Industrie-, Militär- und Verkehrsruinen sind heute oft urbanistische Hotspots. Christian Bauer fragt: Könnten sie auch Orte einer kirchlichen Selbstbekehrung sein? Ein theologischer Ortstermin auf dem Würzburger Hubland.
Der Konversionsbegriff ist doppeldeutig: In städteplanerischem Sinn bedeutet er die Verwandlung eines urbanen „Nicht-Ortes“[1] in einem lebenswerten Platz, in theologischem Sinn jedoch ein individuelles Bekehrungserlebnis – und ein solches ist auch einer Kirche verheißen, die sich beherzt und umkehrbereit auf den synodalen Weg[2] ihrer eigenen Selbstevangelisierung[3] macht. Metaphorisch gesprochen: Kirche muss nach dem Untergang der pastoralen Schwerindustrie als fordistische Heilsfabrik[4] institutionell und spirituell abrüsten. Am Ende der schweren Moderne könnten auf dem Brachland postindustrieller Glaubensruinen dann so etwas wie offene Heilsbrachen entstehen, die erste Pionierpflanzen anziehen und sich nach und nach in Biotope nachwachsenden Lebens verwandeln.
Auf einem ehemaligen Gebiet der US Army („Leighton Barracks“), das durch städteplanerische Konversion gerade zu einem faszinierenden gesellschaftlichen Experimentierfeld wird, betritt das vom Bistum Würzburg in pastoralplanerischer Weitsicht finanzierte Forschungsprojekt „Kirche am Hubland – ein urbanes Pionierprojekt“ (2021-23) entsprechendes theologisches Neuland. Von pastoraler Seite sind Elisabeth Wöhrle und Burkhard Hose[5] sowie von akademischer Seite Anna Asteriadis (Wien), Lukas Moser (Bruchsal), Christian Preidel (Luzern) und Christian Bauer (Münster) daran beteiligt.
Explorative Theologie
Als multiprofessionelle Forschungsgruppe suchen sie nach Formen einer alternativen Präsenz von Kirche in diesem florierenden Stadtteil[6]. Neben theologischen Ressourcen kommen dabei auch sozialgeographische, kulturwissenschaftliche und gestalterische Methoden (z. B. Shared walks, Reflexive Fotografie, Collective Mapping, Design thinking) zum Einsatz. Solchermaßen explorative Theologie[7] leistet nicht nur einen Beitrag zur Zukunftsgestalt einer sich transformierenden kirchlichen Weltpräsenz, sondern auch zur raumsensiblen Weiterentwicklung von praktisch-theologischen Diskurswerkzeugen[8].
Neues Leben in alten Barracks
Ich selbst kenne das Gelände der ehemaligen Leighton Barracks noch aus meiner Schulzeit. Tagtäglich bin ich mit dem Bus daran vorbeigefahren, hinter hohen Mauern befand sich ein verlockendes Stück Amerika. Heute ist das Gelände ein wunderbarer Ort für ein Sun-Downer-Bier mit alten Freund:innen. Ich mag die Weite des Blicks und das pulsierende Leben. Der gesellschaftliche Aufbruch am Hubland könnte auch einen kirchlichen Aufbruch inspirieren – zwischen struppiger Militärbrache und lebendigem Universitätscampus. Eine urbane Laborsituation, in der sich meine romantische, aber behäbige Heimatstadt Würzburg gerade als ein Experimentalraum für alternative Stadtkulturen neu erfindet (vgl. zum Beispiel die nach skandinavischem Vorbild als ‚öffentliches Wohnzimmer’[9] konzipierte Stadtteilbibliothek im alten Tower).
Auf dem Hubland ansässige Stadtbewohner:innen tauchen in der Regel kaum in den wohnortnahen Pfarreien St. Alfons, St. Barbara oder St. Nikolaus auf. Sie brauchen eine eigene Form der kirchlichen Präsenz des Evangeliums vor Ort. Die Suche danach führt weg von althergebrachter pfarrlicher Territorialität, hin zum städtischen Terroir als einem Ort kirchlicher Selbstbekehrung. Im „kulturellen Labor“[10] des Hublands lässt sich Kirche dabei nicht nur von Außen her neu denken, sondern auch von Außen her neu gründen. Hier gilt es im Doppelsinn des französischen Wortes expérience zu ‚experimentieren’: Experimente zu wagen und dabei dann auch neue Erfahrungen zu machen, die überraschend anschlussfähig sind an die großen Erzählungen des christlichen Glaubens.
Kirche mit leichtem Gepäck
Dazu braucht es eine Kirche ohne Turm und Schaukasten. So war es denn auch eine kluge Entscheidung des Bistums Würzburg, auf dem Hubland keine kirchenräumlichen Claims abzustecken und nicht in die Baulast von Immobilien[11] zu investieren, sondern stattdessen pastoral bewährte Menschen[12] zu schicken, die aufgrund ihres KHG-Spirits zugleich auch wache christliche Zeitgenoss:innen mit hohem Ansehen („Die missionieren nicht“) in säkularen Kontexten sind. Sie leben Kirche jenseits der vermeintlichen Sicherheit von pastoralen Alltagsroutinen (vom Pfarrbüro über Gottesdienstordnungen und Gremiensitzungen bis hin zur Sakramentenkatechese):
„Wir sind ständig dabei vorzubereiten, schüren Vorfreude, heizen Erwartungen an für den großen Tag, wenn das Christkind kommt, wenn der liebe Heiland kommt, wenn der Bischof kommt […]. Und ist der große Tag vorbei, schütteln wir uns einmal kräftig und stürzen uns in die Vorbereitungen mit der nächsten Gruppe auf den nächsten großen Tag. Erstkommunionkinder, Brautpaare wachsen so schnell nach, daß wir uns die geheime Hoffnungslosigkeit erst gar nicht einzugestehen brauchen, die uns ob dieses Treibens alle Jahre wieder den Rücken hinaufkriecht. Ist Jesus dazu gestorben, daß sich dieses kirchliche Karussell dreht?“[13]
Ein spannendes Experiment: Was bleibt von Kirche eigentlich übrig[14], wenn man das alles einmal weglässt? Die Erfahrungen auf dem Hubland weisen in die Richtung eines reichgottesfrohen Kircheseins, das mit leichtem Gepäck, offenem Geist und einer suchenden Sprache unterwegs ist – und auch mit einer lernbereiten und entdeckungsfreudigen Gottesvermutung: „Gott ist an diesem Ort, und ich habe es nicht gewusst“ (Genesis 28,16). Papst Franziskus formuliert einen entsprechenden Suchauftrag:
„Wir müssen die Stadt von einer kontemplativen Sicht her, das heißt mit einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die Präsenz Gottes begleitet die aufrichtige Suche, die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Halt und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter den Bürgern und fördert […] das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Präsenz muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, und enthüllt werden.“[15]
Auferstehung in Ruinen
Städtische Konversionsflächen haben ihren eigenen Reiz. Der biblische Auftrag „verödete Städte besiedeln“ (Jes 54,3) wird hier in säkularer Weise eingelöst: Auferstehung in Ruinen. Die weitverbreitete Kirchenklage „Alles, was uns lieb war, liegt in Trümmern“ (Jes 64,10) könnte auch auf dem Hubland durch kreative ‚Umnutzung’ von – metaphorisch gesprochen – leerstehenden Glaubensgebäuden durch ein alternatives Gottesprädikat abgelöst werden: Gott als schöpferischer „Maurer, der die Ruinen wieder bewohnbar macht“ (Jes 58, 12) und wir als seine Mitschöpfer:innen in den „verödeten Städten“ (Jes 61,4) des Glaubens: „Dann bauen sie die uralten Trümmerstätten wieder auf und richten die Ruinen ihrer Vorfahren wieder her.“ (Jes 61,4).
Zeltmacher:innen
Heutige Kirchengründer:innen sind wie Paulus keine Festungsbauer:innen, sondern Zeltmacher:innen (Apg 18,3). Es ist bezeichnend, dass der einzige explizit christliche Ort auf dem Hubland ein silbern glänzendes Aluminiumzelt ist: die für die Landesgartenschau 2018 errichtete ökumenische Wegkapelle des bekannten Architekturbüros Brückner & Brückner[16]. Die Welt spiegelt sich hier in der Kirche – wobei der Neigungswinkel so gewählt ist, dass hier neben der Erde immer auch viel Himmel zu sehen ist. Gottes luftig-leichtes Zelt unter den Menschen – ein Raum verheißungsvoller Leere, dessen offene Präsenz im Quartier innere Weite signalisiert: „Mach den Raum deines Zeltes weit, spann deine Zelttücher aus, ohne zu sparen!“ (Jes 54,2). Geht so Kirche?
In der Nachfolge Jesu, des jüdischen Wanderpredigers aus Nazareth[17], sollten christliche Kirchengründer:innen stets den Willen jenes passager weltpräsenten Gottes der Bibel im Blick behalten, der keine steinernen Tempel braucht, um im Leben der Menschen schöpferisches Heil zu wirken. Es gelten die prophetischen Worte Nathans an König David, als dieser Gott einen solchen bauen wollte:
„Seit dem Tag, als ich die Israeliten aus Ägypten heraufgeführt habe, habe ich bis heute nie in einem Haus gewohnt, sondern bin in einer Zeltwohnung umhergezogen. Habe ich in der Zeit, als ich bei den Israeliten von Ort zu Ort zog, jemals […] gefragt: Warum habt ihr mir kein Haus aus Zedernholz gebaut?“ (2 Sam 7,4-7).
Teil 2 des Beitrags:
Konversionsflächen: Kirche bekehrt sich auf urbanem Neuland (Teil 2)
[1] Vgl. Marc Augé: Nicht-Orte, München 2010.
[2] Vgl. Christian Bauer: Synodales Reframing. Papst Franziskus und sein Weg der Kirchenreform, in: Ute Leimgruber, Michael Lohhausen, Jörg Seip, Bernhard Spielberg (Hg): Die Leere halten. Skizzen zu einer Theologie, die loslässt [FS Erich Garhammer], Würzburg 2021, 165-170.
[3] Christian Bauer: Vom Lehren zum Hören? Offenbarungsmodelle und Evangelisierungskonzepte im Übergang vom Ersten zum Zweiten Vatikanum, in: Julia Knop, Michael Seewald (Hg): Das Erste Vatikanische Konzil. Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach, Darmstadt 2019, 95-116.
[4] Vgl. Hans-Joachim Sander: Mitten in zu großen Räumen vor verengten Lagen. Nach dem Ende des Fordismus in der Kirche Österreichs, in: Rainer Bucher (Hg): Nach der Macht. Zur Lage der katholischen Kirche in Österreich, Innsbruck 2014, 99-121.
[5] Schwester Elisabeth Wöhrle sf und Pfarrer Burkhard Hose arbeiten beide jeweils in der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) und auf dem Hubland. Erste Erfahrungsberichte ihrer im Entstehen begriffenen, vom KHG-Standort Hubland ausgehenden dortigen seelsorgerlichen Präsenz: https://www.fraenkischertag.de/lokales/landkreis-bad-kissingen/meinung/hochschulpfarrer-burkhard-hose-spricht-ueber-den-besonderen-pastoralen-ansatz-des-projekts-hubland-nord-art-234935 und https://www.sobla.de/aktuelles/detail/ansicht/lernen-neu-kirche-zu-sein/.
[6] Vgl. Michael Schüßler: Quartierspastoral. Lernorte des Evangeliums im Dazwischen, in: Anzeiger für die Seelsorge (2023), erscheint demnächst.
[7] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=54MAlNa5tlw.
[8] Siehe als erste monografische Pilotstudie zur Pastoralgeographie Lukas Moser: Wir haben eine Kirche, haben Sie eine Idee? Pastoralgeographische Erkundungen zur Transformation eines Stuttgarter Kirchenraumes, Stuttgart 2023.
[9] Zum Konzept der „Dritten Orte“ (jenseits von Wohnen und Arbeit) vgl. Ray Oldenburg: The Great Good Place. Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day, New York 1989.
[10] Papst Franziskus: Veritatis gaudium, Nr. 3.
[11] Burkhard Hose: „Wir brauchen vielleicht gar keinen eigenen Raum – wir haben längst einen: das Hubland.“
[12] Elisabeth Wöhrle und Burkhard Hose arbeiten seit vielen Jahren in der Katholischen Hochschulgemeinde. In diesem Zusammenhang noch immer inspirierend: Karl Rahner: Die Hochschulgemeinde als Modell einer künftigen Pfarrstruktur, in: Ders.: Gnade als Freiheit. Kleine theologische Beiträge, Freiburg/Br. 1968, 167-169.
[13] Rolf Zerfaß: Menschliche Seelsorge. Für eine Spiritualität von Priestern und Laien im Gemeindedienst, Freiburg-Basel-Wien 51991, 35f.
[14] Richard Link (Mannheim-Franklin) mit hintergründigem Doppelsinn: „Wir machen Kirche ohne Kirche“.
[15] Papst Franziskus: Evangelii gaudium, Nr. 71.
[16] Vgl. https://www.feinschwarz.net/podcast-architektur-und-theologie/.
[17] Ein entsprechendes Disclosure-Moment gab es beim theologischen Clustern auf unserem Workshop in Mannheim. Auf dem Boden lagen die Stichworte „Pfade gehen“, „Kinder beobachten“ und „Einladungen annehmen“ – als dem gelernten Exegeten Burkhard Hose mit einem Mal auffiel: Das ist ja wie bei Jesus!