Die Kolumne für die kommenden Tage 19
Es ist Freitagabend, 3. April 2020. Mir gehen noch die guten Wünsche aus dem Büro nach: Bleib gesund. Ich hoffe, wir sehen uns Montag. Genieße die Sonne am Wochenende. Diese Worte klingen heute ernsthafter. Niemand geht ohne wirklichen Abschied. Die Blicke sind länger und zeigen die Vielschichtigkeit dieser Tage: Ungewissheit und Widerstand, Traurigkeit und Angst, aber auch Humor und Verbundenheit.
Zuhause finde ich ein Päckchen auf der Treppe. Und im Briefkasten einen Zettel von DHL:
„Im Treppenhaus Sie haben 2 packet.“ Offensichtlich musste kein Nachbar unterschreiben, obwohl sie fast alle da sind. Der Austräger durfte es einfach ablegen. Ein bisschen wie früher. So unkompliziert. Ich bin gerührt von diesem Brieflein eines mir völlig fremden Menschen.
Dann schickt eine Freundin eine App: „Wenn du zu Hause bist, bring dein Fahrrad heute noch. Unser Sohn kann es reparieren und morgen in seinem Geschäft evtl. Ersatzteile holen.“
Innerhalb von einer Stunde erlebe ich drei Momente, in denen ich so viel Offenheit, Zugewandtheit und Aufmerksamkeit erlebe, dass ich schlucke. Ist das immer so? Halte ich das sonst einfach für normal? Ich packe das Päckchen aus und finde darin eine Waschkugel und selbstgebackene Süßigkeiten von genau der Freundin, mit der ich eigentlich die Kar- und Ostertage in einer Gemeinschaft verbringen wollte. Am Palmsonntag wollten wir beginnen mit einer intensiven gemeinschaftlich erlebten Woche. Aber seit den Kontakteinschränkungen ist klar, wir werden nicht reisen können. Ostern fällt aus, stattdessen: Hygieneregeln und allein sein.
Ich war sehr enttäuscht, als mir wirklich bewusst wurde, ich kann weder an „meinen Oster-ort“ fahren, noch eine Freundin zu mir einladen. Ich dachte über Alternativen nach: Was könnte ich tun? Wie könnte ich diese Tage gestalten, noch dazu allein? Ich könnte in der Osternacht am öffentlichen Grillplatz ein Osterfeuer anzünden und alle, die das möchten, kommen in Abständen vorbei, legen nach, zünden ihre Osterkerzen an … Ich könnte einen Karfreitagsweg mit Impulsen gestalten, für mich und andere in gebührendem Abstand dazu einladen, ich könnte Brot backen und den Nachbarn schenken. …
Ich suchte im Internet nach kreativen Angeboten von Diözesen und Gemeinden, um mich inspirieren zu lassen und war fassungslos. Neben den Liveübertragungen von Gottesdiensten erschien es mir, als gäbe es nur Angebote für Familien und Paare. Als Single, als Frau Mitte der 40iger ohne Kinder und ohne Lebenspartner, einfach nur für mich allein, fand ich nichts. Wieder mal nichts.
Es blieb nur die gestreamte Liturgie. Aber das ist nicht meine Welt. Tagelang wartete ich darauf, dass ein Bischof öffentlich verkündete: Lest den Abendmahlsbericht, teilt Brot und Wein, erinnert euch und entdeckt darin Gottes Gegenwart.
Ein Bibelgespräch (über Zoom) mit Freundinnen zum Evangelium vom letzten Sonntag unterbrach meine hungrige Suche. Als Jesus nach dem Ort des Grabes von Lazarus fragt, sagen sie ihm: „Herr, komm und sieh“ (Joh 11,34). Eine Freundin interpretierte das so: „Normalerweise sagt Jesus zu anderen: Komm und sieh. Hier ist es andersrum. Das heißt doch für heute: Wir laden Jesus zu uns ein. In unser Haus und an unsere Gräber und in unsere Wohnungen. Das ist 2020.“
Mit diesem Gespräch veränderte sich meine Suche nach Ersatz für die Kar- und Osterliturgie.
Jetzt ist eine weitere Corona-woche vergangen. Ich werde immer feinfühliger und gleichzeitig ruhiger. Wie absurd war meine Suche nach Ersatz für etwas, das man nicht ersetzen kann: Die Gemeinschaft und das liturgische Eintauchen in das Geheimnis von Tod und Leben.
Meine Karwoche hat schon längst begonnen. Mein Suchen gehört zu Ostern 2020.
Heute habe ich eine Entscheidung getroffen: Ich bin einfach zu Hause. Ich mache einfach nichts extra. Ich plane nichts zusätzlich. Ich bleibe bei dem, was ich sonst auch mache: Ich bete und lese die Tagestexte aus der Bibel. Vielleicht nehme ich mir mehr Zeit dafür. Vielleicht auch nicht.
Ich werde versuchen, die entstehende Leere nicht mit Aktivität zu verplanen. Ich lasse mich von meiner Sehnsucht führen und von den zufälligen Begegnungen auf der Straße, beim Bäcker, am Balkon und im Treppenhaus. Und ich werde das Aufblühen der Natur weiter beobachten.
Ich kann dabei nichts falsch machen. Das einzige was geschehen kann, ich verpasse ein Jahr in meinem Leben das ritualisierte Karfreitagsgefühl und die ebenso ritualisierte Osterfreude. Das macht nichts. Im nächsten Jahr wird das alles wieder stattfinden. Wenn ich dann will, bin ich wieder dabei.
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Dr. Katrin Brockmöller, Direktorin im Kath. Bibelwerk e.V.
Die Bibeltexte der Kar- und Ostertage mit Leseimpulsen: https://www.bibelwerk.de/Verein/was-wir-bieten/sonntagslesungen/lesungen-fuer-die-zeit-in-der-corona-krise
Bildrechte: Katrin Brockmöller