Das Thema Migration bewegt Deutschland auch am Tag der Deutschen Einheit. Udo Lehmann entwirft den Gedanken kollektiver Autorschaft als Möglichkeit, Zugehörigkeit jenseits scharfkantiger Grenzlogik zu denken.
Grenzen setzen
In Situationen, in denen sich Anspruchs- und Abwehrrechte gegenüberstehen, plädiert Julian Nida-Rümelin in seiner „Ethik der Migration“ für das Recht, Grenzen zu setzen: Darf etwa jemand verpflichtet werden, die eigene Wohnung mit einem Obdachlosen, über eine unmittelbare Notabwehr hinaus, temporär zu teilen? Nein, meint der Autor und begründet dies richtigerweise vor allem mit Selbstbestimmungsrecht und Interventionsverbot. Nida-Rümelin ist jedoch auch davon überzeugt, dass die Analogie dieses und anderer individualethischer Beispiele zur Migrationsdebatte auf der Hand liegt: „Es gehört zum kollektiven Selbstbestimmungsrecht einer Bürgerschaft, die sich in einem Staat organisiert hat, zu entscheiden, wie sie leben möchte, mit wem sie leben möchte, ob sie kulturelle, soziale und ökonomische Veränderung akzeptiert oder nicht.“ (163)
Lassen sich individualethische Verhältnisse auf die Frage nach der Legitimität von Grenzen übertragen?
Zwar hat Nida-Rümelin darin recht, dass ein Abwehrrecht einem Anspruchsrecht, prima facie, normativ vorzuordnen ist. Fraglich aber ist, ob sich individualethische Verhältnisse eins zu eins auf die Frage nach der Legitimität von Grenzen übertragen und dann im Kontext der politisch organisierten Hilfe für MigrantInnen verdichten lassen. Selbst wenn Prinzipien, wie etwa Selbstbestimmung, formal gleichbleiben, müssen sie material unter veränderten Handlungsstrukturen und unter wechselnden individuellen und kollektiven AkteurInnen spezifiziert werden. Dies zeigt sich bereits an den unterschiedlichen Betroffenheitstiefen: Einerseits geht es um den unmittelbaren persönlichen Lebensraum, die geschützte Wohnung, andererseits etwa um Steuergelder zur Errichtung von Flüchtlingsunterkünften. Es kann durchaus eine kollektive, an den Staat adressierte völkerrechtliche und humanitäre Pflicht bestehen, aus der keine unmittelbare individuelle Pflicht einer dem Staat zugehörigen Einzelperson hervorgeht. Ein Wohnungsinhaber kann aus guten Gründen die Aufnahme von Flüchtlingen in seine Wohnung ablehnen und dennoch die staatlich organisierte Hilfe für Fluchtmigranten befürworten.
Ist kollektive Autorschaft auf Grenzen angewiesen?
Kollektive Autorschaft
Auch wenn man die Analogien nicht gänzlich teilen möchte, so rücken die Überlegungen Nida-Rümelins doch den nach wie vor großen Einfluss des Nationalstaates als Akteur in politischen und moralischen Fragen in den Fokus. Interessant ist vor allem seine Aussage über kollektive Autorschaft, die Ausdruck von kollektiver Selbstbestimmung sei: Kollektive Autorschaft „in Gestalt politischer Institutionen, Staaten, kultureller und anders verfasster Gemeinschaften“ (165) ist nach Nida-Rümelin nicht ohne Grenzen denkbar: „Ohne Struktur, ohne akzeptierte und legitimierte Grenzen keine Autorschaft, keine Zurechenbarkeit, keine Verantwortlichkeit, kein Respekt und keine Würde.“ (165) Jedoch erstaunt die Selbstverständlichkeit, mit der Nida-Rümelin die verschiedenen Akteurebenen, das Individuelle und das Kollektive nebeneinanderstellt und die Funktionslogik sozial-struktureller Entitäten mit ethischen Kategorien vermischt.
Jeder und jede kann Teil kollektiver Autorschaft sein.
Im Fall kollektiver Autorschaft wird von den AutorInnen oder entsprechenden Gruppen niemals ein unbeschriebenes, leeres Buch aufgeschlagen. Um im Bild zu bleiben: aus den Erzählungen der Vergangenheit werden Maßstäbe für die Gegenwart und Zukunft gewonnen. Kollektive Autorschaft wäre dann tatsächlich nicht beliebig, sondern immer auch pfadabhängig. Sie bliebe an eine konkrete Erzählgemeinschaft angedockt, ohne aber auf diese begrenzt zu sein. Jeder und jede, die sich in der inhaltlichen Grammatik einer solchen Erzählgemeinschaft wiederfindet, könnte dazugehören. Eine kollektive Autorschaft am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland würde sich dann u. a. an den Erzählungen des letzten Jahrhunderts mit seinen zahlreichen Kriegen, Kulturbrüchen und menschenverachtenden Ideologien orientieren. Die zu einer kollektiven Autorschaft gehörenden Menschen würden sich Lern- und Erzählerfahrungen zu eigen machen, wie sie sich z. B. im Grundgesetz, in Gestalt von Gleichheit, Gewissens-, Glaubens- und Meinungsfreiheit äußern.
Kollektive Autorschaft braucht keine starren Grenzen
Eine so gedachte kollektive Autorschaft muss sich nicht entlang der scharfen Kanten einer Grenzlogik definieren. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass dies zu undifferenziertem Drinnen-Draußen-Denken einlädt, welches sich PopulistInnen und NationalistInnen zu eigen machen. Die Grenzen und Zuordnungen sind zudem keineswegs eindeutig. Ein/e bundesdeutsche/r BürgerIn oder entsprechende Bürgergruppierungen, können sich einem syrischen Flüchtling, der sich etwa für die Rechte von LGBTQ-Menschen einsetzt, in der kollektiven Autorschaft mehr verbunden fühlen als einem deutschen Rechtspopulisten, der als Anhänger der AfD, die Pressefreiheit in Frage stellt.
Wie lässt sich entscheiden, ob kollektive Autorschaft legitim ist?
Hier kommt allerdings ein normatives Kriterium zur Sprache, welches geklärt werden muss. Wie lässt sich entscheiden, ab wann Autorschaft illegitim ist, wann sie also aus dem verbindlichen Rahmen der Grunderzählung herausfällt? Diese Entscheidung kommt im deutschen Institutionsgefüge (welches tatsächlich, wie Nida-Rümelin argumentiert, notwendig an Grenzen gebunden ist) unabhängigen Gerichten, vor allem dem Verfassungsgericht, zu. Gerade deshalb ist eine Schwächung von Gewaltenteilung und unabhängiger Gerichtsbarkeit, wie derzeit in Polen, Ungarn oder den USA zu beobachten, höchst besorgniserregend. Die Idee der kollektiven Autorschaft inspiriert auch für eine Vorstellung von fluider Vergesellschaftung, die über formale Grenzen hinausgeht. Als Ausgangspunkt der Zugehörigkeit würde dann die Bereitschaft gelten, als Einzelne/r oder als (kulturelle, religiöse, politische, zivilgesellschaftliche usw.) Gruppe an der kollektiven Autorschaft auf der Grundlage des grundgesetzlichen Erzählrahmens mitzuwirken und die entsprechenden Institutionen zu fördern oder mindestens eine solche Autorschaft zu respektieren.
Entscheidend ist, welche Grenzregime gelten
In Nida-Rümelins Argumentation tritt ein Dilemma zutage, welches immer wieder auftritt, wenn über die Fragen von Nationalstaat, Staatenbünden sowie deren Grenzen und gleichzeitig der humanitären Verpflichtung gegenüber Menschen, die jenseits dieser Grenzen in Not sind, nachgedacht wird. Ich stimme Nida-Rümelin darin zu, dass Grenzen zur Aufrechterhaltung von Zurechenbarkeit, Verantwortlichkeit, funktionierenden Institutionen usw. notwendig sind. Es sollte jedoch stärker zwischen den sozialstrukturellen Bedingungen der Möglichkeit von Staatlichkeit und den Voraussetzungen der Zugehörigkeit sowie ethischen Verpflichtungen auf unterschiedlichen normativen Ebenen differenziert werden. Die entscheidende Frage ist weniger, ob Grenzen notwendig sind oder nicht, sondern vielmehr, welche Grenzregime gelten. Die Reproduktion von Institutionen sowie die Entwicklung und Aufrechterhaltung staatlicher Strukturen und Identität sind heute mehr denn je eingebunden in eine entgrenzte Welt der digitalen Gleichzeitigkeit. Die kollektive Autorschaft lebt vom Hin und Her diffundierender Ideen, eingebrachter Korrekturen diesseits und jenseits von Grenzen, Neuvermessungen etablierter Institutionen durch exogenen und endogenen Kultur- und Wertewandel usw.
Die von Nida-Rümelin angeregte Idee der kollektiven Autorschaft bietet daher einen spannenden Ausgangspunkt zur weiteren Klärung von Vorstellungen der Zugehörigkeit und lässt allzu scharfkantige Grenzlogik hinter sich.
Autor: Prof. Dr. Udo Lehmann ist seit Juli 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Sozialethik und Praktische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität des Saarlandes.
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