„Ukraine must win“. Denn die Umkehr vom Bösen ist notwendig und wäre ein Gewinn für alle. Von Hans-Joachim Sander.
„Ukraine must win“ schrieb Anne Applebaum im März im „Atlantic“. Die konservative Journalistin ist als gelernte Historikerin auf Osteuropa spezialisiert und warnte nach der Annexion der Krim, dass der Putinismus damit nicht stoppen würde. Applebaum lebt in den USA und in Polen und ist mit dem ehemaligen polnischen Außenminister Radosław Sikorski verheiratet. Dieser hatte 2014 zu „Politico“ gesagt, Putin hätte Donald Tusk 2008 vorgeschlagen, die Ukraine zwischen Russland und Polen aufzuteilen. Lviv, so Putin, sei nun einmal eine polnische Stadt und die Ukraine sowieso ein künstliches Staatsgebilde. Die Empörung in der EU über die Enthüllung zwang Sikorski zurück zu rudern, es sei wohl ein schlechter Scherz gewesen.
Gegen die Dekadenz der westlichen Welt
Aber oft genug äußerte Putin auch anderswo sein Kalkül, es sei global notwendig, Russland gegen die Dekadenz einer pluralistischen amoralischen westlichen Welt wieder groß zu machen. Das Supermachtmonopol der wortbrüchigen USA sei selbstherrlich und wolle alle Völker geistig und kulturell, politisch und wirtschaftlich unterjochen. Er nutzt dafür nicht zuletzt 2007 eine der Münchner Sicherheitskonferenzen. Eigentlich müssten wir also über Russlands Angriff auf die Ukraine nicht die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Doch jetzt stehen wir wie angewurzelt vor einem Krieg, der uns jeden Tag ein entsetzliches Stück weiter den liebgewordenen Frieden austreibt.
Es scheint, als schwände von heute auf morgen die Überzeugungskraft von lang gehegten Wahrheiten des christlichen Glaubens: Gerechte Kriege gibt es eigentlich nicht, wohl aber den Gerechten Frieden, an dem ständig global gearbeitet werden muss. Die Feindesliebe Jesu verlangt die Ablehnung jeglichen Krieges und, sollte es doch dazu kommen, müssen beide Parteien gleichermaßen im Namen Gottes und der Menschheit vom Krieg abgehalten werden. Schließlich gehören wir alle zu einer einzigen großen Menschheitsfamilie, deren Geschwisterlichkeit prinzipiell allen Konflikten überzuordnen sei, so die letzten Päpste unisono.
Schwindende Überzeugungskraft der christlichen Friedensethik?
Entsprechend war die christliche Friedensethik in postheroischen Zeiten unmissverständlich: Auch einem unterlegenen angegriffenen Opfer dürfen keine zusätzlichen Waffen in die Hand gegeben werden, die das menschliche Leid auf beiden Seiten nur verlängern. Im Namen der Humanität muss eine angegriffene unterlegene Gesellschaft ihre Unterwerfung hinnehmen und sich auf gewaltlosen Widerstand und Dialog verlegen, die das angreifende Volk irgendwann umstimmen werden. Erst Vergebung der Opfer und Versöhnung mit den Tätern können dauerhaft einen Frieden sichern.
Und jetzt das: „Ukraine must win“, weil die Alternative ebenso grausam wie furchtbar ist, so Applebaum: “In Mariupol, authorities report that citizens are being forcibly deported to Russia, just as Soviet secret police deported Balts, Poles, and others to Russia after the invasions of 1939 and 1945. In the case of a Russian victory, these tactics would be applied all over Ukraine, creating mass terror, mass violence, and instability for years to come. And, yes, if we accept that outcome, autocrats from Minsk to Caracas to Beijing will take note: Genocide is now allowed.”
Was nun? Stecken wir ungemütlich zwischen Pazifismus und Bellizismus fest wie zwischen Baum und Borke? Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Aber dafür müssen wir die Frage nach Krieg und Frieden komplexer fassen. Nicht länger tauglich sind gut gemeinte Appelle von der einen großen Menschheitsfamilie. Seit Kain und Abel weiß der biblische Glaube, wie es um den friedfertigen Nimbus von Geschwisterlichkeit wirklich steht. „Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick?“ (Gen 4,6) fragt schon Gott ernüchtert Kain. Gegenüber familialer Sprache wäre im Übrigen auch beim Lehramt mehr postkoloniale Zurückhaltung geboten, wird doch der eigene Gott allen anderen als Übervater aufgenötigt.
Ungemütlich zwischen Pazifismus und Bellizismus
Ebenfalls zu kurz greift die schiere Aufteilung Krieg oder Frieden. Bei diesem binären Code wählt ein normaler Mensch natürlich den Frieden. Aber damit ist man keinen Schritt weiter, wie die vielen Appelle des gegenwärtigen Papstes in den letzten Wochen gezeigt haben. Die so einfach auftretende Wahl bleibt so lange belanglos, wie die Angreifer in ihrer Brutalität unbeeindruckt bleiben und die Anormalität des Krieges wählen. Zudem enthält die Aufforderung an alle, endlich Frieden zu halten, eine zwar ungewollte, aber doch indirekte Beschuldigung jener, die sich gegen den ihnen aufgezwungenen Krieg mit Waffengewalt verteidigen.
Das Problem wird man nicht los, wenn dann doch noch ein Recht auf Selbstverteidigung eingeräumt wird; auch Abwehrkrieg tötet Unschuldige. Wahrscheinlich hat auch wegen des unterkomplexen Entweder-Oder kein Pazifismus historisch so richtig funktioniert. Er legt sich die Lage der Dinge zu einfach zurecht und kann keine Friedensordnung der Dinge entwickeln, die nicht in einem derart brutalen Angriffskrieg wie jetzt zynisch wird.
Ebenfalls erweist sich die lang gehegte politische Hoffnung als untauglich, mit wirtschaftlichen Verflechtungen, gemeinsamen ökonomischen Interessen und auch (hoch-)kulturellen Vernetzungen ließe sich ein Bollwerk vom Frieden her gegen den Krieg errichten. Wirtschaft und das Mäzenatentum der Reichen stehen leider nicht zwischen Krieg und Frieden, weil sie auf beiden Seiten Gewinne verbuchen und ihren Schnitt machen. Das Wirtschaftsmoment steht immer ziemlich flexibel auf beiden Seiten von Frieden und Krieg.
Die Öffnung nach Osten und die Sehnsucht nach dem Westen
Die Öffnung nach Osten hat dort bisher stets eine Sehnsucht nach Westen geweckt, die sich auch von dessen unübersehbaren Schwächen nicht abschrecken lässt. Aber diese Sehnsucht nach einer freien, auf das Individuum achtenden Welt erweckt zugleich Ressentiments dort, wo eine autoritär aufgebauschte Homogenität fürchten muss, mit den diversen, pluralen, offenen, ständig mit sich ringenden Gesellschaften des Westens nicht mithalten zu können. Der Putinismus hat jedenfalls diese Ressentiments offen zur Kriegswaffe gemacht. Dem muss sich auch die katholische Ökumene mit der russischen Orthodoxie ablehnend stellen. Sonst wird man sich fragen, ob in der katholischen Hochhierarchie bis hinauf zum Papst ähnliche Ressentiments geteilt werden.
Und nun? Vielleicht kommt man weiter, wenn man sich nicht vorrangig damit befasst, was den Frieden vor dem Krieg schützen kann, sondern was Frieden in und unter Menschen innerlich und äußerlich zersetzt und zugleich im Krieg triumphiert. Zwischen Krieg und Frieden stehen weder Geschwisterlichkeit noch Entweder-Oder noch Wirtschaft noch Hochkultur als Bollwerke. Zwischen ihnen steht das Böse. Wird Böses im Krieg nicht benannt, erkannt und bekämpft, breitet es sich unaufhaltsam aus und kontaminiert die ganze Zivilisation.
In diesem Krieg tritt Böses so klar hervor, dass man schon die Augen davor sehr fest verschließen muss, um es nicht zu sehen. Das erschöpft sich nicht in der Sorte von Bosheiten wie dem langen Kremltisch Putins oder die Winkelzüge seines Außenministers, wie die metaphysischen Hasspredigten eines Kyrill I. über gay-pride oder die auf Rüstungswerbung getrimmten Einsätzen von Superraketen neuester Bauart.
In diesem Krieg tritt Böses klar hervor.
Sie gehören allesamt noch zu dem, was Hannah Arendt als Banalität des Bösen identifiziert hat; die Akteure wären vor Gericht Hanswurste wie Eichmann in Jerusalem. Sie sind keine Monster und haben auch nichts mit der Figur des Teufels zu tun; die entsteht dort, wo Menschen davon besessen sind, besessen zu sein, weil sie darin eine negative Auszeichnung anstreben, die sie sonst positiv nicht erreichen. Das ist nicht das Thema dieser Banalität.
Aber dieser Krieg ist gleichzeitig viel schlimmer. Es offenbart sich über die Banalität hinaus zugleich der monströse Charakter des Bösen, auf das Claude Lanzmann gegen Arendt stets hinwies. Überforderte Truppen werden auf Kompensationen zu ihren mangelnden Erfolgen losgelassen wie beim Vergewaltigen und Ermorden in Butscha und anderswo. Demonstrativ schlägt eine Granate in Europas größtem Atomkraftwerk ein, damit sich Wellen der Angst bis nach Washington ausbreiten. Eine ganze Stadt, Mariupol, wird zerstört und es droht die komplette Vernichtung von umzingelten Truppen im dortigen Stahlwerk, um allen vor Augen zu führen, was ihnen bei Nicht-Unterwerfung blüht. Alle von Warschau über Paris bis Washington spüren den Pesthauch von etwas Bösem, das sich zu ihnen ausbreiten wird, wenn es nicht gestoppt wird. Darum gibt es jetzt diese überraschende Einigkeit in EU, NATO und den G7.
Böses nicht verharmlosen
Mit dem christlichen Glauben lässt sich solches Böses nicht ungeschehen machen, aber auch unter keinen Umständen verharmlosen. Mit dem Bösen dieser Kategorie darf man keine Kompromisse machen, auch nicht eine Andeutung davon. Böses lebt auf in allem, wo und wie und warum man ihm entgegenkommt. Jeder Nicht-Widerstand ist sein Lebenselixier.
Die Klage an Gott, wie er ein solches mysterium iniquitatis zulassen kann, liegt nahe und muss geführt werden. Aber auch sie erreicht nicht die Komplexität dieser Verstrickung, in der wir uns angesichts dieses Krieges befinden. Sie wird in der Frage deutlich, wie der entschiedene Widerstand und offene Widerspruch zu diesem Bösen sich überhaupt mit dem Frieden verträgt. Der fällt ja nicht vom Himmel, sondern entsteht aus Kompromissen derer, die direkt und indirekt durch den Krieg verstrickt sind. Auf der einen Seite ist vollständige Kompromisslosigkeit nötig, auf der anderen dagegen die Fähigkeit zu Kompromissen.
Wie verträgt sich der Widerstand gegen das Böse mit dem Kompromiss?
Ist das ein Widerspruch? Immerhin entsteht mehr als ein bloßer Zielkonflikt. „Ukraine must win“, weil es nicht genügt, wenn Russland diesen Krieg bloß jetzt nicht gewinnt, sondern eben dann in der nächsten Runde. Diesem Krieg muss das Böse ausgetrieben werden, was die Menschen in der Ukraine auf Leben und Tod attackiert, was die Anrainer der Ukraine auf Dauer klein machen will, was die Lebensweise von Menschen in einer freien demokratischen Welt und darüber hinaus auch in nicht-demokratischen Gesellschaften global bedroht.
Wie wollen wir weiterleben?
Dieser Krieg ist kein Regionalkonflikt und auch kein Territorialdisput, sondern signifikant für die Art und Weise, wie die Menschen in der Gegenwart weiterleben wollen: autoritär mit Zugeständnissen an die Macht eines wie auch immer gearteten Bösen oder widerständig und souverän gegen die Versuchungen dieser Macht.
Aber ist das zu erreichen, wenn man Russland nicht entgegenkommt? Natürlich ist das nicht zu erreichen ohne die Fähigkeit zum Kompromiss mit diesem Staat und seinen Bewohnern. Aber diese Fähigkeit beinhaltet zugleich die Wahrnehmung, dass gerade auch der Angreifer tatsächlich und glaubwürdig selbst wider das Böse aufsteht, das ihn zum Krieg getrieben hat. Ohne diese Selbstkonfrontation Russlands wird sich dieser Krieg hinziehen. Und solange die Ukraine, ihre politische Führung und ihre Truppen, aber auch die Menschen, die bleiben oder fliehen, mit der Bosheit keine Kompromisse machen, erhalten sie sich die Glaubwürdigkeit, die eine elementare humane Solidarität auslöst. Das schließt Waffenhilfe nicht aus, sondern ein.
Wenn zwischen Krieg und Frieden ein Drittes steht, eben das Böse der Kriegsgewalt, dann ist die Glaubwürdigkeit des Widerstands gegen dessen Macht ein entscheidendes Moment. Die Angreifer besitzen diese Glaubwürdigkeit nicht und alles, was sie sagen, belegt das. Auf die Glaubwürdigkeit hin hätten die Christen und Christinnen, ihre Kirchen und deren Hierarchien einen wirklichen Beitrag zu leisten. Schließlich steht man hier vor einem elementaren Ort des Evangeliums, der Umkehr, deren Glaubwürdigkeit eine Bedingung der Möglichkeit des Glaubens ist.
Darum möchte ich Applebaum zustimmen: „Ukraine must win“, weil die Umkehr vom Bösen einfach notwendig ist und ein Gewinn für alle wäre.
Hans-Joachim Sander ist Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg.