Zum Beginn der Fastenzeit wirft Marlen Bunzel einen Blick in die biblischen Prophetenbücher und entdeckt sie als Inspiration fürs Klimafasten.
In den 40 Tagen vor Ostern nehmen sich (längst nicht nur) Christ*innen vor, anders zu leben als sonst, bewusster, reduzierter. Die Fastenaktion der evangelischen Kirche lautet in diesem Jahr beispielsweise „Luft holen! Sieben Wochen ohne Panik“.[1] Jede der sieben Wochen steht unter einem Luft- und Atemmotto. Die Aktion will damit einen Kontrapunkt zu den so atemlos gewordenen Zeiten setzen, in denen das Luftholen und Durchatmen für viele schwer geworden ist. Passend dazu gibt es mit dem Programm des Klimafastens eine weitere Möglichkeit, die Fastenzeit zu gestalten.[2] Es handelt sich dabei um eine ökumenische Initiative, die dazu einlädt, den Klimaschutz ins Zentrum der Fastenvorhaben zu stellen und somit auch der Natur und den Tieren „Luft zum Atmen zu lassen“.
Jesajas Vision
Die erste Woche des Klimafastens wird mit einem Zitat aus dem Buch des alttestamentlichen Propheten Jesaja eröffnet. Im 43. Kapitel des Jesaja-Buches ist zu lesen:
14So spricht der HERR, euer Erlöser, / der Heilige Israels: Um euretwillen habe ich nach Babel gesandt / und lasse alle Flüchtenden untergehen, / die Chaldäer in ihren festlichen Schiffen. 15Ich bin der HERR, euer Heiliger, / Israels Schöpfer, euer König. 16So spricht der HERR, der einen Weg durchs Meer bahnt, / einen Pfad durch gewaltige Wasser, 17der Wagen und Rosse ausziehen lässt, / zusammen mit einem mächtigen Heer; doch sie liegen am Boden und stehen nicht mehr auf, / sie sind erloschen und verglüht wie ein Docht. 18Denkt nicht mehr an das, was früher war; / auf das, was vergangen ist, achtet nicht mehr! 19Siehe, nun mache ich etwas Neues. / Schon sprießt es, merkt ihr es nicht? Ja, ich lege einen Weg an durch die Wüste / und Flüsse durchs Ödland. 20Die wilden Tiere werden mich preisen, / die Schakale und Strauße, denn ich lasse in der Wüste Wasser fließen / und Flüsse im Ödland, / um mein Volk, mein erwähltes, zu tränken. (Jes 43,14–20, EÜ 2016).
Diese poetischen Verse voller Naturmetaphern sind ein schönes Bild für den Anfang der Fastenzeit: Siehe, nun mache ich etwas Neues. / Schon sprießt es, merkt ihr es nicht? (Jes 43,19). Einerseits. Andererseits können diese Verse ein mulmiges Gefühl entstehen lassen. Was, wenn wir uns nicht auf der „guten Seite“ befinden, sondern zu denen gehören, die untergehen werden? Was, wenn unser Lebenswandel eher dem der „Chaldäer in ihren festlichen Schiffen“ entspricht?[3] Denn so simpel sind die Texte der alttestamentlichen Propheten auch wieder nicht, dass nur „die Anderen“ angeprangert werden. Es gibt zahlreiche Verse, in denen nicht nur die Chaldäer*innen, sondern auch die Judäer*innen für ihre sozialen und ökologischen Vergehen angeklagt werden. Der zitierte Jesaja-Text wiegt uns womöglich in einer falschen Sicherheit. Der Text ist außerdem über die Einspielung der Chaldäer mit einem anderen Propheten verlinkt: mit Habakuk, dem einzigen unter den „kleinen Propheten“ des Zwölfprophetenbuches, bei dem die Gruppe der Chaldäer eine Rolle spielt, indem sie als Strafwerkzeug Gottes über Israel eingeführt werden (vgl. Hab 1,6).
Habakuks Mahnungen
Der Prophet Habakuk ist weniger bekannt als Jesaja, was vermutlich mit daran liegt, dass das Habakuk-Buch nur drei Kapitel umfasst. Doch es lohnt sich, das ganze Habakuk-Buch einmal von vorne bis hinten durchzulesen, es dauert ca. 10 min. Der Inhalt ist gar nicht so leicht zu durchdringen, da vieles uneindeutig bleibt. Am bekanntesten im christlichen Kontext ist wohl Vers 2,4; er ist zum locus classicus der paulinischen Rechtfertigungslehre geworden (vgl. Röm 1,17; Gal 3,10–13; Hebr 10,37): Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin, der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben. (Hab 2,4).
Was m. E. aber viel stärker im Mittelpunkt des Buches steht, ist die radikale Anklage Habakuks gegen Gewalt in ihren vielen schrecklichen Ausprägungen. Habakuk klagt massiv den Zustand an, den er beobachtet. – Erich Zenger hat die Habakuk-Dichtung zu Recht als eine „prophetische Theodizeedichtung“ bezeichnet.[4] – Wie kann Gott diese Gewalt zulassen? 2Wie lange, HERR, soll ich noch rufen / und du hörst nicht? Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt (hebr.: ḥamas)! / Aber du hilfst nicht. 3Warum lässt du mich die Macht des Bösen sehen / und siehst der Unterdrückung zu? Wohin ich blicke, sehe ich Misshandlung (hebr.: šod) und Gewalt (ḥamas), / erhebt sich Zwietracht und Streit. (Hab 1,2–3). Die Misshandlung und Gewalt, die Habakuk anprangert, ist nicht auf zwischenmenschliche Gewalt beschränkt, sondern es geht ihm dabei auch um die Gewalt, die die Menschen der Natur antun. Und um die Misshandlungen, die sie den Tieren antun. Ein Habakuk-Vers nämlich, in dem dies angeprangert wird, ist Vers 17 im zweiten Kapitel des Buches:
Denn die Gewalttat (ḥamas) am Libanon wird dich bedecken / und die Vernichtung (šod) der Tiere wird dich tödlich erschrecken; wegen der Bluttaten am Menschen und wegen der Gewalttaten (ḥamas) an Land, / Stadt und all ihren Bewohnern.
Dieser Vers, der als eine Art Schlüsselvers für das ganze Habakuk-Buch gelten kann, hat es in sich. Er enthält zwei der Leitwörter des Habakuk-Buches, die schon ganz am Anfang in Hab 1,3 eingeführt wurden: Misshandlung / Vernichtung und Gewalt. Letzteres kommt ganze sechsmal in dem kurzen Buch vor.[5] Mit der „Gewalttat des Libanon“, die die Adressat*innen erdrücken wird (so die alte Einheitsübersetzung), sind die Vergehen gemeint, die sowohl von den Chaldäer*innen als auch von den Judäer*innen an den Zedern des Libanon begangen worden sind.[6] Diese Eingriffe in die Natur sind als „Raub an der Pflanzung Gottes“[7] zu verstehen, denn mit Ps 104,16 war es JHWH/Gott selbst, der die „Zedern des Libanon“ gepflanzt hat.
Gewalt an der Natur als Mißachtung der Schöpfung Gottes
Das zweite ökologische Vergehen, das in Hab 2,17 zur Sprache kommt, besteht in der Misshandlung der Tiere: die Vernichtung / Misshandlung der Tiere wird dich tödlich erschrecken. Im Kontext von Hab 2 ist mit der „Misshandlung der Tiere“ vermutlich gemeint, dass sie als Lasttiere für den Transport der Zedernstämme über ihre Kräfte hinaus ausgebeutet wurden. Für diese Textstelle gibt es zwar verschiedene Versionen, doch ähneln sich alle in ihrer Radikalität. Die Elberfelder Bibel übersetzt in Anlehnung an die Septuaginta Hab 2,17 so: Denn die Gewalttat am Libanon wird dich bedecken und die Vernichtung der Tiere wird dich zerschmettern.
Prophetenbücher ökologisch lesen
Heißt das nicht, dass die Verbrechen, die die Menschen an der Natur und den Tieren begehen, auf sie selbst zurückfallen werden? Dass der Mensch irgendwann zur Rechenschaft gezogen wird und angesichts der Schuld, die er gegenüber der Pflanzen- und Tierwelt auf sich geladen hat, so erschrecken wird, dass es ihn zerschmettert? Denn dass die Tiere den Menschen zur Fürsorge anvertraut sind, ist bereits in den allerersten Versen der Bibel zu lesen (Gen 1,26–28).[8] Und wenn die Beziehung der Menschen zur Natur gestört ist, dann ist sie es auch zwischen Menschen und Gott, dem Schöpfer von allem. Die Wechselbeziehung, die zwischen Gott, Mensch und Natur besteht, wird auch an dem bei den Propheten häufig verwendeten Bild von der trauernden Natur deutlich: Das Land trauert, es schwindet dahin; der Libanon schämt sich, er welkt dahin (Jes 33,9).[9] Das Bild von der trauernden Natur gleicht bei Jesaja und anderen Propheten einem Symptom für die gestörte Beziehung der Menschen zu Gott.
Habakuk als Öko-Prophet
Das Buch Habakuk bekommt eine neue Relevanz, wenn die ökologische Dimension darin stärker wahrgenommen wird. Bereits sein Name kann darauf hindeuten, dass sich hinter Habakuk eine Art „Öko-Prophet“ verbirgt.[10] Und das ist keineswegs nebensächlich, denn die Namen der alttestamentlichen Propheten entsprechen in fast allen Fällen ihrem Programm, also der Kernbotschaft des Buches (woraufhin sich fragen lässt, wer eigentlich zuerst da war, der Name oder die Botschaft): So heißt Jesaja übersetzt: „Gerettet hat JHWH/Gott“, Jeremia bedeutet: „Erhaben ist JHWH/Gott“ oder Micha: „Wer ist wie Gott?“ usw. Im Falle Habakuks lässt sich die Wortbedeutung zwar nicht eindeutig klären, doch aufgrund von verwandten Begriffen im Akkadischen (ḫabbaqūqu bzw. ḫambaqūqu) und Arabischen (ḥabaq, „Basilienkraut“) ist davon auszugehen, dass es sich bei „Habakuk“ um einen Pflanzennamen handelt, evtl. um „Basilikum“. Dass der Prophet Habakuk also einen Pflanzennamen trägt, passt zu seiner ökologischen Botschaft: die Klage gegen die Gewalttaten, die die Menschen an der Pflanzen- und Tierwelt verüben. Zu dieser These passt übrigens auch, dass er der einzige unter den zwölf kleinen Propheten ist, für den es eine Bauern- und Wetterregel gibt: „Spielt die Muck um Habakuk, der Bauer nach dem Futter guck!“[11] Das heißt: Wenn es um den 15. Januar (= der Habakuk-Tag) herum windig ist, wird es kalt; die Tiere sind dann hungriger, der Bauer muss sich mehr als sonst um das Futter der Tiere kümmern.
Die Lektüre des „Öko-Propheten“ Habakuk kann ein guter Einstieg in die Fastenzeit sein. Seine existenzielle Botschaft aus dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung hat an Aktualität nichts eingebüßt. Zwar hatten weder Habakuk noch seine biblischen Prophetenkollegen die Klimakrise im Sinn, die uns vor Augen steht, doch wollten ihre leidenschaftlichen Worte die Menschen damals wachrütteln – und sie tun es auch heute noch. Sie spannen einen weiten Bogen in unsere Zeit hinein und sind anschlussfähig für die Fragen, die uns im Hier und Jetzt bewegen.
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Ich danke den Studierenden der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien für die anregenden Fragen und Diskussionen im Rahmen meiner Vorlesung „Prophetische Bücher / Prophetie“ im Wintersemester 2024/25, die mich zu diesem Text inspiriert haben.
[1] Alles zu den Inhalten und Materialien findet sich hier: https://www.ekd.de/luft-holen-sieben-wochen-ohne-panik-in-der-fastenzeit-87839.htm.
[2] Nähere Infos finden sich hier: https://klimafasten.de/.
[3] Mit den Chaldäern sind in den biblischen Texten die Babylonier gemeint, die den größten Einschnitt in der Geschichte des alten Israel verursacht haben: das Babylonische Exil im 6. Jh. v. Chr.
[4] Erich Zenger, Einleitung in das Alte Testament, 9. aktualisierte Auflage herausgegeben von Christian Frevel, Stuttgart 2016, 685.
[5] Noch dazu nur in den ersten beiden, als älter geltenden Kapiteln des Buches: in Hab 1,2.3.9; 2,8.17[2x].
[6] Vgl. dazu Heinz-Josef Fabry, Habakuk/Obadja (HThKAT), Freiburg im Breisgau 2018, 271: „Aus mesopotamischen (Jes 14,7f.; 37,24) und ägyptischen Verträgen (z. B. Wen-Amun [TGI 45.47]) ist die Lieferung großer Mengen an Zedernholz für die Tempelbauten gut bezeugt. Auch David und Salomo haben sich Zedernstämme kommen lassen, um den Tempel- und Palastbau in Jerusalem vollenden zu können (2 Sam 7,2; 1 Kön 6,16.20). […] Solche Taten werden auch explizit vom babylonischen König Nebukadnezar II. berichtet, so dass V 17 sich direkt darauf beziehen könnte.“
[7] Heinz-Josef Fabry, Habakuk/Obadja (HThKAT), Freiburg im Breisgau 2018, 271.
[8] Vgl. dazu Janine Eichler / Nadine Tramowsky, Art. Tierethik/Tiere, in: WiBiLex 2021, abrufbar unter: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/200870/.
[9] Vgl. auch Jer 12,4; 14,2; Hos 4,3; Joel 1,10-12 u. ö.
[10] Eine Theologie-Studentin an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Wien schlug vor, Habakuk als „Umweltschutz-Propheten“ zu bezeichnen. Vielen Dank an Barbara Bischof-Schönhacker für diese Idee!
[11] https://www.100-jaehriger-kalender.com/bauernregeln-wetter/.
Bild: Ronan Furuta auf Unsplash
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Marlen Bunzel ist Gastprofessorin für Biblische Theologie am Zentralinstitut für Katholische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin und Senior Research Fellow an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.