kirchschläger/Leo Novak/Anneliese Hecht, Kirchenvisionen. Biblische Perspektiven für eine zukunftsfähige Kirche, Stuttgart 2007, 15-51.