Ich sehne mich nach einem neuen Anfang der Kirche, einem galiläischen Frühling. Und diese Sehnsucht werde ich mir um Himmels willen nicht ausreden lassen. Von Peter Neuhaus.
Thomas Mann erzählt in den Buddenbrooks eine bewegende Szene: Eines Nachmittags blättert der letzte Spross der Familie, Hanno (Johann), in der Familienchronik. Lange Namenskolonnen und prägende Familienereignisse der Vergangenheit ziehen an ihm vorüber. Hanno liest gebannt all diese Geschichten, nimmt dann ein Lineal zur Hand und macht quer über die letzte Seite einen Strich. Sein Vater, Senator Thomas Buddenbrook, gibt seinem Sohn eine schallende Ohrfeige und fragt ihn empört: „Was ist das? Woher kommt das? Hast du das getan?“ Hanno weicht erschrocken zurück und antwortet verängstigt: „Ich glaubte … ich glaubte … es käme nichts mehr.“
Gilt das auch für „meine“ Kirche? Kommt nichts mehr? Ich kann und will mich damit nicht abfinden. Diejenigen, die leichtfertig verkünden, dass die Kirche überflüssig sei, da man zum Beten schließlich auch in den Wald gehen könne, haben mich noch nie beeindruckt. Im Wald kann es wohl schön sein. Aber wenn es ernst wird, reicht der Wald nicht aus. Wenn die Fundamente unseres Lebens erzittern, kommen wir mit bloßer Naturromantik und unserem modernen „Gewusst wie“ nicht sehr weit.
Das Ende altvertrauter Kirchlichkeit könnte ein neuer Anfang sein.
Ich gestehe: Ich vermisse „meine“ Kirche. Vielleicht ist dieses ‚Vermissungswissen‘ (J.B. Metz) wichtig, um zu begreifen, was auf dem Spiel steht. Vielleicht fliegt uns die Kirche ja gerade um die Ohren, damit der darin verschüttete Glaube wieder auferstehen kann zu neuem Leben. Das Ende altvertrauter Kirchlichkeit wäre dann zugleich ein neuer Anfang, ein neuer „galiläischer Frühling“.
Zu den Anfängen
Der noch immer uneingeholte Dietrich Bonhoeffer hatte angesichts der Katastrophe des Hitler-Faschismus das Ende aller uns bekannten Kirchlichkeit eindringlich beschrieben:
„Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen … Bis du (d.i. der Neffe Bonhoeffers, P.N.) groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein.“[1]
Der „Anfang“ im Sinne Bonhoeffers ist umfassend, radikal, unerbittlich. Und nur mit der gesammelten Autorität dieses von den Nazis ermordeten Glaubenszeugen ist er überhaupt zitierbar:
„Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend…“[2]
Das Christentum der Zukunft ist für Bonhoeffer von „tiefer Diesseitigkeit“ bestimmt. Christen leben nicht in irgendeiner Sonderwelt, sondern gelten als „ganz zur Welt Zugehörige“. Und dann fährt Bonhoeffer mit einem folgenschweren Hinweis fort: „So ist es alttestamentlich und in diesem Sinne lesen wir das N.T. noch viel zu wenig vom Alten her.“[3] Es lohnt sich, diesem Verweis auf die jüdische Tiefengeschichte von Christentum und Kirche zu folgen.
„Kirche“ vom Ersten Testament her
Was bedeutet „Kirche“ vom Ersten Testament her? Die Frage klingt ungewöhnlich, ist sie aber nicht. Israel hat reichlich Erfahrung mit dem Scheitern etablierter „Kirchlichkeit“: Seit dem zehnten vorchristlichen Jahrhundert versammelte sich das Volk der Juden im von König Salomo erbauten Tempel von Jerusalem, dem religiösen und zugleich nationalen Zentrum Israels.
Vierhundert Jahre später (586 v.C.) kam es zur Katastrophe: Das babylonische Weltreich eroberte den Judenstaat und deportierte fast die gesamte Bevölkerung ins Exil. Das einst von Moses aus ägyptischer Knechtschaft ins Gelobte Land geführte Gottesvolk drohte wie ein Kreidestrich von der Tafel der Weltgeschichte hinweggewischt zu werden.
Kirchenkrise – Gotteskrise
Und Gott? Gott schwieg, schwieg so unbarmherzig wie nie. Die „Kirchenkrise“ Israels erreicht ihren Tiefpunkt dort, wo sie zur „Gotteskrise“ eskaliert. Mit den zusammenbrechenden Strukturen organisierter Religion droht auch der Glaube an Gott selbst zu kollabieren. So sehr waren „Kirche“ und Gottesglaube in all den Jahrhunderten in eins zusammengewachsen, dass mit dem einen nun auch das andere zu entschwinden droht.
Jeremia setzt ein prophetisches Veto: Gott selbst ist nicht erledigt!
Dagegen setzt Jeremia sein prophetisches Veto: Bei allem Stolz auf Israel und seine einstige Größe, bei aller Liebe zu Jerusalem, wo Gott selbst Wohnung genommen hatte, bei aller Ehrfurcht vor dem nun in Schutt und Asche liegenden Tempel galt es eines doch festzuhalten gegen die kollektive Depression: Gott selbst war damit nicht erledigt!
Mochte Gott im Pulverdampf des Weltgeschehens bis zur Unkenntlichkeit verdüstert sein, für Jeremia steht fest: Es ist immer „nur“ unser Blick, der nichts mehr sieht, doch nicht Gott selbst, und also auch nicht unser Glaube:
„Denn wer sind wir, wenn wir nicht gläubig sind? Nicht ward uns wie andern Völkern Scholle gegeben, daran zu kleben, Heimat, darin zu verharren, nicht die Rast, darin unser Herz fett werde! … Gott ist unsere Heimat in der Zeit …“[4]
Jesus – Kind der Synagoge
Nationaler Eigenständigkeit beraubt und religiös ohne Obdach, ist Israel ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. An die Stelle des Tempels tritt die Synagoge. Sie reicht an die steinerne Wucht des imposanten Gotteshauses nie heran, will das auch gar nicht, sondern ist eher ein Provisorium, ein Zelt in der Zeit. In der Synagoge versammelt sich die Gemeinde, um zu lesen, zu lernen und zu beten. Die Achse, um die sich hier alles dreht, ist das Wort Gottes, die Thora. Sie ist die uns zugewandte, vernehmbare Seite Gottes. Sie allein ist Israels Heimat im Exil, ihr „portatives Vaterland“, wie Heinrich Heine präzise formulierte.
Jeschua ben Joseph aus Nazareth ist ein Kind der synagogalen Tradition. Nach Ausweis der Evangelien ist er ständig unterwegs, zumeist an der Peripherie. Nur am Ende seines Lebens geht er ins Zentrum, nach Jerusalem, und besucht dort auch den zweiten Tempel, wo er sich sogleich eine Menge Ärger einhandelt.
Das Programm Jesu ist elementar. Es ist klar und verständlich und bedarf keiner Interpretation. Es bedarf einzig einer Entscheidung.
Seine Kernbotschaft – seine „Theologie“ – umfasst gerade einmal zwei Sätze: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,14) Seine „theologische Ethik“ ist ebenfalls kurz und bündig: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ (Mk 12,28-31)
Wenn es hart auf hart kommt, kann diese Richtschnur auch den Strick bedeuten: „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ (Mk 8,34) Das Programm Jesu ist elementar. Es ist klar und verständlich und bedarf keiner Interpretation. Es bedarf einzig einer Entscheidung: Gehe ich mit – Ja oder Nein? Alles andere ist uninteressant.
Kirche in der Spur Israels
Jesus gründet kein Unternehmen und hat keinen Businessplan. Er schert sich nicht um Strategie und Marketing. Sein Organigramm sieht einzig 12 Leute vor, die das ganze ursprünglich aus 12 Stämmen bestehende Volk Israel symbolisch abbilden. Diese Zwölf zeichnen sich vor allem durch das aus, was sie beiseitelegen sollen, wenn sie sich in seiner Spur bewegen wollen: „Er rief die Zwölf zu sich und sandte sie aus, jeweils zwei zusammen. Er (…) gebot ihnen, außer einem Wanderstab nichts auf den Weg mitzunehmen, kein Brot, keine Vorratstasche, kein Geld im Gürtel, kein zweites Hemd und an den Füßen nur Sandalen.“ (Mk 6,6-9)
Die „Kirche“ Jesu ist arm. Hierarchien sind Jesus zuwider.
Die „Kirche“ Jesu ist arm. Reichtum steht dem Heil im Weg: „Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen.“ (Mk 10,23)
Hierarchien sind Jesus regelrecht zuwider: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (Mk 9,35) Proviant dieser Kirche sind Brot und Wein. Und ihre einzige „Bestandsgarantie“ ist der Heilige Geist (Apg 1,8).
Die Jesusgemeinschaft pilgert durch die Zeit – und scheitert am Ende jämmerlich.
Mit der Jesusbewegung ist es also wie immer im biblischen Israel: Mit nichts als dem Wort Gottes im Ohr und dem Reich Gottes vor Augen pilgert die Jesusgemeinschaft durch die Zeit – und scheitert am Ende jämmerlich: Statt des Gottesreiches erhebt sich über Jerusalem ein Kreuz mehr. Statt eines neuen Königs gibt es noch einen unter die Räder der Macht Geratenen mehr. Statt eines erneuerten Gottesvolkes trauern ein paar Getreue mehr. Die Enttäuschung ist riesig, die Angst nicht minder, und obendrein scheinbar kein Gott, nirgends.
„Er geht euch voraus nach Galiläa …“ (Mk 16,6f) – dorthin, wo alles seinen Anfang nahm …
Und wieder – wie schon zu jeremianischer Zeit – ergeht ein Einspruch von der gegenüberliegenden Seite menschlicher Möglichkeiten: „Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wohin man ihn gelegt hat. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa …“ (Mk 16,6f) – dorthin, wo alles seinen Anfang nahm …
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Peter Neuhaus, Dr. phil., Theologischer Autor, Redenschreiber und Krankenpfleger. Zuletzt erschienen: Kirchenschmelze. Sehnsucht nach einem galiläischen Frühling, Paderborn 2020.
Bild: pixabay
[1] Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (Hg. Eberhard Bethge, 3. Aufl. der Neuausgabe von 1970, München 1985), 328.
[2] Ebd., 415.
[3] Ebd., 308.
[4] Zweig, St., Jeremias (in: ders., Tersites – Jeremias. Zwei Dramen), Frankfurt a.M. 1982,311f.