Kaum etwas wird derzeit so ersehnt, wie gesellschaftliche Verständigung. Die Theologin und Exegetin Carmen Diller geht diesem Wunsch nach gegenseitigem Verstehen in seinen biblischen Ursprüngen nach. Solidarisches Denken wird zum entscheidenden Element der Krisenbewältigung.
Der polnische Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof (1859-1917) hatte einen Traum: Er sehnte sich nach Völkerverständigung, religiöser Toleranz und einem friedlichen Miteinander aller Menschen. Der Schlüssel dazu war für ihn – der sich von früher Kindheit in der Stadt Białystok zwischen mehreren Kulturen und in mehreren Sprachen zurechtfinden musste – eine einheitliche Sprache. Er wollte diesen Traum auf ungewöhnliche Weise verwirklichen: Er erfand die Sprache Esperanto.
Der Wunsch nach einer gemeinsamen Sprache
In den letzten Wochen und Monaten wurde auch in mir der Wunsch nach einer einheitlichen Sprache immer stärker. Nicht selten entfuhr mir beim Schauen der Nachrichten ein Stoßseufzer: Können die nicht endlich mal mit einer Stimme sprechen? Meinungen über Meinungen, Debatten, Kontroversen, Konflikte bis hin zu skurrilsten Verschwörungstheorien. Es ging um Klimaschutz, den Zusammenhalt in Europa, die Rentenreform, bewaffnete Konflikte im Nahen Osten, die Flüchtlingskrise … und schließlich um die richtige Strategie gegen Corona. Als Otto-Normal-Verbraucher fühlt man sich dieser Meinungsvielfalt irgendwie hilflos ausgeliefert. Ohne das nötige Vor- und Fachwissen ist es nahezu unmöglich, zu entscheiden, was wahr und richtig, und was falsch ist.
Hat der Turmbau alles vermasselt?
In mir wuchs die Sehnsucht nach den „paradiesischen Verhältnissen“, wie sie vor dem Turmbau zu Babel (Gen 11,1-9) geherrscht haben müssen: „Die ganze Erde hatte eine Sprache und ein und dieselben Worte“ (Gen 11,1). Das wäre eine so große Entlastung in all dem Durcheinander! Und ich ertappte mich, wie ich so manches Mal dachte: „Was mussten die auch diesen dämlichen Turm bauen!“ Ich gebe zu, eine recht unwissenschaftliche und fälschlich historisierende Sichtweise, die der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel in keinster Weise gerecht wird.
Entscheidend ist die Motivation
Denn nicht der Turmbau an sich und die dafür notwendige Zusammenarbeit der Menschen sind in dieser Geschichte das Problem. Archäologen haben im Vorderen Orient zahlreiche befestigte Städte mit Türmen aus biblischer und vorbiblischer Zeit ausgegraben wie etwa Jericho, dessen ältesten Schichten bis in die Steinzeit zurückreichen. Das war also etwas völlig Normales und Unanstößiges und verlangte von der jeweiligen Bevölkerung ein hohes Maß an Organisation und Zusammenarbeit. Problematisch in der Erzählung vom Turmbau zu Babel ist die Motivation, die die Menschen zu ihrem Tun veranlasst: Sie wollen den Turm bis in den Himmel bauen, um sich einen großen Namen zu machen (Gen 11,4). Kurzum: Sie wollen angeben.
Alles ein Kräftemessen mit Gott?
Aber: Wem wollen sie eigentlich imponieren? Gemäß dem Erzählduktus ist die Menschheit – alles Nachfahren von Noach und seiner Familie – noch nicht in verschiedene Völker aufgespalten. Somit sind alle Menschen am Turmbau beteiligt! Es gibt nur ein einziges Gegenüber, mit dem sie sich messen können: Gott! Sie wollen mit dem Bau des Turms bis in den Himmel hinein in die göttliche Sphäre vordringen und auf diese Weise mit Gott auf Augenhöhe kommen. Diese Absicht zwingt Gott zum Handeln. Er kann nicht zulassen, dass den Menschen nichts mehr unerreichbar ist (Gen 11,6); dass sie allmächtig werden; dass sie werden wie er.
Das göttliche Eingreifen erscheint auf den ersten Blick wie eine Strafe, verhängt von einem eifersüchtigen Gott, der niemanden neben sich duldet.
Die Welt bewahren
Doch das trifft nicht den Fokus der Erzählung. Ähnlich wie in den voranstehenden Geschichten im Buch Genesis / 1. Mose geht es auch hier darum,
1. die Welt so zu bewahren, wie Gott sie geschaffen hat, einschließlich der Trennung zwischen Göttlichem und Irdischem; denn alles, was Gott bei der Schöpfung hervorgebracht hat, war „sehr gut“ (Gen 1,31).
2. als Ätiologie zu erklären, warum in einer Welt, die von Gott als sehr gut bewertet wurde, Umstände existieren, die dem Menschen das Leben schwer machen: Warum gibt es so viele verschiedene Sprachen? Warum gibt es verschiedene Völker? Und warum sind diese über die ganze Erde verstreut?
Eine biblische Chiffre für Diversität
Die von Gott herbeigeführte Sprachverwirrung bewirkt weit mehr, als dass nur Sprachbarrieren durch verschiedene Muttersprachen entstehen. Diese ließen sich mit Korrespondenzsprachen leicht überwinden. Viel gravierender ist: Durch die Sprachverwirrung können Menschen nicht mehr effektiv zusammenzuarbeiten. Die sprichwörtlich gewordene „babylonische Sprachverwirrung“ steht somit als Chiffre für eine Vielfalt an gegenläufigen Meinungen, Positionen und Interessen; dies hat oft auch zur Folge, dass sich Vertreter*innen unterschiedlicher Meinungen in opponierender oder gar abwertender Haltung gegenüberstehen. Gerade Letzteres macht einen Konsens und gemeinsames Agieren so gut wie unmöglich.
In der Krise hilft vor allem:
solidarisches Denken und Zusammenhalt
In politischen und gesellschaftlichen Debatten und insbesondere im Kontext der Anti-Corona-Demonstrationen der letzten Wochen kam dies sehr deutlich zum Vorschein. Interessanterweise waren aber dann die Monate März bis Juni 2020 ganz anders. Anfang März schockierten die Bilder aus Italien von überlastetem Krankenhauspersonal und Militär-LKWs, die Tote abtransportierten. Die Corona-Pandemie war in Europa angekommen. Mit einem Mal waren all die vorher unheimlich wichtig scheinenden Streitthemen vom Tisch. Die vom Virus SARS-CoV-2 ausgehende Bedrohung rückte ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Schnell wurde klar: Dieses Virus nimmt keine Rücksicht auf Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Religion oder politische Gesinnung. Es schlägt zu, wahllos. Es gab zu dieser Zeit nur eine Chance, das Virus zurückzudrängen: Zusammenhalten. Und es geschah etwas Erstaunliches: Viele verzichteten ohne großen Widerspruch auf ihre gewohnte Lebensweise und ihre üblichen Interessen. Der Rückzug in die eigene Wohnung, homeoffice und homeschooling wurden zum Mittel der Wahl, um dem Virus den Kampf anzusagen; ihm die Basis zur Vermehrung und Verbreitung zu entziehen. Zugleich entstand eine ungeahnte Solidarität, um ältere und kranke Menschen zu schützen. „Wir halten zusammen“ und „Gemeinsam gegen Corona“ wurden fast schon zu Kampfparolen. Die Bevölkerung sprach in dieser Zeit eine Sprache: Die Sprache der Solidarität oder zumindest der Zweckgemeinschaft.
Die Meinungsvielfalt bleibt Teil der (Entscheidungs-)Freiheit
Dies führte aber nicht automatisch dazu, dass nun plötzlich alle einer Meinung waren. Die unterschiedlichen Positionen und Haltungen blieben bestehen. Sie traten lediglich für ein paar Wochen in den Hintergrund. Oder biblisch gesprochen: Die biblische Sprachverwirrung wurde nicht rückgängig gemacht. Denn die Meinungsvielfalt hat auch etwas Gutes und ist von Gott gewollt: Sie ist Teil der (Entscheidungs-)Freiheit, die Gott dem Menschen geschenkt hat. Unter Beibehaltung der Meinungsvielfalt wurde jedoch eine gemeinsame politische und gesellschaftliche Sprache gefunden.
Notwendiger Streit wissenschaftlicher Standpunkte
Zahlreiche wissenschaftliche Fachrichtungen stimmten ihr Wissen miteinander ab; viele Meinungen und Empfehlungen von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Playern wurden gehört, um konsensfähige politische Entscheidungen treffen zu können; die Bevölkerung wurde durch eine umfangreiche Kommunikation in die jeweils aktuellen Entwicklungen mit einbezogen. Es ging darum, einen Überblick zu bekommen, sich auf ein einheitliches Vorgehen zu einigen und möglichst viele mitzunehmen. Grundlage waren Vertrauen und gegenseitiger Respekt. Motor war ein gemeinsames Ziel, das für alle Relevanz hatte: Gesund bleiben, die Schwächeren schützen und überleben!
Niemand wollte sein wie Gott!
Dieses einmütige Streben nach einem gemeinsamen Ziel ähnelt sehr dem Handeln der Menschen in der Erzählung vom Turmbau von Babel. Doch in einem Punkt unterscheidet es sich wesentlich: Die Menschen in der Corona-Krise wollten nicht sein wie Gott. Es ging nicht um Machtstreben oder darum, sich einen großen Namen zu machen. Sie haben – wie in den biblischen Erzählungen die Menschen vor dem Turmbau zu Babel – einmütig zusammengearbeitet, um etwas zu erreichen, was einer allein nicht schaffen kann und was allen in der Gemeinschaft dient.
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Autorin: Carmen Diller, Dr. theol. habil., studierte an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg Katholische Theologie, Germanistik und Erziehungswissenschaften. Im Anschluss promovierte sie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg in Theologie und habilitierte sich dort im Fach Alttestamentliche Literatur und Exegese. Sie arbeitet in der Hauptabteilung Pastoral im Bistum Hildesheim als Referentin für Theologische Grundfragen und Lokale Kirchenentwicklung.
Foto: Hans-Peter Gauster / unsplash.com
Literatur:
Archiv der Tagesschau: https://www.tagesschau.de/archiv/
Artikel „Ludwik Lejzer Zamenhof“: https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwik_Lejzer_Zamenhof
Georg Fischer, Genesis 1-11: Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, Freiburg Basel Wien [Herder] 2018.
Michaela Greb, Die Sprachverwirrung und das Problem des Mythos. Vom Turmbau zu Babel zum Pfingstwunder: Würzburger Studien zur Fundamentaltheologie 37, Frankfurt u.a. [Lang] 2007.
RKI-Covid19-Dashboard: https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4
Rachel Thyrza Sparks u.a. (Hrsg.), Digging Up Jericho. Past, Present and Future: Archaeopress archaeology, Oxford [Archaeopress] 2020.
Claus Westermann, Genesis, 1. Teilband: Genesis 1-11: Biblischer Kommentar. Altes Testament I/1, Neukirchen-Vluyn [Neukirchener] 31983.