Der II. Weltkrieg war gerade einmal 20 Jahre vorbei und der Kalte Krieg auf seinem Höhepunkt. Die Entspannungspolitik war noch nicht einmal konzipiert, geschweige denn begonnen, der Vietnamkrieg noch vor seiner Eskalation und viele im Westen glaubten, den Kommunismus mit Bomben eindämmen zu können. Da reformierte die katholische Kirche ihre Lehre zum Krieg. Von Rainer Bucher.
Es war wirklich keine friedlich-optimistische Zeit, damals, Anfang, Mitte der 60er Jahre. Die Kubakrise war mit Glück überstanden, Atombomben bedrohten die Existenz der Menschheit und zwei ideologische Weltblöcke standen sich hochgerüstet gegenüber. Das Konzil, sah die Menschheit am Abgrund: „Täuschen wir uns nicht durch eine falsche Hoffnung! Wenn Feindschaft und Haß nicht aufgegeben werden, wenn es nicht zum Abschluß fester und ehrenhafter Verträge kommt, die für die Zukunft einen allgemeinen Frieden sichern, dann geht die Menschheit, die jetzt schon in Gefahr schwebt, trotz all ihrer bewundernswürdigen Wissenschaft jener dunklen Stunde entgegen, wo sie keinen anderen Frieden mehr spürt als die schaurige Ruhe des Todes“ (GS 82).
„Die schaurige Ruhe des Todes.“
Da formulierte das Konzil das fünfte und letzte Kapitel des II. Hauptteils seiner Pastoralkonstitution Gaudium et spes und gab ihm den Titel: „Die Förderung des Friedens und der Aufbau der Völkergemeinschaft.“ (GS 77-90) Daran sind zunächst einmal zwei Dinge bemerkenswert:[1] Zum einen, dass das Konzil in einer „Pastoralkonstitution“ überhaupt etwas zu Krieg und Frieden sagt, zum anderen, was es sagt.
Denn klassisch waren Krieg und Frieden keine Themen der Pastoral, sondern der katholischen Soziallehre, die sich vorkonziliar als katholische Sozialmetaphysik entworfen hatte. Zudem war die katholische Kirche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts strikt anti-kommunistisch, deutlich demokratie-kritisch und vertrat zudem ziemlich eindeutig die klassische Lehre vom Gerechten Krieg. Alle drei Positionen kommen in Resten auch noch in GS 77-90 vor, aber sie bestimmen nicht dessen Grundperspektive. Diese hat grundlegend gewechselt und das auf der Basis des fundamentalen Perspektivenwechsels, den diese Konstitution generell vornimmt.
In Gaudium et spes verlässt die Kirche im Umgang mit der Welt die doktrinale Grammatik des Ausschlusses und wechselt in eine Grammatik der Solidarität. Das kann sie aber nur, wenn sie ihre eigene Tradition, der sie damit erst einmal ihre traditionelle Sprache raubt, einen neuen Ort gibt. Dieser Ort aber ist die Pastoral: an ihm sind Transzendenz und Immanenz, Göttliches und Menschliches, Glaube und Geschichte wirklich verbunden. Und dies grundsätzlich wie situativ: situativ, denn Pastoral geschieht immer hier und heute, ist orts- und zeitbezogen; grundsätzlich, denn die Welt von heute wird zum alles entscheidenden Ort, an dem die Kirche ihren Glauben in seinem Sinn darzustellen, in seiner Bedeutung zu erweisen und seine Handlungskonsequenzen zu verwirklichen hat. Kirche wird damit von einer göttlichen Institution gegen die moderne Welt zu einer pastoralen Institution zum Heile der Welt.
Der neue Ansatz von Gaudium et spes
Dieses Programm wird auch auf die Themen Krieg und Frieden angewandt. Es dominieren nicht sozialethische oder gar sozialmetaphysische Wesensaussagen, sondern konkrete Stellungnahmen zum Thema Krieg und Frieden aus der Perspektive der Betroffenen. Mit einigen Unsicherheiten und einigem Zögern noch, aber letztlich doch konsequent wird dieses Programm vom Konzil durchgeführt. Auch hier gilt: Man darf nicht mit der vorkonziliaren Position im Kopf deren Reste in den Konzilstexten suchen, um dann die Innovationen für unerheblich zu erklären, sondern muss umgekehrt die erkämpften Innovationen zum Schlüssel nehmen, um die Tradition zu interpretieren.
Inhaltlich ist die Lehre des Konzils zu Krieg und Frieden in dreifacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens: Das Konzil definiert die katholische Kirche nicht als unbeteiligten Spieler außerhalb oder gar oberhalb der Konflikte, sondern als einen dem Frieden und der Gerechtigkeit verpflichteten Mitspieler in der internationalen Gemeinschaft.
Nicht unbeteiligter Schiedsrichter, sondern der Gerechtigkeit verpflichteter Akteur
Getreu dem Eingangssatz von Gaudium et spes stellt sich die Kirche mitten in die Probleme der Menschheit und bietet ihre Mitarbeit bei deren Lösung an. Sie sucht sich weder selbst vor der Welt zu retten, noch sich über sie zu stellen. Sie bietet deshalb auch nicht sich und ihre Moralverkündigung als Rettung vor den Kriegsproblemen an, sondern setzt ihre Hoffnungen primär in den Aufbau internationaler Organisationen und die Verwirklichung einer tatsächlichen Völkergemeinschaft.
„… mit Wort und Beispiel vorangehen“
Wenn sich das Konzil auch in GS 89/1 noch einmal auf die „Kenntnis des göttlichen und natürlichen Gesetzes“ beruft: Die eigentliche Basis ist nicht diese Kenntnisüberlegenheit, sondern die Solidaritätspflicht der Kirche mit den Leidenden, wie sie eindrucksvoll in GS 88 zum Ausdruck kommt. Hier fordert die Kirche von sich, was sie bei den anderen einklagt: den „Geist der Armut und der Liebe“. Der aber verlangt, dass das Volk Gottes, allen voran die Bischöfe „mit Wort und Beispiel vorangehen, die Leiden der Zeit nach Kräften zu lindern, und das … nicht nur aus dem Überflüssigen, sondern auch aus der Substanz.“ (GS 88/2)
Zweitens: Das Konzil entwickelt nicht die alte Lehre vom gerechten Krieg weiter, sondern entwickelt eine Menschenrechtsperspektive bei der Beurteilung des Krieges. In diesem Punkt schwankt das Konzil sicherlich am sichtbarsten. Das hat seinen Grund im Kalten Krieg und bei den amerikanischen Bischöfen, die eine offene Verurteilung der Politik des atomaren „Gleichgewichts des Schreckens“ verhinderten.
Von einer Logik der gerechten Kriegsgründe zu einer Logik unbedingter Kriegsvermeidung
So wird zwar der Rüstungswettlauf scharf verurteilt und Abrüstung gefordert, aber ausdrücklich keine „einseitige“. So wird zwar der Atomwaffeneinsatz eindrucksvoll in seinem Schrecken geschildert, aber der reine Atomwaffenbesitz nicht ausdrücklich verworfen. So tastet man sich zwar an eine totale Ächtung des Krieges heran (GS 81/1), arbeitet dann aber doch mit der im Atomzeitalter ziemlich obsolet gewordenen Unterscheidung von Angriffs- und Verteidigungskrieg. So spricht man vom Recht auf Kriegsdienstverweigerung, aber doch eher als Ausnahme. Dennoch: Bei allem Zögern, am grundlegenden Perspektivenwechsel von einer Logik der gerechten Kriegsgründe zu einer Logik der unbedingten Kriegsvermeidung ist nicht zu zweifeln.
Das Konzil bleibt nicht bei einer moralischen Analyse der Kriegsanlässe stehen, sondern nennt Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Ungleichheit als zentrale Kriegsgründe. Das überschreitet die rein moralische Verurteilung des Krieges hin zu einer politischen Analyse seiner strukturellen Anlässe. Das Recht der Menschen auf ein friedliches und menschenwürdiges Leben wird zum Kriterium für friedensbringende Gerechtigkeit. Die Kirche stellt sich in Gaudium et spes auf die Seite derer, die für diese Gerechtigkeit kämpfen, etwa die Bürgerrechtsbewegungen (GS 78/5).
Ungerechtigkeit als zentraler Kriegsgrund
Vorkonziliar hat sich die Kirche über die Nationen gestellt und ihnen sozialmetaphysische Lehren über den gerechten Krieg und die gerechte Gesellschaftsordnung vorgetragen. Die katholische Kirche wusste, wie es sein sollte, aber niemand hörte auf sie. Ihre Lehre hatte außerhalb der Kirche keine großen Wirkungen, innerkirchlich dafür aber umso schlimmere, denn sie führte nicht zur Solidarisierung der Kirche etwa mit den verfolgten Juden und behinderte praktisch jeden Menschenrechtsstandpunkt in der katholischen Kirche. Das offenkundige Scheitern dieser Konzeption in den Konflikten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dürfte einer der zentralen Gründe für den konziliaren Neuansatz sein.
Solidarität mit den Menschen, die in den Konflikten und Kriegen der Gegenwart Hilfe brauchen, ein Menschenrechtsstandpunkt in der Beurteilung des Krieges und die Hoffnung auf globale soziale Gerechtigkeit zwischen den Nationen auf der Basis internationaler Organisationen und Abkommen: Das sind die zentralen Neuansätze der Lehre des Konzils zu Krieg und Frieden. Sie sind in der aktuellen Weltlage und angesichts drohender globaler Gefahren aktueller denn je. Damit nicht „Aller Tage Abend“ wird.
___
Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
[1] Siehe als Interpretation von GS 77-90, welche den fundamentalen Perspektivenwechsel der Pastoralkonstitution auch für das Verständnis des Zweiten Hauptteils ernst nimmt: H.-J. Sander, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, in: P. Hünermann/B. J. Hilberath, Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. IV, Freiburg/Br.-Basel-Wien 2005, 802-819
Bild: Rainer Bucher