Kolumne für die kommenden Tage 27
Derzeit driftet das Zeiterleben stärker auseinander, als wir das unter normalen Umständen gewohnt sind. Die einen erleben Stress – etwa im Krankenhaus, an der Supermarktkassa, im IT-Bereich oder bei der Organisation von Notmaßnahmen –, die anderen arbeiten nun schon eine Zeit lang zu Hause – wenn sie nicht arbeitslos sind oder zu Kurzarbeit verpflichtet wurden –, sind froh, dass Termine ausfallen und der Druck nachgelassen hat, müssen sich den Tag nun aber selbst strukturieren oder erleben vielleicht sogar Langeweile. Die Gesellschaft ist also unterschiedlicher getaktet als gewöhnlich.
Wenn wir jetzt – öfter als sonst – jemanden anrufen, um zu fragen, wie es geht oder um die eigene Einschätzung oder sogar Angst mit anderen zu teilen, merken wir, dass es mitunter notwendig ist, zunächst auf dieselbe Geschwindigkeit zu kommen, damit wir uns gut verstehen können. Die Telefonate oder Skype-Unterhaltungen dauern jetzt nicht nur deshalb länger, weil wir uns viel zu sagen haben, sondern auch, weil wir uns erst synchronisieren müssen, um uns gut miteinander austauschen zu können.
Denn Zeitgewinn und Zeitverlust spiegeln sich auch im Rhythmus von Sprechen und Denken wider, meist subtil, aber eben doch. Das zeitliche Gefüge der Gesellschaft, so lehrt diese Erfahrung, wird nicht nur von den Terminkalendern und Uhren bestimmt. Dass es demgegenüber auch den eigenen Takt und die eigene Geschwindigkeit gibt, wird jetzt mitunter wieder besser spürbar.
Die Erkenntnis, dass Zeit etwas ist, das gestaltet werden muss, ist möglicherweise die zweite Lektion, die es erneut zu lernen gilt. Es verunsichert viele, dass wir eigentlich Herr oder Herrin der eigenen Zeit sind. Das scheint eine der gegenwärtigen Hauptirritationen zu sein, weil wir im Alltagsstress oft verlernt haben, dass wir im Grunde nicht nur Getriebene sein müssten, sondern Zeit-Subjekte sind. Wir wissen zwar, dass Zeit ein hohes Gut ist, weil wir meist zu wenig von ihr haben, aber dass es eigentlich in unserer Hand läge, die eigene Zeit zu gestalten, wurde oft vergessen und kommt nun wieder neu ins Bewusstsein.
Erst recht wird in Stress-Situationen wenig darauf geachtet, dass Zeit auch für alle, mit denen wir zusammenarbeiten, gemeinsame Aufgaben erledigen oder Projekte durchführen, ein wertvolles Gut ist. Denn die Bitte, dass das eigene Anliegen von der anderen Seite möglichst sofort oder zumindest sehr bald erfüllt wird, nimmt anderen nicht nur Zeit, sondern ändert auch geplante Zeit-Verläufe. Es soll etwas eingeschoben, eine Frist vorverlegt oder Vereinbartes umgestoßen werden. Eigene Interessen und Zeitpläne verdrängen dabei oft das Wissen, dass mit Zeit achtsam umzugehen ist, vor allem mit jener der anderen.
Eine weitere Lektion gibt uns die Unmöglichkeit, uns in Zeiten der eingeschränkten Bewegungsfreiheit zu treffen und mit Menschen, die nicht im selben Haushalt leben, gemeinsam Zeit zu verbringen, einander zu besuchen, miteinander auszugehen, ein Konzert zu hören oder im Kino einen Film zu sehen. Was gesellschaftliches Leben wesentlich prägt, ist, dass Menschen sich miteinander verabreden.
Jetzt markiert das Fehlen gemeinsamer Zeit in der Öffentlichkeit zugleich das Fehlen gesellschaftlicher Bindung. Gesellschaft, aber auch Pfarren leben wesentlich davon, dass Menschen gemeinsam Zeit verbringen. Fehlt solche Zeit, degenerieren Gesellschaft und das religiöse Leben. Dies geschieht im Übrigen auch dann, wenn die Flut von Terminen und Verpflichtungen die eigene Zeit allzu sehr beschneidet und bei beruflich wichtigen Meetings der professionelle Smalltalk das persönliche Gespräch ersetzt.
Die wichtigste Lektion der Zeit – so scheint mir – ist allerdings diejenige, nicht zu vergessen, dass jemand, der seine Zeit zur Verfügung stellt, sich selbst zur Verfügung stellt. Für jemanden Zeit zu haben, bedeutet nämlich, für jemanden persönlich da zu sein. Umgekehrt heißt über jemandes Zeit zu verfügen, über ihn selbst zu verfügen. Wenn man jemandem Achtung zollen möchte, kann man deshalb kaum Wichtigeres tun, als ihm Zeit zu schenken.
Für die Zeit nach der Krise ist zu hoffen, dass der Aufhol-Modus diese Lektionen nicht wieder verdrängt und Zeit nicht noch knapper werden lässt als vorher, sondern dass vor allem Vorgesetzten bewusst ist, dass man seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besonders dann schätzt, wenn man ihnen zeitliche Flexibilität zuerkennt und auf ihre Zeit achtet. Der Gesellschaft und den Gemeinden ist zu wünschen, dass Menschen die Chance nutzen, wieder viel Zeit gemeinsam zu verbringen. Schließlich sollte uns allen bewusst sein, dass man in Kalendern auch Zeiten reservieren kann, die überschrieben sind mit: Müßiggang.
Reinhold Esterbauer ist Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz.