Entsetzen löst aus, auf welche Weise die Führung der Russischen Orthodoxen Kirche Putin und seinen Angriffskrieg unterstützt. Johannes Oeldemann skizziert, was der Ukraine-Krieg für die Orthodoxe Kirche langfristig bedeuten könnte.
An dem Tag, an dem ich diese Gedanken niederschreibe, wird in der Orthodoxen Kirche der „Sonntag der Orthodoxie“ gefeiert. Jeweils am ersten Sonntag der vorösterlichen Fastenzeit gedenkt die Orthodoxe Kirche dabei des Sieges der Befürworter der Ikonenverehrung über die „Bilderstürmer“ des 8. und 9. Jahrhunderts. Eine zentrale Rolle in diesem Bilderstreit spielten die byzantinischen Kaiser, die mal aufseiten der Gegner der Ikonen, mal aufseiten der Befürworter standen. Der Bilderstreit spiegelt damit wider, was für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Byzanz charakteristisch war: eine enge Verbindung zwischen staatlicher Herrschaft und kirchlicher Hierarchie, in der Literatur oft als „Symphonie“ von Staat und Kirche bezeichnet.
Die Führung des Moskauer Patriarchats hat es bis heute nicht gewagt, ihre Stimme gegen Putin zu erheben.
In diesem Jahr begehen die orthodoxen Christen den „Sonntag der Orthodoxie“ mitten im Krieg. Seit dem 24. Februar 2022 wird die Ukraine von Putins Truppen mit einer Härte, Brutalität und Rücksichtslosigkeit angegriffen, mit der viele Menschen im 21. Jahrhundert nicht mehr gerechnet hatten. Alle Friedensappelle – ob von staatlicher, ziviler oder kirchlicher Seite – sind bislang ungehört verhallt. Die Führung des Moskauer Patriarchats hat es bis heute nicht gewagt, ihre Stimme gegen Putin zu erheben. Im Gegenteil, in seiner Predigt am „Sonntag der Vergebung“, dem letzten Sonntag vor Beginn der Fastenzeit, hat Patriarch Kyrill den Krieg sogar gerechtfertigt als „metaphysischen Kampf“ des Guten (das er in den „traditionellen“ Werten bewahrt sieht) gegen das Böse (das aus „dem Westen“ komme und die Grundlagen von Religion und Gesellschaft zu zerstören drohe). Der Patriarch macht sich damit das Narrativ der russischen Kriegspropaganda zu eigen. Es ist schwer einzuschätzen, ob er das tut, weil er es nicht wagt, seine Stimme gegen Putin zu erheben, oder weil er tatsächlich glaubt, dass die Welt so ist, wie sie in den russischen Medien derzeit dargestellt wird (und man fragt sich, welche der beiden Varianten wohl die „schlimmere“ sei).
Das Modell der „Symphonie“ von Staat und Kirche wird gerade komplett diskreditiert.
Egal wie die Antwort lautet, sie lässt eigentlich nur die Schlussfolgerung zu, dass sich die Russische Orthodoxe Kirche derzeit in jenem „Goldenen Käfig“ befindet, in dem sie sich schon einmal in der sogenannten „synodalen Epoche“ ihrer Kirchengeschichte (von Peter dem Großen bis zur Oktoberrevolution) befand – äußerlich protegiert und geschützt, aber innerlich gefangen und unfrei. Der Vorgänger von Kyrill, Patriarch Aleksij II., der die russische Kirche durch die schwierige Epoche nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geführt hat (er war Patriarch von 1990 bis 2008), hatte immer wieder vor der Versuchung gewarnt, sich erneut in einen solchen „Goldenen Käfig“ zu begeben. Wie berechtigt seine Mahnung war, zeigt sich nun angesichts des Krieges. Das „byzantinische“ Modell der Symphonie von Staat und Kirche wird durch die Haltung der russischen Kirchenführung gerade in einer Weise diskreditiert, dass es sich kaum noch als zukunftsfähig erweisen dürfte. Trotz der klaren Positionierung des Patriarchen gibt es innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche aber auch andere Stimmen, nicht nur unter Priestern und Laien, sondern auch unter Bischöfen und Metropoliten (im ukrainischen Teil der Kirche), die deutliche Kritik an Putins Regime und seinem kaltblütigen Krieg äußern. Wer es in Russland wagt, Kritik zu äußern, begibt sich in die Gefahr, selbst vom Regime verfolgt zu werden. Bei aller Kritik am Moskauer Patriarchat sollte man diese prophetischen Stimmen nicht überhören.
Ein Schwarz-Weiß-Denken wird der Pluralität innerhalb der Patriarchate nicht gerecht.
Was mich als Beobachter von außen (ich bin katholischer Theologe) in der gegenwärtigen Situation allerdings irritiert, sind manche Äußerungen aus der griechischsprachigen Orthodoxie, denen zufolge die russische Orthodoxie nun ihr „wahres Gesicht“ offenbare. Das Schwarz-Weiß-Denken (hier das „böse“ Machtstreben des Moskauer Patriarchats, dort die „guten“ pastoralen Absichten des Ökumenischen Patriarchats), das sich in manchen Stellungnahmen – nicht erst in jüngster Zeit – zeigt, wird nicht nur der Pluralität innerhalb der beiden Patriarchate nicht gerecht, sondern verliert auch aus dem Auge, wie denn eine Gemeinschaft zwischen Griechen und Russen (die ja von Konstantinopel bis heute formell aufrechterhalten wird) aussehen und zukünftige Versöhnung gelingen soll. Zudem lag auch der Überwindung des Schismas in der Ukraine ein durchaus „byzantinisch“ anmutendes Modell enger Kooperation zwischen der (damaligen) ukrainischen Regierung und dem Patriarchat von Konstantinopel zugrunde.
Die Aggression aus Russland eint die Orthodoxen in der Ukraine.
Der Geburtsfehler der neuen „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ lag darin, dass die Autokephalie gerade nicht einer wiedervereinten Orthodoxen Kirche in der Ukraine verliehen wurde, wie es ursprünglich beabsichtigt war, sondern nur dem Zusammenschluss der ehemals schismatischen Gruppierungen (abgesehen von zwei Bischöfen der zuvor als kanonisch erachteten Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die sich der „neuen“ Kirche angeschlossen haben). Auch in der Ukraine hat sich das Modell der „Symphonie“ von Staat und Kirche nicht mehr als zukunftsweisend erwiesen. Es gehört zu den tragischen Momenten der Geschichte, dass vermutlich Vladimir Putin nun schafft, was weder Patriarch Kyrill noch Patriarch Bartholomaios gelungen ist: die Orthodoxen in der Ukraine zu vereinen. Leider sind die Opfer, die das ukrainische Volk dafür zahlen muss, zu groß, um sich über diese (aufgrund der gemeinsamen Ablehnung der russischen Aggression) sich abzeichnende Annäherung unter den orthodoxen Ukrainern freuen zu können.
Die Kirche sollte nicht Teil des Staates, sondern dessen kritisches Gegenüber sein.
Das byzantinische Modell der Symphonie von Staat und Kirche dürfte mit dem Krieg in der Ukraine an sein historisches Ende kommen. Es mag in einigen „orthodoxen“ Ländern noch lebendig sein. Aber auch dort werden bereits Risse in diesem Gefüge spürbar (als ein Beispiel sei nur die deutliche Kritik innerhalb der rumänischen Orthodoxie an der „Kathedrale der Erlösung des Volkes“ in Bukarest genannt). Am Ende einer langen Epoche, in der das Christentum in vielen Staaten und ihrem gesellschaftlichen und kulturellen Leben dominant war (von einigen Kirchenhistorikern als „Konstantinische Epoche“ bezeichnet), trägt das Modell nicht mehr. Was aber ist die Alternative? Manche westlichen Kommentatoren betonen angesichts der aktuellen Positionierung des Moskauer Patriarchats, wie wichtig es sei, dass die Kirche nicht Teil des Staates, sondern sein kritisches Gegenüber sei und verweisen – leider auch nicht vor der Versuchung gefeit, es besser wissen zu wollen – auf die jahrhundertlange Erfahrung der Konfrontation zwischen Staat und Kirche in der westlichen Kirchengeschichte.
Sie sind stark geworden, als sie schwach waren (Hebr 11,34)
In der Tat hat die Kirche in der westlichen Hemisphäre stärker als in der östlichen immer wieder ihre gesellschaftskritische, zum Teil auch staatskritische Stimme erhoben. Aber es gibt auch im Westen genügend Beispiele, wo dies nicht – oder zumindest nicht deutlich genug – geschehen ist (etwa im nationalsozialistischen Deutschland oder in Spanien unter dem Franco-Regime). Der Krieg in der Ukraine stellt nun insbesondere die Orthodoxe Kirche vor die Herausforderung, ein neues Modell der Beziehungen von Staat und Kirche zu entwickeln, das vom byzantinischen Vorbild Abschied nimmt. Ansätze dazu gibt es bereits, beispielsweise in dem 2020 veröffentlichten Dokument „Für das Leben der Welt. Auf dem Weg zu einem Sozialethos der Orthodoxen Kirche“.
Darüber hinaus stellt sich meines Erachtens allen christlichen Kirchen – Katholiken und Orthodoxen, Anglikanern und Protestanten – die grundlegende Aufgabe, über die gesellschaftliche Rolle und öffentliche Aufgabe der Kirche im 21. Jahrhundert nachzudenken. Gut drei Jahre vor dem 1700-jährigen Jubiläum des ersten Konzils von Nizäa gilt es nach einer Neudefinition des Verhältnisses von Staat und Kirche zu suchen, die nicht nur den heute pluralistisch verfassten Gesellschaften und den in der Regel weltanschaulich neutralen Staatsverfassungen gerecht wird, sondern auch der Botschaft Jesu treu bleibt, der sich immer auf die Seite der Schwachen gestellt hat. „Sie sind stark geworden, als sie schwach waren“ (Hebr 11,34), heißt es in der Lesung, die am Sonntag der Orthodoxie im orthodoxen Gottesdienst vorgetragen wird. Das ist ein Trostwort (nicht nur für Ukrainer) in dieser trostlosen Zeit.
—
Dr. Johannes Oeldemann ist Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumene in Paderborn und Leiter des Stipendienprogramms für orthodoxe Theologinnen und Theologen.
Bild: Johannes Oeldemann, 2019.