Eine ritualtheoretische Einordnung sinkender Gottesdienstteilnehmer*innenzahlen, basierend auf Beobachtungen, die Judith Hahn im Rahmen ihrer normtheoretischen Forschungen zum Zusammenhang von Ritualität und Normativität machte.
Zur Erkenntnis, dass gegenwärtig viele Katholik*innen, die aus der Kirche austreten, zum Kreis derer gehören, die die Soziologie „aktive Mitglieder“ nennt, gesellt sich die Feststellung, dass viele vormals regelmäßige Gottesdienstbesucher*innen ihre Praxis einstellen. Durch die Debatten geistert das Narrativ der Corona-Pandemie als „Motivationskillerin“. Diese Einschätzung mag nicht durchgängig falsch sein, aber sie bleibt an der Oberfläche.
Suche nach Ursachen
Denn die eigentliche Frage ist, warum die pandemiebedingte Unterbrechung von Gewohnheiten bei vielen Kirchengliedern zu einer veränderten Gottesdienstpraxis führte. Der Lockdown hat Menschen in vielfacher Weise gezwungen, bewährte Übungen für eine Weile zu unterlassen. Gewohnheiten, die ihnen lieb waren, haben sie umgehend wieder aufgenommen. Man kann praktizierenden Katholik*innen, die amtlichen Gottesdiensten fernbleiben, daher kaum unterstellen, sie seien einfach zu bequem geworden.
Kritische Außensicht
Vielmehr ist zu vermuten, dass die Versammlungsverbote ihnen die Möglichkeit gaben, ihre Praxis zu überdenken. Es bedurfte eines externen Impulses, um etablierte Verhaltensweisen zu verändern. Dies ist ein ritualtheoretisch nachvollziehbarer Vorgang: Während die ununterbrochenen Routinen eines durchritualisierten Alltags auf die intuitive Macht des Rituals bauen, um den Mitgliedern einer Ritualgemeinschaft reflexartige Partizipation abzuringen, versetzt ein Durchbrechen des rituellen Kreislaufs die Beteiligten in eine Außenperspektive. Ein Abstand zur eigenen Praxis erlaubt deren kritische Reflexion.
Partizipation als Affirmation
Um zu verstehen, warum viele Katholik*innen ihre aus der Distanz zum Ritual entwickelte Skepsis nun nicht mehr überwinden, muss man nachvollziehen, dass und wie Rituale ihre Teilnehmer*innen zur Affirmation und Reinstitutionalisierung der Ritualordnung einsetzen. Denn die Mitfeier eines Gottesdienstes ist immer zugleich Affirmation der liturgischen Normordnung – ob man dies will oder nicht.
Partizipation am Ritual ist niemals neutral. Sie ist Zustimmung zu der dem Ritual zugrundeliegenden Ordnung, insoweit der Mitvollzug des Ritus den Körper der Mitfeiernden zur Aussage von mit den rituellen Handlungen verknüpften Botschaften einsetzt. Rituelle Körper werden von Liturgien in Besitz genommen, um sie zu Trägern der amtlichen Bedeutungen zu machen, die der Vollzug der liturgischen Ordnung ihnen einschreibt.
Affirmation amtlicher Ekklesiologien
Zu diesen Botschaften zählen amtliche Ekklesiologien, die katholische Liturgien faktisch abbilden und normativ perpetuieren. Katholische Gottesdienste arbeiten mit einer hierarchischen Dualisierung der Feiergemeinde. Hier treffen Kleriker mit spezifisch ritueller Kompetenz auf Lai*innen, denen die liturgische Ordnung nur eine eingeschränkte Fähigkeit zuweist, das rituelle Geschehen aktiv mitzugestalten. Ein hierarchisierender Ritus ordnet die Feiergemeinde in einen aktiven und einen eher passiven Teil. Er legt fest, wer agiert und wer reagiert, wer sakramentale Symbole verwaltet und wer sie empfängt, wer prioritär und wer nachrangig berücksichtigt wird.
Umstände, die die hierarchische Ordnung zu internalisieren helfen – wie ein erhöhter Priestersitz oder liturgische Kleidung –, setzen kirchliche Hierarchien nachdrücklich ins Bild. Die beständige Botschaft, die von katholischen Gottesdiensten ausgeht, ist nicht allein die von der Erlösungstat Christi. Als „Feier in hierarchischer Ordnung“[1] ist die amtliche Liturgie auch kontinuierlicher Ausdruck einer bestimmten Vorstellung von Kirche. Sie ist performative Umsetzung der amtlichen Ekklesiologie.
Reinstitutionalisierung der Ordnung
Liturgien wirken als normative Kreisläufe: Sie erwachsen aus rituellen Ordnungsvorstellungen, da nur der ordnungsgemäße Vollzug die Liturgien konstituiert, und nutzen den Vollzug zugleich, um die sie konstituierende Normordnung zu reinstitutionalisieren. Indem die Ritualgemeinschaft gemäß der liturgischen Ordnung feiert, erzeugt sie nicht nur die Liturgie, sondern bekräftigt auch die Geltung der Normordnung, auf der diese aufruht.
Der Schlüssel zur Affirmation ist Partizipation: Die Teilnahme an einer Liturgie ist Einhaltung der liturgischen Normen. Sie fungiert als öffentliche Zustimmung zur Ordnung, die hierdurch erneut in Geltung gebracht wird. Hierbei ist es weitgehend unerheblich, ob die Teilnehmenden einen rituellen Akt innerlich mittragen oder nur äußerlich mittun. Um die liturgische Ordnung zu reaffirmieren, reicht es aus, dass sie die vorgesehenen Handlungen vollziehen. Durch die Ausführung der vorgeschriebenen Akte werden sie zu Träger*innen der liturgischen Ordnung.
Symbolische Unterwerfung
Dass die innere Haltung der Beteiligten diesbezüglich im Wesentlichen unerheblich ist, erläutern Ritualtheoretiker*innen wie Roy Rappaport und Catherine Bell am Beispiel des Niederkniens.[2] Kniende werden – unabhängig von ihrer inneren Haltung – durch den Vollzug einer Kniebeuge zu einem Symbol der Unterwerfung. Das Niederknien als Symbol der Ergebung erzeugt kniende Körper als Symbole der Unterwerfung, gleichgültig ob die Knienden mit ihrer Geste eine Haltung der Ergebung ausdrücken wollen oder nicht. Indem der Akt des Kniens den Körper der Knienden in Gebrauch nimmt, werden sie zu dem, was der Akt besagt, ungeachtet dessen, ob sie diese Aussage tätigen wollen. Auf die dem Akt konventionell zugeschriebene Bedeutung haben die Knienden keinen Einfluss: Wer kniet, symbolisiert Unterwerfung.
Dieser Zusammenhang von Partizipation und Affirmation, der sich am Gestus des Kniens darstellen lässt, trifft genauso auf komplexere Liturgien zu. Wer einen Gottesdienst mitfeiert, signalisiert durch das Einlassen auf die diversen symbolischen Handlungen, Personenkonstellationen und Umstände Zustimmung. Mittun ist Mittragen der Ordnung und Beitrag zu ihrer Reinstitutionalisierung.
Zweckloser Widerstand
Daran ändert eine kritische innere Haltung nichts. Die Mitfeier eines katholischen Gottesdienstes signalisiert Übereinstimmung mit den amtlichen Vorstellungen von Kirche, und dies unabhängig davon, ob die Mitfeiernden diese Vorstellungen bejahen oder bezweifeln. In den Gottesdiensten konkretisiert sich so eine Wirklichkeit, in der wenige leiten und die meisten folgen, in der einige lehren und andere lernen, in der wenige geben und viele empfangen. Differenzierungen und Hierarchisierungen wie die liturgisch inszenierte Geschlechterordnung, die im Alltagsleben für viele intolerabel wäre, werden im rituellen Zusammenhang durch die beständige Praxis der Ritualgemeinschaft fortlaufend bestätigt.
Wer katholische Gottesdienste mitfeiert, wird daher – unabhängig von der eigenen Bereitschaft, amtliche Kirchenbilder mitzutragen, – zu einer Stütze der amtskirchlichen Ekklesiologie. Wie Rappaport und Bell in Bezug auf den Gestus des Kniens bemerkten, dass dieser den Körper der Knienden als symbolischen Ausdruck von Unterwerfung in Gebrauch nimmt, so gilt, dass man durch die Mitfeier eines katholischen Gottesdienstes sich selbst zum Einschreibemedium amtlicher Ekklesiologien macht. Das Medium ist von der Botschaft nicht zu trennen, wie die Medientheorie betont. Wer mit seinem Körper liturgische Riten vollzieht, kann nicht verhindern, dass dieser durch hoheitliche Bedeutungszuschreibungen zum Träger amtlicher Botschaften wird.
Radikaler Selbstausschluss
Wer nicht an der permanenten Reinstitutionalisierung dieser Vorstellungen mitwirken will, hat aus ritualtheoretischer Sicht daher nur eine einzige Möglichkeit, um der kirchlichen Ordnung Affirmation zu versagen. Diese liegt darin, vom Gottesdienstbesuch Abstand zu nehmen, um sich nicht selbst zum Medium der Zustimmung zu machen. Da Liturgien keine Möglichkeiten vorhalten, zugleich teilzunehmen und der rituellen Ordnung Anerkennung zu entziehen, wie Bell beobachtete, bleibt grundlegend dissentierenden Teilnehmer*innen nur die Möglichkeit eines radikalen Selbstausschlusses.
Dauerhafter Entzug
Um die sinkende Gottesdienstteilnehmer*innenzahl engagierter Katholik*innen besser zu verstehen, lohnt es sich daher, sich nicht mit vorschnellen Einordnungen zufriedenzugeben, denn weder „Kirchenkrise“ noch „Coronakrise“ sind zureichende Erklärungen. Ein vertieftes Studium des Phänomens im Licht der Ritualtheorie zeigt, dass diese Krisen eine Rolle spielen, sich aber nicht oberflächlich als allgemeine Entrüstung über den Zustand der Kirche oder mangelnde persönliche Motivation deuten lassen. Vielmehr darf man vielen, die fernbleiben, weder heiße Empörung noch laues Phlegma unterstellen, sondern darf vermuten, dass sie, bewusst oder unbewusst, die Erkenntnis eint, dass Partizipation Affirmation ist. Katholik*innen, bei denen sich durch den kalten Liturgieentzug des Lockdowns das Unbehagen darüber verstärkt hat, dass ihre Präsenz in amtlichen Gottesdiensten sie zu Symbolen einer sie befremdenden Ordnung macht, wählen mit einem dauerhaften Entzug das wirksamste Mittel, um den eigenen Körper nicht länger in den Kreislauf der Reinstitutionalisierung amtlicher Kirchenvorstellungen einzubinden.
Judith Hahn ist Professorin für Kirchenrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ihr hier gekürzt präsentierter Beitrag entstand anlässlich der Einladung zur Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft katholischer Liturgikdozent*innen (AKL) 2022 und ist ausführlicher im demnächst erscheinenden Tagungsband nachlesbar.
Autorinnenbild: Antje Kern
Beitragsbild: Andrew Seaman, unsplash.com
[1] Norbert Lüdecke, Liturgie als inszenierte Ekklesiologie, 3. November 2019, https://theosalon.blogspot.com/2019/11/liturgie-als-inszenierte-ekklesiologie.html (17.11.2022).
[2] Vgl. Roy A. Rappaport, Ecology, Meaning, and Religion, Richmond/CA 1979, 200; Catherine Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, Oxford 2009, 100.