Die Frankfurter Dessauerhaus-Gemeinde, eine katholische Reformgemeinde der Nachkonzilszeit, feiert in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. Tobias Heisig portraitiert sie in kritischer Gegenprofilierung zur inzwischen in vielen Bistümern aufgelösten Katholischen Integrierten Gemeinde. Deren Gründerin wartet mit einer krassen Metapher auf.
Wenn es um Wahrheit und eine starke Gemeinschaft geht, besteht die Versuchung des Totalitären. Die katholische Dessauerhaus-Gemeinde in Frankfurt ist seit 1973 lebendig und hat dieser Versuchung widerstanden. Dazu hat auch die Auseinandersetzung mit der Katholischen Integrierten Gemeinde beigetragen. Ein Rückblick offenbart ein Gemeindemodell für die Zukunft.
Mangelnde Integration
„Mangelnde Integration in Pfarrgemeinden“, „nicht akzeptable“ Gottesdienste, die „notwendige Aufgabe religiöser Erziehung der Kinder“ – das sind die Kernaussagen eines Schreibens, mit dem Heidrun und Hans Kessler, Ingeborg und Rudolf Pesch sowie Norbert Wetzel 1972 in das Foyer des Friedrich-Dessauer-Hauses in Frankfurt einluden, um den „Versuch, neuer Gemeindebildung zu planen“.
Aus dieser Initiative ist 1973 eine Gemeinde entstanden, die sich seit 1975 nach ihrem anfänglichen Versammlungsort benennt, die Dessauerhaus-Gemeinde in Frankfurt, kurz DHG. Sie besteht bis heute und feiert somit in diesem Jahr ihr 50jähriges Bestehen. Ein Stück katholische Kirche, ein „Lichtblick“, wie Franz Kamphaus kürzlich schrieb. Besonders in der Gründungsphase mitinitiiert durch bekannte Personen wie Rudolf Pesch, Norbert Lohfink und Hans Kessler. Ein offener Kreis, im Großraum der hessischen Metropole, der sich gerne von der Gemeinde in Korinth inspirieren lässt. Tieffromm, akademisch und volkstümlich zugleich, spirituell autonom, aufgeklärt, gesellschaftlich engagiert, von links bis konservativ.
Gemeinsame Sehnsucht nach Gott
Seit 50 Jahren vierzehntägige Gottesdienste am Sonntagnachmittag, Bibel- und Gesprächsabende unter der Woche und intensive Ostertage in einem Bildungshaus mit leidenschaftlich gestalteter Liturgie und vielen Glaubensgesprächen. Neben der Suche nach einer Gemeinschaft, die mehr Begegnungsqualität bot und dem Bedürfnis, Diskurspartner zu finden, stand am Anfang auch der Anspruch, die Kinder durch aufwändig und reihum vorbereitete Katechesen und eine starke Einbeziehung in die Liturgie als tragende Säulen der Gemeinde ernst zu nehmen. Die Kinder sind längst erwachsen, viele Gemeindeglieder gehen auf die Neunzig zu. Aber immer noch sind die gemeinsame Sehnsucht nach Gott, die Begegnungen und die Gottesdienste äußerst persönlich und intensiv.
50 Jahre vitales Kirchenleben. Ohne materielles Vermögen (die Tischgottesdienste finden in einem stundenweise angemieteten Gemeindezentrum statt), ohne feste Strukturen (eine per Akklamation ca. alle 2 Jahre gewählte Gemeindeleitung koordiniert und organisiert) und ohne institutionelle Bindung (man betrachtet sich als Teil der Diözese Limburg und als Teil der Stadtkirche von Frankfurt).
Die Programmatik der Gemeinde besteht darin, dass sie keine hat. Eine „Funktion“ (etwa zu reformieren oder zu missionieren) ist nicht definiert, ebenso wenig Pläne für die Zukunft. Sie lässt sich im Heute vom Evangelium ansprechen. Gleichsam eines Menüs, das aus den geschenkten Zutaten gemeinsam zubereitet wird und das es zu genießen gilt. „Kostet und seht…“.
Ein permanentes Erkunden
Aus einer soziologischen Perspektive ist die Gemeinde ausgesprochen informell konstituiert, also kein Team, keine Familie, kein Clan, keine Pfarrgemeinde. Sie ist auch keine Clique, also eine Gruppe, die ihre Verbundenheit durch Abgrenzung erzeugt. Die Dessauerhaus-Gemeinde ist vielmehr eine Personalgemeinde, d.h. eine katholische Gemeinde, ohne Pfarrgebiet aber mit klar katholischer Tradition. Hier kommen Menschen zusammen, die suchen und die schon so manches gefunden haben. Dabei überwiegt das unerwartet Gefundene. Es ist Ausgangspunkt für weitere Entdeckungen. Ein permanentes Erkunden, oft auch Ringen, das aber in enger Verbundenheit und Milde, sowie liturgisch gestützt stattfindet.
„Spannungen erfahren wir immer wieder angesichts der hohen Ansprüche, die uns das Evangelium, die wir uns selbst stellen, und vor denen wir doch immer wieder scheitern (müssen?). Wir müssten doch…, wir sollten eigentlich…, dürfen wir denn…! Fragen, die unser Gewissen belasten, uns unser Unvermögen vor Augen stellen und vor denen wir manchmal resignieren möchten. Dankbar erfahren wir dann aber auch immer wieder neue Impulse der Hoffnung, Aufbrüche, in denen uns unverhofft gelingt, was wir zuvor für unerreichbar gehalten hatten“ (aus einem Informationsschreiben der DHG von 1979). Die Frage nach dem Anspruch ist über die Jahre und mit zunehmendem Alter zugunsten einer Dankbarkeit für den gemeinsamen Weg mit Gott in den Hintergrund getreten. „Gott, Du hast uns getragen“, lautet deshalb das Motto des Jubiläumsjahres.
Crash mit der KIG: Keimlinge ausmärzen?
Mitte der 70er Jahre kam es allerdings zum Crash – genau im Rahmen dieser Spannung aus Imperativ und Indikativ. Ca. 30-40% der Gemeindeglieder verließen die Dessauerhaus-Gemeinde und schlossen sich der Katholischen Integrierten Gemeinde (KIG) an. Darunter Prominente wie Rudolf Pesch, der schnell zu den führenden Köpfen der KIG avancierte. Die Konfliktlinie wird von Traudl Wallbrecher, ihrer Initiatorin, an Christi Himmelfahrt 1976 in einem Brief an einen Vertreter der DHG scharf markiert: „Dass der Auftrag noch nicht erfüllt ist, ist sicher so wegen unseres immerwährenden Glaubensverlustes – der es scheinbar dauernd ermöglicht, dass in den langen Jahren mindestens 30-40 sich inzwischen gebildet habende ‚Dessauerhaus-Gemeinden‘ den Blick verstellen.“
Traudl Wallbrecher fasst Ihre Vorstellung zum Unterschied zwischen KIG und DHG wenige Zeilen weiter in folgendes Bild: „Vor einigen Tagen ging ich an einem Morgen bei uns hinterm Haus ins Gärtchen. Da wuchsen unter dem großen Ahornbaum mindestens 100 kleine grüne Ahornkeimlinge, die der Rasenmäher am nächsten Morgen abgemäht hat.“
Lebensstil in mondänen Großstadtlagen
Ich selbst, ein Kind der Dessauerhaus-Gemeinde und damals 8 Jahre alt, erinnere mich noch durchaus an die damalige Zeit. Die KIG war attraktiv: Ihre Ausstrahlung von Sicherheit, Souveränität und gleichzeitig von Aufgeklärtheit sowie intellektueller Redlichkeit versprach Freiheit und ein erfülltes Leben: „Du wohnst dort in Wohngemeinschaften und wenn du ein Klavier haben willst, bekommst du ein Klavier, wenn du ein Pferd möchtest, bekommst du auch das…“, so wurde mir von einem DHG-Mitglied erklärt. Dunkel erinnere ich mich aber auch an die Empörung einiger Erwachsener (als Kind saß ich manchmal abends noch im Schlafanzug bei den Gesprächen dabei) anlässlich eines Vorschlags von Traudl Wallbrecher, eine Ehekrise dadurch zu lösen, dass die eine Person nach Hagen und die andere nach München zieht.
Meine Eltern und ca. zwei Drittel der DHG sind nicht in die KIG gegangen. Spürbar war aber lange der große Respekt vor ihrer Konsequenz und Radikalität. Denn dort, so das damalige Verständnis, wurde umgesetzt, was Jesus unter Gemeinde verstanden hat. Gerhard Lohfink, in beiden Gemeinden stark rezipiert, sprach von einer „Kontrastgesellschaft, die zur Welt in einem scharfen Gegenüber steht“[1]. „Gemeint ist einzig und allein der Kontrast für die anderen und um der anderen willen“[2]. Gelebt wurde dieser Anspruch in der KIG in Form eines hochkulturellen Lebensstils in mondänen Großbauten bester Lage. Mit engem Kontakt zu den in der Kirche Mächtigen, wie dies noch 2006 in dem Bildband „30 Jahre Wegbegleitung“ inszeniert wurde. Gemeinde als Sozialkapital, das Sozial-Prestige gewährleistete und das aus heutiger Sicht nur schwer mit dem Leben des Wanderpredigers in Verbindung zu bringen ist.
Schon im Kern unchristlich?
Es ist nach Jahrzehnten immer ein wenig wohlfeil, das zu kritisieren. Denn getragen wurden viele Menschen in der KIG von einer ganz anderen Idee. „Zwei Traditionen haben sich in der Integrierten Gemeinde zu einer Lebensform verknüpft, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: Die christliche Tradition und die neuzeitliche Religions- und Gesellschaftskritik. Sie entdeckte anhand des Anliegens der Aufklärung das Prinzip des Glaubens in einem neuen Ansatz für unsere Zeit“[3]. Es ging darum, „Salz der Erde“ und „Licht der Welt zu sein“, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Denn „Heilig muss nicht nur das Herz des Menschen sein, heilig müssen auch die Lebensverhältnisse, die sozialen Strukturen und die Formen der Umwelt sein, in denen der Mensch lebt und in denen er sich ständig selbst entwirft“[4].
Die Zitate zeigen: Der Anspruch war extrem hoch und damit vielleicht schon im Kern unchristlich. Gleichzeitig existierte aber auch ein integer engagiertes Ringen Vieler. Es gab innerhalb der KIG durchaus eine Opposition. Sie war kein monolithischer Block. Das lässt die Darstellung ihres Schicksals in der Öffentlichkeit außer Acht. So waren Rudolf Pesch und etliche Andere am Ende nicht mehr dabei. Einige unterstützen sich bis heute gegenseitig bei der Bewältigung der Folgen.
Engagement und Offenheit
In der DHG wiederum wird gelegentlich etwas ungläubig, aber dankbar die Frage gestellt, warum es sie eigentlich noch gibt. Vielleicht sind es zweierlei Merkmale, die dazu betragen. Zum einen das starke Engagement für den Glauben, sowie dessen verschiedene Traditionen und gleichzeitig eine große Offenheit gegenüber dem Anderen. Die DHG ist im Glauben überzeugt, gleichzeitig sucht sie immer wieder neu nach Überzeugung angesichts der vielfältigen Anfechtungen. Aber sie versucht nicht, Andere zu überzeugen. Vielfalt darf sein. Gastfreundschaft ohne jede Leistung, ohne jede Voraussetzung.
Da ist Fritz, der seit Jahrzehnten als Naturwissenschaftler die Absurdität des christlichen Glaubens bezeugt. Da ist Johannes, der intensiv exegetische Literatur liest und seine Erkenntnisse in die Bibelabende einbringt. Da sind Annemarie und Dieter, die solch abstrakte Diskussionen weniger interessieren und stattdessen von ihrem diakonischen Engagement, z.B. der Gefängnisseelsorge erzählen. Leo konnte beides gut miteinander verbinden und betonte die Tat als wirksam im Sinne der großen (revolutionären) Idee. Uschi bringt ihre Erd- und Naturverbundenheit auf passionierte Weise ein. Ursula ihre Leitungskompetenz. Und Michael Raske, der Priester, formuliert das, was er mit seiner ganzen Person verkörpert, in jeder Osternacht mit Johannes Chrysostomus: „Empfangt Euren Lohn, die ersten, wie die Letzten. Der Tisch ist gedeckt. Jeder erquicke sich am Gastmahl des Glaubens“[5].
Versuchung zum Totalitären
Die Ereignisse um die KIG und die DHG sind eine Anfrage. Die Versuchung zum Totalitären liegt in der der Religion, beansprucht sie doch die Wahrheit zu kennen. Nicht nur die Wahrheit über die materielle Welt, sondern auch über das Leben nach dem Tod, den Himmel, die Hölle, die Pläne und die Vorstellungen der Götter. Denn diese Wahrheit betrifft alle Menschen, ihr ganzes Dasein, ihren Lebensstil, ihre Haltungen, ihre Verhalten. Zugleich fordert sie uns. Diese Wahrheit immunisiert sich dann zum totalitären System, wenn keine Gegenargumente und Zweifel mehr vorstellbar sind. Nicht weit ist es vom hohen Leistungsanspruch zur Gewalt.
In der KIG wurde die Wahrheit mit der Gemeinschaft als dem „Ersten“ verbunden. Mit dem Konzept der „Ganzhingabe“ wurde eine Totalidentifikation zum Anspruch erhoben. Die Gemeinde als Primärgruppe. Es kommt zu einer Treue, die keine Differenz und keine Lücke mehr zulässt. Kein zweites Standbein, kein „fremdes Terrain“ (Michel de Certeau), das im Vertrauen auf Gott betreten werden durfte.
Randchrist in der DHG
Eine solche Verstrickung ist der DHG erspart geblieben. „Im Sinne von Papst Franziskus bin ich Randchrist in der DHG“ – so formulierte es Klaus, der die Gemeinde seit Jahrzehnten aktiv mitgestaltet. Er sieht auch das Säkulare und andere Traditionen als Orte der Offenbarung und lebt wie alle Menschen in der DHG auch in starken anderen Bezügen. Die Gemeinde ist ein wichtiger Anker im Leben aber keine Primärgruppe. Dadurch ist es leichter möglich, zugleich in der eigenen katholischen Tradition verwurzelt zu sein und diese zu kritisieren.
Je tiefer die Wurzeln, desto weiter können die Äste ausladen. Der Zweifel und die Suche sorgen dafür, dass diese Äste nicht vereinnahmen, sondern Kontaktpunkte sind. Kontakt- und Friedensfähigkeit haben in der DHG einen höheren Stellenwert als die Wahrheit. So konnte sich das totalitäre und gewalttägige Potenzial der Religion nicht entfalten. Stattdessen wird der Kontakt mit der Vielfalt ohne Angst vorangestellt. Die Suche nach der Wahrheit gibt es auch. Sie bleibt eine Wanderung.
Nachtrag:
Aktuell stellt sich in der DHG die Frage, was wird, wenn sie ohne Priester auskommen muss. Es wird gesucht, gerungen und (vielleicht irgendwann einmal) mit Blick auf die Tradition und den gesunden Menschenverstand gefunden. Sollen wir Agape feiern? Aber dann würde das sakramentale Geschenk fehlen. Sollen wir eine Eucharistie ohne Priester feiern? Das wäre ein Bruch mit einer der tragenden Säulen des Katholischen. Es werden Bibel und Bibelkommentare gelesen. Theologische Literatur.
Aber vor allem werden Einschätzungen, Erfahrungen, Hoffnungen und Sehnsüchte ausgetauscht. Da ist sie wieder, die Frage, wie Jesus Gemeinde gewollt haben könnte. Genau wissen wird es die Gemeinde nie. Eine Idee lautet: den Bischof um Hilfe bitten – und ihm den Vorschlag unterbreiten, ein Gemeindeglied mit der Leitung der Eucharistie zu beauftragen. Vielleicht mit Hinweis auf den Gedanken Rahners, dass von Gott eine Gemeinde ohne Eucharistie vermutlich nicht gewollt ist.
Tobias Heisig, Dr. Theol., Dipl. Psych. studierte in Tübingen und arbeitet dort als Unternehmensberater.
Literatur:
Gerhard Lohfink: Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Freiburg: Herder, 11982.
Traudl Wallbrecher, Ludwig Weimer und Arnold Stötzel (Hg): 30 Jahre Wegbegleitung. Bad Tölz: Verlag Urfeld, 2006.
[1] Gerhard Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?, 153
[2] A.a.O., 169
[3] Aus einem Werbeprospekt für das Gymnasium der Gemeinde, zitiert nach: 30 Jahre Wegbegleitung, 11
[4] Gerhard Lohfink, a.a.O., 157
[5] Aus einer Osterpredigt des Johannes Chrysostomus