Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten bemerkt man, wenn sie auf Hindernisse stoßen. Dass die moderne Gesellschaft plural, differenziert, komplex und vielfältig vernetzt ist, erfährt man tagtäglich, ohne dass es einem auffällt. Ebenso wenig bemerkt man, wie sehr diese Form der gesellschaftlichen Strukturierung das eigene Wahrnehmen, Fühlen, Handeln und Denken prägt. Von Jochen Ostheimer.
Der Tagesablauf folgt institutionalisierten Routinen. Die Taktgeber sind die Öffnungs- und Schließzeiten von Kindergärten, Schulen oder Geschäften, Kernarbeitszeiten in Büros, Schichtrhythmen in Fabriken oder Krankenhäusern. Oberflächliche Begegnungen an Kassen, Haltestellen oder im Beruf gehören ebenso sehr zum Alltag wie flüchtige Berührungen insbesondere in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Institutionalisierte Routinen
All dies fällt nun weg. Die Vorschriften zur sozialen Distanzierung bewirken als Nebeneffekt zumindest für das subjektive Empfinden eine gesellschaftliche Entdifferenzierung. Abgesehen von den Fällen des Alleinlebens werden die Menschen nicht so sehr auf sich selbst, sondern auf ihren Nahbereich zurückgeworfen: auf ihre Familie – bzw. Bewohner von Wohnheimen auf ihre Mitbewohner und Betreuer.
Mit den zahlreichen Ausgehverboten schrumpft die Welt erheblich. In sozialer Hinsicht konzentriert sie sich auf die Haushaltsgemeinschaft. Der Kontakt zu Nachbarn erfolgt im besten Fall über den Gartenzaun, ansonsten unterbleibt er weitestgehend. Verwandte und Freunde rücken in die Ferne, selbst wenn sie nur eine Straße entfernt wohnen. Denn niemand will Viren übertragen. Bleibt noch die Telekommunikation.
Die Welt schrumpft.
Die bestehenden Verbindungen zwischen Angehörigen und Bekannten intensivieren sich zumeist, hinzu kommt der beruflich bedingte Austausch. Was vielfach entfällt, ist der Plausch zwischen Kollegen und flüchtigen Bekannten in der Nachbarschaft oder im Verein. Wo nicht schon vor dem Erlass der aktuellen Gesundheitsvorschriften ein Kontakt per WhatsApp eingespielt war, wird er nur mit viel Aufwand entwickelt werden.
Auch der Aktionsraum wird kleiner. Er beschränkt sich auf die eigenen vier Wände, die bei vielen, v.a. in Stadtwohnungen, doch recht eng sind. Das gemeinsame Spazierengehen auf Distanz ist nur möglich, wenn nicht zu viele gleichzeitig einer solchen Idee nachgehen. Sonst kann es wie jüngst in München vorkommen, dass die Polizei interveniert und die Menschen wieder in ihren häuslichen Rahmen zurückbeordert. Einen Ausweg bietet noch das Einkaufen. Baumärkte wurden als Ausweichquartiere entdeckt, bis sie aus genau diesem Grund ebenfalls geschlossen wurden.
Die zeitliche Perspektive verliert die Mittelfristigkeit. Es gibt den überschaubaren Zeitraum „bis Ostern“. In diesen Tagen wird bestenfalls alles so bleiben, wie es ist. Und der Vorrat an Nudeln und Toilettenpapier wird so lange auch reichen. Der Frühsommer ist terra incognita. Abitur- und sonstige Abschlussprüfungen schweben in der Luft. Der übliche Pfingsturlaub wird erst einmal nicht gebucht. Hochzeiten werden auf unbestimmt verschoben. Im Kalender schaut man eher wieder auf das Jahresende und das kommende Jahr, wo, so die Hoffnung, alles wieder normal sein wird.
In sachlicher Hinsicht schwindet die gewohnte Vielfalt an Ansprachen. In den Vordergrund treten die sich in der Wohnung ergebenden Themen, Aufgaben und Betätigungen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, ob dieses Jahr der Frühjahrsputz besonders intensiv ausfällt. Die Möglichkeit, weiterhin zu arbeiten, und sei es daheim, wird nicht nur in finanzieller Hinsicht geschätzt, sondern ebenso, weil sie Beschäftigung, Abwechslung und Struktur bietet.
Ähnlichkeit mit segmentären Gesellschaften
Die Verringerung und Konzentration des sozialen Austauschs hat Ähnlichkeiten mit den Verhältnissen, wie sie idealtypisch für die segmentär strukturierte Gesellschaft angenommen werden. Der Kontakt des Einzelnen war in der Stammesgesellschaft auf die Mitglieder der Großsippe begrenzt. In ihr vollzog sich das gesamte Leben und der ganze Tagesablauf. Was in der Sippe funktionierte, funktionierte; was fehlte, fehlte.
Die aktuelle Lage der Corona-Gesellschaft wird in Politik und Medien beschwichtigend mit englischen Ausdrücken als shut down oder lock up beschrieben, also als Schließung und Einsperrung, was der Sache nach weitgehend zutrifft. In dieser Situation wird nun deutlich, wie sehr das moderne Subjekt auf die vielfachen und vielfältigen Beziehungsformen angewiesen ist, wie sie die funktional differenzierte Gesellschaft kennzeichnen.
Kein Weg zur „Eigentlichkeit“
Vielfalt, Spezialisierung, Schnelligkeit und Oberflächlichkeit können anstrengend sein, sie wirken aber auch entlastend, und sie bieten Entfaltungsmöglichkeiten. Sich plötzlich auf wenige Rollen reduziert zu sehen, kann verunsichern. Es führt nicht, wie Romantiker und Existenzialisten meinten, zu einer verdrängten Eigentlichkeit zurück, sondern zu einer Einschränkung des Repertoires an Möglichkeiten des Ein- und Ausdrucks.
Daran muss man sich erst gewöhnen. Es ist ein wenig wie im Urlaub. Auch hier dauert es meist mindestens eine Woche, bis man seine Alltagsroutinen hinter sich lassen und sich an die neue Freizeit und Freiheit gewöhnen kann. Mit der aus hygienischen Gründen angeordneten Klausur ist es ähnlich.
Jochen Ostheimer ist Assistenzprofessor für Ethik und Gesellschaftslehre an der Universität Graz.
Photo: Rainer Bucher