Wie in einem Brennglas macht die Pandemie auch Entwicklungen im Kontext von Krieg und Frieden sichtbar und verstärkt diese. Michael Nann diskutiert die Resonanz auf den Aufruf zu einem Globalen Waffenstillstand und zeichnet anhand einer aktuellen Analyse der International Crisis Group sieben Beobachtungsaufgaben der internationalen Sicherheitspolitik nach.
Es ist kein Krieg!
Politiker*innen setzen sich intensiv mit der Pandemie und deren Folgen auseinander. Allerdings sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seiner Rede an die Nation Mitte März 2020 gleich sechsmal den Satz „Wir sind im Krieg“[1]. US-Präsident Donald Trump übernahm die Formulierung wortgleich[2]. Auch der Ökonom Hans-Werner Sinn begann einen Artikel zum Thema mit dem Satz „Der Kampf gegen das Corona-Virus ist ein Krieg“[3]. Die Wortkoppelung „Corona-Krieg“ liefert schon über 5000 Suchmaschinentreffer. Andreas Dripke und Markus Miksch von der US-Denkfabrik „Diplomatic Council“ haben bereits ein Buch veröffentlich mit dem Titel „Pandemie: Die Welt im Corona-Krieg“[4].
Kriegsmetaphern sind völlig unangemessen zur Rechtfertigung von Maßnahmen gegen das Virus oder zu deren Verdammung.
Aber: es ist kein Krieg! Unter den politischen Entscheidungsträger*innen in Deutschland wird dieser Vergleich zum Glück nicht gezogen. Kriegsmetaphern sind völlig unangemessen, egal ob zur Rechtfertigung von Maßnahmen gegen das Virus oder zu deren Verdammung. Der Kampf gegen eine Pandemie ist das Gegenteil von Krieg. Es geht nicht um Mensch gegen Mensch, sondern um Mensch für Mensch. Wir haben es mit unserem Verhalten selbst in der Hand, die Zahl der Infizierten und der Toten zu verlangsamen und die Krise zu überwinden.
Globaler Waffenstillstand
UN-Generalsekretär António Guterres hat am 03. April 2020 die „bewaffneten Akteure“ auf der ganzen Welt aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen, um den Menschen in Konfliktgebieten eine bessere Chance zu ermöglichen, das durch COVID-19 verursachte Leid zu bekämpfen und sich auf das vorzubereiten, was vor ihnen liegt[5]. Guterres bekräftigt in seinem Appell an die bewaffneten Akteure in aller Welt, die Waffen ruhen zu lassen. Gemeinsam müsse daran gearbeitet werden, friedlichere, widerstandsfähigere und wohlhabendere Gesellschaften aufzubauen.
Appell an die bewaffneten Akteure in aller Welt, die Waffen ruhen zu lassen – nicht ohne Resonanz
Zwar ist eine große Resonanz auf den Appell hin ausgeblieben, allerdings haben mehrere bewaffnete Gruppen erste Schritte zur Verringerung der Gewalt unternommen. Es handelt sich um Kämpfer*innen in Kamerun, auf den Philippinen und im Jemen. Der fünfjährige Bürgerkrieg im Jemen hat eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt ausgelöst. Nun zeigten sich die Huthi wie auch die jemenitische Regierung an einem Waffenstillstand interessiert, um ein besseres Vorgehen gegen die Epidemie zu ermöglichen und so eine Kriegspause einzulegen. Am 25. März 2020 unterzeichneten die Streitkräfte Südkameruns einen vorübergehenden Waffenstillstand, und am Vortag kündigten die Kommunistische Partei der Philippinen und die philippinische Regierung ebenfalls eine Kampfpause an[6].
die Pandemie als Risiko und als Chance für Friedensprozesse
Für terroristische Gruppen kann die weltweite Pandemie-Panik allerdings auch zu einer Verstärkung ihrer Aktivitäten führen. Sie können leichter Angst in den ohnehin schon verzweifelten Menschen hervorrufen. Auf der anderen Seite kann die Pandemie als Chance für Friedensprozesse wahrgenommen werden. Die Philippinen ordneten – wie bereits erwähnt – einen Stopp ihrer Offensive gegen kommunistische Rebellen an, ein jahrzehntelanger Hauptkampf, der vielleicht eine seltene Pause einlegen wird.[7] In Afghanistan hatten die Taliban ihren ersten Kontakt mit der Regierung über Skype und haben ihren Kämpfer*innen befohlen, das Gesundheitspersonal während der Krise zu schützen, um die Lage zu verbessern und nicht zu verschlimmern[8].
International Crisis Group: “COVID-19 and Conflict – Seven Trends to Watch”
Die International Crisis Group macht in einer aktuellen Analyse[9] auf sieben Bereiche der internationalen Sicherheitspolitik aufmerksam, die in der Coronakrise aufmerksam weiter beobachtet werden sollten. Nachfolgend werden diese sieben zu beobachtenden Trends vorgestellt:
1. Die Verwundbarkeit von Bevölkerungen, die von Konflikten betroffen sind
Die Bevölkerungen von Staaten, die von Konflikten oder Kriegen betroffen sind, sind wahrscheinlich besonders anfällig für den Ausbruch einer Pandemie. In vielen Fällen – wie z.B. im Nord-Westen von Syrien – haben Krieg oder staatliche Instabilität, insbesondere, wenn sie durch Missmanagement, Korruption oder ausländische Sanktionen verstärkt werden, dazu geführt, dass die nationalen Gesundheitssysteme auf das Virus schlecht vorbereitet sind.
Krieg oder staatliche Instabilität haben dazu geführt, dass Gesundheitssysteme auf das Virus schlecht vorbereitet sind.
2. Beeinträchtigungen für das internationale Krisenmanagement und Konfliktbewältigungsmechanismen
Internationale Institutionen können durch die Pandemie in der Versorgung von Konfliktgebieten stark eingeschränkt werden. Somit werden beispielsweise Geflüchtete besonders anfällig für COVID-19. Die WHO befürchtet, dass die Einschränkungen durch die Pandemie die humanitären Versorgungsketten behindern könnten.
Neben humanitären Organisationen kann allerdings auch die internationale Friedenssicherung unter Druck geraten. So bat das UN-Sekretariat Anfang März 2020 eine Gruppe von neun Beitragenden zur Friedenstruppe – darunter China und Italien – aufgrund der Besorgnis über die Ausbreitung von COVID-19, einige oder alle Rotationen von Einheiten für Blauhelmeinsätze auszusetzen, was die Dienstzeiten verlängert und sich möglicherweise auf die Moral und Wirksamkeit der Truppen auswirken könnte.
internationale Friedenssicherung unter Druck
3. Risiken für die soziale Ordnung
COVID-19 übt Druck auf Gesellschaften und politische Systeme aus und hat damit das Potenzial für neue Gewaltausbrüche. Kurzfristig mag die Bedrohung durch die Pandemie eine abschreckende Wirkung auf Unruhen haben, da Demonstrant*innen große Versammlungen vermeiden.
Die Zahl der Menschen, die in Algerien auf die Straße gingen, um gegen die Korruption der Regierung zu protestieren, ist zurückgegangen. Die russische Opposition hat sich weitgehend damit abgefunden, dass die Behörden – angeblich aus gesundheitlichen Gründen gerechtfertigt – die Proteste gegen die Entscheidung von Präsident Wladimir Putin, die Verfassung umzuschreiben, um seine Amtszeit zu verlängern, blockieren wollten.
Proteste wegen Corona eingeschränkt
Allerdings sind bereits erste Anzeichen für soziale Unordnung zu erkennen. In der Ukraine griffen Demonstrant*innen Busse an, in denen ukrainische Evakuierte aus Wuhan, China, befördert wurden, um auf Behauptungen zu reagieren, dass einige von ihnen die Krankheit in sich trugen. Aus Venezuela, Brasilien und Italien wurden Gefängnisausbrüche gemeldet, wobei die Insassen gewaltsam auf die neuen Einschränkungen im Zusammenhang mit COVID-19 reagierten. In Peru haben die Behörden Hunderte von Bürger*innen wegen Verstoßes gegen die Quarantänevorschriften verhaftet, was in einigen Fällen zu Gewalt führte.
4. Politische Instrumentalisierung der Krise
Die politischen Führungen – gerade in autoritären Systemen – können COVID-19 ausnutzen, entweder um die Macht im Inland zu festigen oder Interessen im Ausland zu verfolgen. Einige Politiker*innen sehen die Pandemie vielleicht auch als Möglichkeit, um sich auf destabilisierende Abenteuer im Ausland einzulassen, sei es, um die Unzufriedenheit im eigenen Land abzulenken, oder weil sie das Gefühl haben, dass sie inmitten der globalen Gesundheitskrise kaum einen Rückschlag erleiden werden. Bei einer solchen Analyse besteht allerdings auch die Gefahr, dass Krisen nun primär auf COVID-19 zurückgeführt, obwohl diese vielleicht durch andere Faktoren besser zu erklären wären.
COVID19 als wahrgenommene Krisenursache, wo andere Faktoren die bessere Erklärung sind
5. Ein Wendepunkt im Verhältnis der Großmächte?
Das Coronavirus und der Umgang mit ihm werden wahrscheinlich einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gestalt der multilateralen Ordnung haben. Es ist noch zu früh, um diese Auswirkungen vollständig abzuschätzen. Vorerst kann man allerdings zwei miteinander konkurrierende Narrative erkennen, eines, in dem die Lektion lautet, dass die Länder zusammenkommen sollten, um COVID-19 besser zu besiegen, und ein anderes, in dem die Lektion lautet, dass sich die Länder voneinander abgrenzen müssen, um sich besser davor zu schützen.
Neue Kooperation oder Abgrenzung?
6. Zu ergreifende Chancen
Es gibt auch Hoffnungsschimmer. Das Ausmaß des Ausbruchs schafft Raum für humanitäre Gesten zwischen den rivalisierenden Ländern. So haben zum Beispiel die Vereinigten Arabische Emirate über 30 Tonnen humanitäre Hilfe in den Iran geflogen, um der Krankheit Herr zu werden. Staaten mit engeren Beziehungen zum Iran, darunter Kuwait und Katar, haben ebenfalls Hilfe angeboten. Trotz der Schließung der Grenze zu Venezuela hatte die kolumbianische Regierung auch ihren ersten offiziellen Kontakt mit Caracas seit über einem Jahr unter der Ägide der von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation vermittelten Telekonferenz, um eine gemeinsame Reaktion auf die Gesundheitsversorgung in den Grenzgebieten zu erörtern.
Raum für humanitäre Gesten
7. Mögliche Maßnahmen zur Abmilderung der Krise
Die COVID-19-Pandemie ist langwierig. Sie wird die Diplomatie – insbesondere die Krisendiplomatie – erschweren. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, die Kommunikationskanäle in einer Zeit intakt zu halten, in der das internationale System wie eh und je zur Fragmentierung bereit zu sein scheint.
Mit Blick auf die Zukunft werden sich die Regierungen entscheiden müssen, ob sie kooperativere Ansätze zur Bewältigung der Krise unterstützen, und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt der globalen öffentlichen Gesundheit, sondern auch als politische und sicherheitspolitische Herausforderung.
Kooperation als politische und sicherheitspolitische Herausforderung
Nach dieser Darstellung der von der International Crisis Group herausgearbeiteten Trends im Kontext von Krieg und Frieden in Zeiten von Corona bleibt festzuhalten: Die Beschränkungen für den Alltag der Menschen in Deutschland und in Europa sind bereits und werden zunehmend gelockert. Die Konflikte weltweit bleiben – auch trotz oder gerade wegen der Corona-Pandemie.
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Michael Nann ist Friedens- und Konfliktforscher und Referent für den Friedensbeauftragten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Bild: Cottonbro / Pexels
[1] https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-in-frankreich-wir-sind-im-krieg-a-50b0dce2-6f7e-4cba-bda1-87fe05bfc7ca (Zugriff: 04.05.2020).
[2] https://www.tagesspiegel.de/wissen/kriegspraesident-gegen-coronavirus-trump-im-kampf-gegen-den-unsichtbaren-feind/25711810.html (Zugriff: 04.05.2020).
[3] https://www.project-syndicate.org/commentary/coronavirus-good-and-bad-policy-response-by-hans-werner-sinn-2020-03/german (Zugriff: 04.05.2020).
[4] https://www.diplomatic-council.org/pandemie (Zugriff: 04.05.2020).
[5] https://unric.org/de/guterres-appell-zu-globalem-waffenstillstand/ (Zugriff: 04.05.2020).
Aufruf zu einem Globalen Waffenstillstand: https://www.globalceasefire.org/ (Zugriff: 04.05.2020). Guterres hatte zudem bereits am 23. März 2020 dazu aufgerufen, weltweit die Waffen wegen COVID-19 niederzulegen.
[6] https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2020-03/weltweite-friedensappelle-zeigen-erste-wirkungen-angelus-uno.html (Zugriff: 04.05.2020).
[7] https://news.antiwar.com/2020/03/22/coronavirus-pandemic-an-opportunity-for-wars-and-peace/ (Zugriff: 04.05.2020).
[8] https://news.antiwar.com/2020/03/22/taliban-afghan-govt-hold-skype-call-on-prisoner-release/ (Zugriff: 04.05.2020).
[9]https://www.crisisgroup.org/global/sb4-covid-19-and-conflict-seven-trends-watch (Zugriff: 04.05.2020).