Die christliche Theologie ist ohne Zweifel eine kirchliche Wissenschaft. Aber was bedeutet das? Von Rainer Bucher.
Seit dem 16. Jahrhundert musste die katholische Kirche eine Serie dramatischer Reichweitenverluste verarbeiten. Die protestantischen Reformationen etablierten erfolgreich konkurrierende christliche Kirchen – der Beginn einer ganzen Kaskade von Demütigungserfahrungen für die katholische Kirche in Europa: Es folgte die Entmachtung durch den modernen liberalen Staat in den bürgerlichen Revolutionen, das Aufkommen konkurrierender politischer Religionen in Kommunismus, Nationalismus und im gewissen Sinne auch Kapitalismus, und schließlich die moderne Individualisierung des Religiösen bis hin zur völligen Interesselosigkeit an Religion.
Eine Kaskade demütigender Reichweitenverluste
Diesen Reichweitenverlusten entsprach katholisch in Theorie, und wo durchsetzbar auch in der Praxis, eine kompensatorische Selbstaufwertung. Im Kern reagierte die katholische Kirche bis zum II. Vatikanum nach dem sozialpsychologischen Mechanismus „Inklusion durch Exklusion“, kombiniert mit der Strategie „Kontrolle durch Überschaubarkeit“ sowie gezielter medialer Beeinflussung der Massenbasis – sieht man von einigen theologischen („Tübinger Schule“) oder politischen („Katholische Aufklärung“) Ausnahmephasen ab. Vor allem schloss man die diskursiven Reihen.
So ordnete man nach und nach das ursprünglich gleichberechtigte magisterium der Theologen dem apostolischen magisterium der Bischöfe vollständig unter.[1] Damit wollte man die Irritationsenergien eines zunehmend nicht mehr kontrollierbaren Außen abwehren. Das war sozialpsychologisch verständlich, nicht aber unbedingt von größerem Nutzen für die katholische Kirche und ihre Aufgabe. Das zeigte sich spätestens an der Wende zum 20. Jahrhundert, als im „Modernismusstreit“ das römische Lehramt ziemlich rigide anordnete, katholische Theologie dürfe nicht mit den Mitteln der zeitgenössischen Wissenschaften gemacht werden.
Das anti-modernistische Trauma
Ganz erholt vom anti-modernistischen Trauma hat sich die katholische Theologie letztlich bis heute nicht. Obwohl das II. Vatikanum die Konfrontation von „Kirche“ und „Welt“ eigentlich überwunden hat und damit auch jene von Theologie und modernen Wissenschaften, von Kirche und „feindlichem Außen“, ist diese alte Konstellation immer wieder einmal bei Bedarf reaktivierbar.
Dabei ist das Verhältnis von Lehramt und wissenschaftlicher Theologie in den aktuellen religionssoziologischen und glaubensgeschichtlichen Zeiten schon lange nicht mehr zweipolig, sondern Teil eines mehrpoligen Kommunikations-, Rezeptions- und Kräftegeflechts. Oder theologisch gesagt: Die Volk-Gottes-Realität beider, Theologie wie Lehramt, hat sie nunmehr auch empirisch eingeholt.
Für Theologie wie Lehramt gilt heute auch in der sozialen Realität, was Wolfgang Beinert bereits vor längerem als theologisches Prinzip festgehalten halt: „Beide leben nicht aus und für sich, sondern haben in der Kirche einen Dienst an der Kirche zu vollziehen.“[2] Dieser Dienst aber ist mit dem II. Vatikanum gesprochen die „Pastoral“. „Pastoral“ meint nach „Gaudium et spes“ den je konkreten Versuch, Evangelium und Existenz handlungsbezogen in einen kreativen Kontrast zu bringen.
Das aber heißt auch: Kirche wird das Volk Gottes in der Solidarität mit den Existenzproblemen der Menschen heute. Das ist die neue Lehre des Konzils. Diese Lehre fordert ein neues Verhältnis der Kirche zur sie umgebenden modernen pluralen Gesellschaft. Diese kann von der Kirche nicht mehr einfach unter Kategorien der ideologischen Gegnerschaft gefasst und behandelt werden, sondern sie wird zum Ort, an dem das Evangelium in seinem Sinn und seiner Bedeutung erschlossen werden kann – oder eben nicht. Kirche findet sich dort, denn sie muss dort die Existenzbedeutsamkeit des Evangeliums entdecken. Alles und alle in der Kirche sind dieser kirchenkonstitutiven pastoralen Grundaufgabe verpflichtet. Sie ist es, welche die unverzichtbare Kirchlichkeit der Theologie markiert.
Was aber ist dann das Spezifische des theologischen Diskurses, speziell des wissenschaftlichen, unter den Handlungsformen des Volkes Gottes? Dieses Spezifikum kann mit den Begriffen Reflexivität, Intellektualität und Experimentalität beschrieben werden. Wissenschaftlich-diskursives Handeln ist methodisch kontrolliertes, also sich selbst beobachtendes, reflexives Handeln, es ist intellektuelles, also sich selbst notwendig synchron wie diachron mit anderen Positionen und Perspektiven kontrastierendes Handeln, und es besitzt als unmittelbar entscheidungsentlastetes Handeln die Möglichkeit zu Experimentalität und perspektivischer Konzeption. Aus dieser – sicherlich nur annäherungsweisen – Beschreibung der Besonderheiten des wissenschaftlichen Diskurses ergeben sich Konsequenzen für die Funktion der wissenschaftlichen Theologie im Gesamt der Pastoral des Volkes Gottes, also ihrer Kirchlichkeit.
Reflexivität, Intellektualität und Experimentalität
Reflexivität und Distanzierungsfähigkeit des wissenschaftlichen Diskurses ermöglichen Distanz und damit Selbstkritik. Der kirchliche Dienst der Theologie an der Pastoral des Volkes Gottes folgt dem Prinzip der Unterbrechung, des Ausstiegs aus dem Fluss permanenten Handlungsdrucks, der Distanz zum Gegebenen und Aufgegebenen – und eröffnet damit die Möglichkeit der Selbstkritik.
Der Dienst der Intellektualität wiederum besteht in der Eröffnung diachroner und synchroner Kontraste, wenn denn Intellektualität als die Fähigkeit beschreibar ist, die Wirklichkeit aus mehr als einer Perspektive zu sehen – und das gleichzeitig. Es ginge um jene Kontraste, die außerhalb der Wissenschaft und ohne deren archiviertes Wissen nicht leicht zu haben sind. Dies erlaubt es dem Volk Gottes, seine eigenen Kontraste besser einordnen und verstehen zu lernen. Die Eröffnung der diachronen Pluralität der Kirchengeschichte wie der synchronen Pluralität interkulturell arbeitender Wissenschaften liefert recht unmittelbare Perspektiven für die Analyse wie für die Bearbeitung der eigenen Situation und befreit von Untergangsängsten aufgrund der Auflösung einer spezifischen, historisch bedingten Sozialform von Kirche.
Immer schon hatte das Denken aber auch das heikle Privileg, Wirklichkeit nicht nur zu erklären, zu verstehen und selbst zu sein, sondern auch an ihrer kreativen Veränderung zu arbeiten. Die wissenschaftliche Theologie hätte dem Volk Gottes auch den Dienst des Entwurfs möglicher Zukünfte seines Handelns zu leisten, nicht freilich in jenem instruktiv-präskriptiven Sinn, wie ihn Wissenschaft in der Moderne nur zu gerne für sich beanspruchte, sondern als Entwurf möglichen Handelns und Begreifens, als Projekt und Experiment, das dem Volke Gottes und seiner Leitung vorgeschlagen und zur Diskussion gestellt wird.
Von der pastoralen Aufgabe her entwerfen
Wie muss eine akademische Theologie ausschauen, die dem Volk Gottes hier und heute hilft, das Volk Gottes auch tatsächlich zu werden und die gleichzeitig in der Lage ist, gegenüber zeitgenössischen Wissensformaten der Geistes-, aber auch der Natur-, Wirtschafts- und Technikwissenschaften lern- und also gesprächsfähig zu sein? An welchem Ort muss sie entstehen? Zu wem und was muss sie Verbindung halten? Von was muss sie wissen? Wem ist sie verpflichtet? Wer betreibt sie? Solchen und verwandten Fragen kann die akademische Theologie tatsächlich nur um den Preis der Selbstbeschädigung ausweichen. Ressentiments gegen das Akademische sind auf diese Fragen genauso wenig eine Antwort wie der Rückzug ins Akademische, Ressentiments gegen den kirchlichen Binnenraum ebenso wenig wie der Rückzug auf ihn. Denn dieser Binnenraum braucht nichts mehr als seine Überschreitung in die Realitäten heutiger Existenz und ist selbst voller Menschen, die in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Teilsystemen und Kulturen leben müssen – oder dürfen.
Theologie wie Lehramt haben sich von der pastoralen Aufgabe des Volkes Gottes her zu entwerfen. Es könnte nämlich sonst passieren, dass das Volk Gottes sich nicht mehr für sie interessiert. Vielleicht ist das ja schon recht weitgehend Fall. Es wäre ein Schaden, denn das Volk Gottes braucht ein Lehramt, das seine pastorale Aufgabe erfüllt[3], wie eine wissenschaftliche Theologie, die sich als Teil des Volkes Gottes heute versteht, und gerade deshalb furchtlos zeitgenössische Theologie in den konfliktreichen Bruchzonen einer unübersichtlichen Gegenwart treibt.
„Euer Ort des Nachdenkens sollen die Grenzen sein. Und tappt nicht in die Versuchung, sie zu lackieren, zu parfümieren, sie ein wenig aufzuhübschen und zu zähmen.“ Das schrieb Papst Franziskus an den Großkanzler der PONTIFICIA UNIVERSIDAD CATÓLICA ARGENTINA am 3. März 2015, und dass sich die Theologie „in dieser Zeit“ der „Konflikte annehmen“ müsse, und zwar „nicht nur jener, die wir innerhalb der Kirche erfahren, sondern auch jener, die die ganze Welt betreffen.“ Da hat er einfach Recht.
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Rainer Bucher, Bonn, bis September 2022 Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
[1] Thomas von Aquin kennt noch das, einander zugeordnete, aber unterschiedene, magisterium cathedrae pastoralis der Bischöfe und das magisterium cathedrae magistralis der universitären Theologen.
[2] W. Beinert, Der Glaubenssinn der Gläubigen in Theologie- und Dogmengeschichte. Ein Überblick, in: D. Wiederkehr (Hrsg.), Der Glaubenssinn des Gottesvolkes. Konkurrent oder Partner des Lehramtes?, Freiburg/Br.-Basel-Wien 1994, 66-131, 119.
[3] Vgl. die Eröffnungsansprache des II. Vatikanischen Konzils. Johannes XXIII spricht hier bekanntlich von einem Lehramt „von vorrangig pastoralem Charakter“ (L. Kaufmann/N. Klein, Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis, Fribourg-Brig 1990, 136).