Ludger Schwienhorst-Schönberger ist katholischer Alttestamentler. Und er leitet Kontemplationskurse. Kontemplation und Bibel – eine reizvolle Kombination!
Zu den klassischen Formen christlicher Glaubenspraxis gehören das Lesen der Heiligen Schrift (lectio), die Meditation (meditatio), das Gebet (oratio), das Handeln (operatio) und die Kontemplation (contemplatio). Eine der Ursachen der gegenwärtigen Krise des Christentums in den westlichen Gesellschaften dürfte darin liegen, dass nur wenige Christinnen und Christen mit diesen Elementen ihrer eigenen Tradition vertraut sind. Es fehlt schlicht und ergreifend an einer regelmäßigen Übung. Und wenn sie noch anzutreffen ist, dann oft nur in einer sehr selektiven und rudimentären Form.
Die regelmäßige Lektüre der Heiligen Schrift (lectio) sollte für Christinnen und Christen selbstverständlich sein. Sie bedarf allerdings einer bestimmten Haltung, um fruchtbar zu werden. Wir dürfen nicht die Kulturtechnik des (schnellen) Lesens, wie wir sie in der Schule gelernt haben, unbedacht auf die Lektüre der Heiligen Schrift übertragen. Wenn das Lesen der Heiligen Schrift in einem geistlichen Sinne fruchtbar werden soll, müssen wir es im Stile der Lectio divina praktizieren. Lectio divina ist eine Form des Lesens, bei der es nicht primär darum geht, den Inhalt eines Textes in der Weise zu erfassen, dass man ihn bei einer exegetischen Prüfung korrekt wiedergeben kann; vielmehr geht es darum, sich vom Text so ergreifen zu lassen, dass ein Prozess innerer Wandlung und Reifung in Gang gesetzt wird.
Gegenstandsbezogene Meditation
Einfach nur heilige Texte zu lesen oder gar zu rezitieren, wie es in einigen Religionen üblich ist, wird dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens jedoch nicht gerecht. Hier setzt nun der nächste Schritt an: die Meditation. Die Meditation ist gegenstandsbezogen. Wir denken über das nach, was wir gelesen haben, erwägen es in unserem Herzen und versuchen, es zu verstehen.
Das bekannteste Element christlicher Frömmigkeit dürfte das Gebet, die oratio, sein. Darunter versteht die Tradition vor allem das Bittgebet. Wenn uns im Lichte der Heiligen Schrift der wahre Zustand unserer Seele vor Augen tritt, dann erkennen wir, dass wir der Hilfe Gottes bedürfen. Und um diese Hilfe bitten wir im Gebet: „Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet“, ermutigt Jesus seine Jünger in der Bergpredigt (Mt 7,7). Doch wissen wir, worum wir in rechter Weise bitten sollen?
Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg. Deshalb gehört das rechte Handeln (operatio) zum Wesen des christlichen Glaubens. Vermutlich dürfte dieses Element neben dem Gebet das bekannteste und am stärksten ausgeprägte Merkmal des christlichen Glaubens in den modernen Gesellschaften sein. Die soziale Ausrichtung ist eine der großen Stärken des Christentums. Das Gebot der Nächstenliebe, im Alten Testament in aller Klarheit formuliert (Lev 19,18), gilt vielen als Markenkern der christlichen Religion. Christentum und Caritas werden oft in eins gesetzt. Doch die Stärke kann zu einer Schwäche werden, wenn sie nicht mehr in das Gesamtgefüge des Glaubens integriert wird.
Suche nach dem Sinn des Lebens
Wenn ein Sportler regelmäßig nur eine einzige Übung praktiziert und nur einen Muskel trainiert, alle anderen jedoch unbeachtet lässt, wird er sehr wahrscheinlich nicht sehr erfolgreich sein und auf kurz oder lang an Haltungsschäden leiden. Wenn vielen spirituell Suchenden die Kirche ausschließlich als eine soziale Wohlfahrtsorganisation entgegenkommt, dann mag ihr das durchaus hohe Anerkennung und Wertschätzung entgegenbringen, doch auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, auf der Suche nach einem Weg aus innerer Not und Orientierungslosigkeit werden sich die Suchenden anderen Anbietern zuwenden.
Das am wenigsten bekannte Element des christlichen Glaubens dürfte die Kontemplation sein. In einer durchschnittlichen Gemeinde und bei vielen in der Seelsorge Tätigen ist sie unbekannt. Vielleicht hat man davon gehört, nur wenige jedoch dürften aufgrund eigener Übung und Erfahrung damit vertraut sein. Das verwundert, gilt doch in der Tradition die Kontemplation als Ziel und Höhepunkt des christlichen Lebens.
Was ist Kontemplation?
Kontemplation ist ein Weg der inneren Einkehr. In der kontemplativen Übung richten wir unsere Wahrnehmung nach innen. Dazu nehmen wir eine Haltung ein, in der wir ruhig und ungestört etwa 20 Minuten in Stille sitzen. Wir denken nicht nach und schauen nicht herum. Der Blick ruht. Von Gedanken, Bildern und Gefühlen, die in unserem Bewusstsein aufsteigen, lassen wir uns nicht ablenken. Wir lassen sie vorüberziehen. Dabei kann uns der Atem helfen. Wenn wir merken, dass wir in Gedanken abschweifen, kehren wir zur Wahrnehmung des Atems zurück. Wir öffnen unser Bewusstsein für die verborgene Gegenwart Gottes.
Da Gott kein „Gegenstand“ menschlicher Wahrnehmung sein kann, muss die Wahrnehmung, die sich auf Gott hin ausrichtet, ungegenständlich sein. Das unterscheidet die Kontemplation von der Meditation. Gott ist nicht dies und er ist nicht das, er ist nichts von alledem. Deshalb halte dich an das Nichts und in diesem Nichts wirst Du Gott schauen, lesen wir bei Meister Eckhart in seiner Predigt zu Apg 9,8, der Erzählung von der Berufung Pauli, wo es heißt: „Obwohl seine Augen offen waren, sah er [Paulus] nichts.“ Dazu Eckhart: „Als er aufstand von der Erde, sah er mit offenen Augen nichts, und dieses Nichts war Gott.“[1]
Kern christlicher Spiritualität
Solche Gedanken mögen für christlich geschulte Ohren ungewöhnlich klingen. Dabei gehört die Kontemplation zum Kern christlicher Spiritualität. Seit Jahren wird sie von vielen unserer Zeitgenossen, von Christinnen und Christen ebenso wie von Nicht-Christinnen und Nicht-Christen, neu entdeckt. Eine ihrer großen Stärken besteht darin, dass sie einerseits aufgrund ihrer Offenheit allen Menschen, gläubigen wie ungläubigen, einen Weg in die Erfahrung der alles umgreifenden Wirklichkeit erschließt, andererseits aber auch gläubigen Christinnen und Christen einen Weg in das tiefere Verständnis ihres Glaubens aufzeigt, einen Weg „vom Glauben zum Schauen“.
Was sind die Wirkungen der Kontemplation?
Von seinem Ursprung her ist der Mensch Bild Gottes (Gen 1,27). Doch dieses Bild ist verschattet. Kontemplation ist ein Weg der Rückkehr in jenen ursprünglichen Zustand, da der Mensch mit sich und mit Gott im Reinen ist. Das empirische Ich, mit dem wir in der Welt tätig sind, ist nicht der ganze Mensch. Es ist eingebettet in eine Wirklichkeit, die wir als das „wahre Selbst“ oder auch als das „transzendente Ich“ bezeichnen. Der Mensch, der sich mit seinem empirischen Ich identifiziert, mit dem, was er weiß, kann und will, leidet bewusst oder unbewusst unter einer Spaltung. Viele Menschen versuchen, diese Spaltung durch äußere Anstrengung zu überwinden. Sie stürzen sich auf die äußerlich sichtbare Welt, doch das Verlangen ihrer Seele bleibt ungestillt: „Siehe, Du warst innen, ich aber war draußen. Draußen suchte ich nach Dir … Du warst bei mir, ich war nicht bei Dir“, bekennt der heilige Augustinus im Rückblick auf seine Suche nach dem, der allein seiner Seele Ruhe zu verschaffen vermag.[2]
Das erste Wort, mit dem Gott den Menschen nach dem Sündenfall anspricht, ist eine Frage: „Wo bist du?“ (Gen 3,9). Diesem Wort zufolge sind nicht wir es, die Gott suchen, sondern Gott ist es, der uns sucht. Der Mensch ist vor Gott geflohen, er hat sich vor ihm versteckt (Gen 3,8). In der Kontemplation versuchen wir, diesen Fluchtmechanismus, der uns gewöhnlich nicht bewusst ist, zu unterbrechen. Wir halten inne. Nicht wir wollen etwas erreichen, sondern wir wollen uns erreichen und berühren lassen. Deshalb halten wir inne und schweigen. „Soll Gott wahrhaft sprechen, so müssen alle Kräfte schweigen. Nicht um ein Tun geht es, sondern um ein Nichttun“, sagt Johannes Tauler.[3] Unsere gewöhnlichen Ich-Aktivitäten kommen zur Ruhe.
Prozess der Wandlung
Wer die kontemplative Übung regelmäßig einmal am Tag praktiziert, wird nach einiger Zeit eine Veränderung an sich wahrnehmen. Wir werden ruhiger und gelassener. Wir sind in der Welt anders da. Unsere Wahrnehmung verändert sich. Es setzt ein Prozess der Wandlung ein. Nach einiger Zeit der Übung treten gewöhnlich unausgeheilte Wunden und Schmerzen in unser Bewusstsein ein. Wir verdrängen sie nicht, sondern versetzen uns so, wie wir sind, mit unseren Schmerzen, mit unseren Wunden in die heilende und erlösende Gegenwart Gottes.
Auf dem kontemplativen Weg gibt es unterschiedliche Phasen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. In jedem Fall ist es ratsam, den Weg unter Begleitung eines erfahrenen Lehrers oder einer erfahrenen Lehrerin zu gehen. Begleiten kann nur, wer den Weg kennt. Im Allgemeinen ist auf dem Weg mit zwei großen Krisen zu rechnen, die Johannes vom Kreuz als „Dunkle Nacht der Sinne“ und „Dunkle Nacht des Geistes“ bezeichnet hat. Eine begleitende Lektüre kann hilfreich sein.[4]
Sie kann die Übung aber niemals ersetzen. Wer Klavier spielen lernen will, sollte regelmäßig üben. Wer nur Bücher über das Klavierspiel liest, wird nie spielen lernen. Deshalb ist die Übung grundlegend. Wer nur Bücher über Kontemplation oder Spiritualität gelesen hat, ist als Begleiter ungeeignet. Es geht auf dem kontemplativen Weg nicht darum, dass sich unser Ich „spirituelle Erfahrungen“ oder ein Wissen über Spiritualität aneignet, sondern darum, dass es verwandelt wird, letztlich: dass es in die Erde fällt und stirbt und reiche Frucht bringt (vgl. Joh 12,24). Das ist der Weg der Erlösung. „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20).
In einem säkularen Zeitalter
Viele Menschen sehnen sich nach einem derartigen Weg. Sie spüren, dass ihnen etwas fehlt, doch sie wissen oft nicht, was es ist. Sie meinen, sich das, was ihnen fehlt, aneignen zu können. Doch auf dieser Ebene des Wollens bleibt das Verlangen ihrer Seele ungestillt. Viele stürzen sich ins Vergnügen oder verfallen nach zahlreichen Enttäuschungen der Resignation. Verbreitete Übungen der Frömmigkeit helfen oft nicht weiter. Kirchliche Seelsorgerinnen und Seelsorger stehen nicht selten hilflos da und werden von spirituell Suchenden kaum noch um Rat gefragt, da sie mit dem kontemplativen Weg der christlichen Tradition nicht wirklich vertraut sind, weil sie ihn selbst nicht gehen. Das ist die eigentliche Kirchen- und Glaubenskrise.
Weg der Hingabe
Der kontemplative Weg ist zunächst und vor allem ein Weg der Reinigung. Gott selbst ist es, der den Tempel unserer Seele reinigen will. In der Kontemplation nehmen wir eine Haltung ein, in der wir uns dem reinigenden Handeln Gottes nicht widersetzen, auch dann nicht, wenn es schmerzhaft ist. Kontemplation ist ein Weg der Hingabe.
Die menschliche Seele sehnt sich danach, „Gottes Antlitz zu schauen“ (Ps 42). Der kontemplative Weg greift diese Sehnsucht auf. Er führt uns in eine Freude, die nicht mehr vergeht. Die contemplatio Dei, das „Schauen Gottes“, ist dem Zeugnis der Bibel nach bereits in diesem Leben anfänglich möglich (vgl. Ijob 42,5): „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8).
Prof. Dr. Ludger Schwienhorst-Schönberger (Universität Wien).
[1] Meister Eckhart, Predigt 71 (Ausgabe: Meister Eckhart, Werke II, hg. und kommentiert von Niklaus Largier, Frankfurt 1993, 65).
[2] Augustinus, Bekenntnisse X, 27.
[3] Johannes Tauler, Predigt 31 (Ausgabe: Johannes Tauler, Predigten Bd. I, üb. und hg. von Georg Hofmann, Einsiedeln 42007, 220f).
[4] Zwei Einführungen seien genannt: Thomas Keating, Das Gebet der Sammlung. Einführung und Begleitung des kontemplativen Gebetes, Münsterschwarzach 2010. Franz Jalics, Kontemplative Exerzitien. Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet, Würzburg 1994 (und zahlreiche weitere Auflagen).
Bildquelle: Ingo Lichtenegger, Artland 7, Privatbesitz